Hansjörg Hemminger

Die Welt und Gott in der Esoterik-Bewegung

Personaler Gott gegen kosmische Energie

Erfahrung und Wissen

Die sogenannte freie Spiritualität und die Esoterik-Bewegung speisen sich aus zwei miteinander verschränkten Quellen: zum einen aus der Suche nach Wissen über Welten jenseits von Alltag und Sichtbarkeit, über geistige Welten, über Unter- und Oberwelten. Der klarste Ausdruck dieser Suche nach Wissen sind die „Okkultwissenschaften“ des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie die aus ihnen entstandenen esoterischen Systeme: das Rosenkreuzertum, die Theosophie, die Anthroposophie, der Spiritismus usw. Dabei sind zwei Ebenen der Erkenntnis zu unterscheiden: Den esoterischen Systemen ging es vorrangig um eine durch höhere, geistige Erkenntnis abgesicherte Weltdeutung. Den populären Formen des „höheren Denkens“, zum Beispiel der Neugeist-Bewegung, der Astrologie, dem „Channeling“, ging und geht es um Wissen, das von lebenspraktischem Nutzen ist. Die darauf aufbauende Praxis wird häufig mit dem unscharfen Begriff „Magie“ oder dem noch unschärferen Wort „Okkultismus“ charakterisiert.

Zum anderen speist sich die Esoterik-Bewegung jedoch auch aus dem, was man im weitesten Sinn als spirituelle Erfahrung von Über- und Unterwelten bezeichnen könnte. Dazu gehört die von der Esoterik-Bewegung vielfach ohne ihre Einbettung in historische Religionen übernommene Mystik, aber auch der Spiritismus in seiner Form als Parapsychologie; dazu gehören zahlreiche Meditationsmethoden vom Zen über tibetische Visualisierungen bis hin zum Sufismus. Veränderte Bewusstseinszustände sind für die Erfahrungssuche der „neuen Spiritualität“ die entscheidende, wenn auch nicht die alleinige Quelle. Prägend für die Deutung des Erlebten sind geistesgeschichtlich wiederum die Theosophie und im deutschen Sprachraum ihr von Rudolf Steiner entwickelter Zweig, die Anthroposophie. Gurubewegungen aus Indien, Satsang-Gruppen usw. spielen als Interpreten der esoterischen Spiritualität ebenfalls eine Rolle. Sie bewegen sich jedoch nicht weit von der theosophischen Rezeption des Hinduismus und Buddhismus weg.

Die folgenden Überlegungen beziehen sich vor allem auf die moderne, westliche Esoterik seit der „New Age“-Bewegung ab ca. 1985. Sie beziehen sich nicht auf die komplizierte Geschichte der Wechselbeziehungen und Überschneidungen von „western esotericism“ und moderner Kultur seit der frühen Neuzeit. Von daher kann auf eine für die gesamte Neuzeit tragfähige Definition von Esoterik verzichtet werden. Gemeint ist hier Esoterik als zeitgeschichtliches Phänomen, wie es ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts (in den USA früher) literarisch und als Lebensmacht beobachtbar ist. Diese Esoterik-Bewegung ist – um einer klassischen Unterscheidung zu folgen – eher mystagogisch als mystisch geprägt, da ihre Lehren und Praktiken weithin eine technische Verfügbarkeit spiritueller Erfahrungen voraussetzen. Wenn man davon spricht, dass die „Jesus-Energie“ im Kosmos zur Verfügung steht, von Heilern in Trance angezapft werden kann und von zuverlässigem praktischem Nutzen für das Heilen ist, hat man sich weit von einer unverfügbaren Begegnung mit dem Numinosen entfernt. Als Mystagogie bzw. als eine Mysterienschule ist die Esoterik-Bewegung trotz ihrer Erlebnisorientierung stärker am Wissen um spirituelle Gesetze und Methoden interessiert als am spirituellen Leben. Angeblich zuverlässiges, geheimes, exotisches oder archaisches Wissen (oder solches, von dem man das annimmt) ersetzt innerhalb der Bewegung das unsicher gewordene wissenschaftliche Wissen oder das abgegriffen wirkende christliche Denken. Von daher ist die moderne Esoterik weniger Religion als Weltanschauung, sie ist ein Wissenssystem mit überwiegend praktischem Nutzen für den Alltag und für eine „esoterische“ Lebensführung.

Ein verbreitetes, allerdings auch triviales Beispiel sind die „Bestellungen beim Universum“ der esoterischen Erfolgsautorin Bärbel Mohr, die 2010 im Alter von 45 Jahren an Krebs starb. In der Werbung heißt es: „Bestellungen beim Universum ist ein Handbuch zur Wunscherfüllung. Auf einmalig humorvolle und lockere Weise zeigt die Autorin Bärbel Mohr, wie man sich den Traumpartner, den Traumjob oder die Traumwohnung und vieles mehr einfach ‚herbeidenken’ und quasi beim Universum ‚bestellen’ kann. Sie bringt dem Leser bei, wie er lernt, auf seine innere Stimme zu hören, wie er sich selbst gegenüber eine stärkere Verpflichtung eingeht und wie er sein Leben positiver gestaltet.“2

Mohrs Werk gehört zum Feld des „Positiven Denkens“, das wiederum aus der Neugeist-Bewegung hervorging. Wie die praktische Anwendung ihrer Lehre aussehen kann, illustriert der Bericht einer Pilzsammlerin: „Ich sprach mit dem Universum und wünschte mir nur einen einzigen Steinpilz. Ein paar Schritte weiter biss mich irgendetwas in den Hals. Ich stellte meinen Korb ab, und indem ich das Viech beseitigte, bemerkte ich links neben mir ein traumhaft schönes Exemplar von Steinpilz, woraufhin ich mich strahlend bedankte. Es sollte plötzlich nicht bei diesem einen Exemplar bleiben, was mich natürlich überglücklich machte. Die Anderen hatten nicht so eine schöne Ausbeute, sie hatten aber auch noch keine Ahnung von meinen Bestellungen beim Universum.“3

Die Gründe für die Attraktivität des Positiven Denkens sind offensichtlich: Magische Mittel sollen der Daseinssicherung dienen. Der Kosmos hört, so meint man, aber er ist kein Gegenüber und kein Du. Er hat nur eine wichtige Eigenschaft, nämlich dass er funktioniert. Das gilt auch für esoterische Lebenshilfen, die man (anders als im Fall des Positiven Denkens) als Existenzdeutungen interpretieren kann.

Esoterik in der wissenschaftlich-technischen Kultur

Esoterische Erkenntnis beruft sich häufig weder auf religiöse Offenbarungen noch auf die kritische Vernunft, sondern auf die Autorität besonders begnadeter Personen (Weisheitslehrer, Seher, Geistführer). Sie grenzt sich durch die Bildung von Gegensatzpaaren von der wissenschaftlichen Kultur und den religiösen Traditionen gleichermaßen ab: Gegen das negativ bewertete religiöse Dogma wird die eigene Erfahrung gesetzt, gegen die praktische Vernunft die „spirituellen Gesetze“, gegen das kritische analytische Denken die Ganzheitlichkeit eines geschlossenen Weltbilds, gegen die wissenschaftliche Naturbeherrschung die archaische Naturnähe, gegen die (angeblich) zweiwertige Logik des westlichen Denkens die (angeblich) synthetische Denkweise des Ostens. Durch diese Prämissen baut die Esoterik-Bewegung eine Wirklichkeit unsichtbarer Über- und Unterwelten auf, die unsere Kultur sonst nicht mehr zu bieten hat. Die persönliche spirituelle Erfahrung ist dieser dogmatisch fixierten Wirklichkeit nachgeordnet und wird in ihrem Rahmen erlebt. Das esoterische Wissen eint seinem Anspruch nach alles übrige religiöse Wissen, es ist inklusivistisch.

Bernhard Grom4 hat recht, wenn er in diesem generellen Anspruch auf spirituelle Erkenntnis das eigentliche Wesen der Esoterik ausmacht. Das heißt aber auch: Die Esoterik-Bewegung verhält sich nicht nur kritisch zur Säkularität und zum sogenannten wissenschaftlichen Weltbild – das tun mehr oder weniger alle Religionen. Vielmehr wird die Kunst und Methode wissenschaftlichen Denkens als eine „Kunst des Zweifelns“ (Bertolt Brecht) ausdrücklich aufgegeben. Von daher ergibt sich ein Doppelcharakter der Esoterik einerseits als Natur- und Weltdeutung, als Existenzanalyse, aber auch als magie- oder technikförmiges Anwendungswissen. Das Wissen ist aus eigener Sicht universal und uniform, es erfordert keine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Erkenntnismethoden und Aussagesystemen. Die Welt- und Naturdeutungen stammen aus den esoterischen Systemen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, unter Rückgriff auf frühere Traditionen (Hermetik, Kabbalah u. a.) sowie auf kulturell adaptierte religiöse Traditionen des Ostens (Theosophie). In diesen Deutungsrahmen werden sogar einige Theorien der modernen Naturwissenschaft integriert.5

Im Gegensatz dazu ist die Wissenschaft spezialisierte Erkenntnis. Sie ist ein Ergebnis der methodischen und theoretischen Aufteilung des Wissens (geistes- und naturwissenschaftlich, religiös und profan usw.), die von der heutigen Esoterik kritisiert wird und aufgehoben werden soll. Die Risiken der Moderne, vor allem die Risiken der Technikentwicklung, werden dieser Spezialisierung angelastet und sollen durch einen Paradigmenwechsel beseitigt werden. Zum Beispiel kritisiert die Esoterik die Schulmedizin und beansprucht, alternativ zu ihr „ganzheitliche“ Heilkunst zu bieten.

Kennzeichnend für esoterisches Wissen ist deshalb auch ein leichtes, oft beliebig erscheinendes Changieren zwischen den verschiedenen Aussage- und Anwendungsebenen, von Religion und Naturkunde bis zur magischen Anwendung. So helfen angeblich mit Tachyonen aufgeladene Kopfkissen gegen Stress und zusätzlich auch noch dabei, eine spirituelle Verbindung zu Gott zu finden. Fast schon selbstverständlich ist, dass diese Art Wissen keinen merklichen oder gar bedeutenden Einfluss auf den Forschungsbetrieb haben kann, abgesehen von geringfügigen Ausnahmen in der Evolutionsbiologie und der medizinischen Forschung. Ein scheinbar gegenteiliges Beispiel scheiterte kürzlich an der Universität Frankfurt/Oder.6

Anders steht es im Anwendungsbereich, vor allem in der Medizin, der Klinischen Psychologie, in der (alternativen) Lebensbewältigungshilfe. Markant höher, ja sogar hoch, ist die Kulturbedeutung der Esoterik im Bereich der Kunst und der Massenmedien, der Literatur usw.

In der öffentlichen Diskussion profitieren esoterische Naturdeutungen und Weltbilder von der Krise des neuzeitlichen Wissenschafts- und Fortschrittsglaubens. Sie bieten ihre eigenen Begründungen für die Kritik an den negativen Folgen der Technikentwicklung, und sie versprechen ein (allerdings nicht kulturell wirksames) Krisenmanagement. Darüber hinaus versprechen die esoterischen Ideen Kontinuität mit modernen Sinngebungen, indem sie zum Beispiel den Entwicklungs- und Fortschrittsglauben mit anderen Mitteln weiterschreiben. Dadurch wird das esoterische Anwendungswissen für viele Menschen plausibel begründet. Unter anderem gibt es eine esoterische Unsterblichkeitsbewegung, die den Tod durch Entwicklung des individuellen Bewusstseins überwinden will – analog zu den technischen Anstrengungen, den Tod hinauszuschieben und letztlich ganz zu besiegen.

Lebenspraktisch verbleibt der esoterische Lebensvollzug deshalb auch in dem von Ökonomie und Technik gesteckten Rahmen. Er zeichnet sich vor allem durch die Nutzung magischer Lebenshilfen aus, von Reiki über Bachblüten und Chakrenbestrahlung bis zur Partnersuche durch Trancemedien. Es gibt in der esoterischen Welterkenntnis keine Traditionskritik auf empirischer Grundlage mehr (vgl. dagegen zum Beispiel „sidereus nuncius“ des Galileo Glailei von 1610 mit seiner Erstbeschreibung der Jupitermonde). Es gibt keine kritische Evidenz aus der Natur mehr, die gegen Autoritäten ins Feld geführt werden kann, um zwischen alternativen Hypothesen zu entscheiden (vgl. dagegen den programmatischen „Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme ...“ von 1632 des Galilei Galileo). Das esoterische Naturbild kehrt zur Traditions- und Autoritätsbindung des Wissens zurück. Ein praktisch hoch bedeutsames Beispiel ist die siebenstufige anthroposophische Entwicklungspsychologie, die Grundlage der anthroposophischen Waldorf-Pädagogik ist und seit 80 Jahren völlig unabhängig von der psychologischen Forschung weitergeschrieben wird.

Die Sehnsucht nach einem dem Menschen angemessenen Kosmos

Die Orientierungsfunktion, und damit der Wahrheitsanspruch, esoterischer Natur- und Weltbilder lässt sich – zumindest im Sinn einer Fallbetrachtung – auch aus den umfangreichen, mündlichen und schriftlichen, Reaktionen auf „Esoterikkritik“ entnehmen. Jenseits oberflächlicher Immunisierungen gegen Einwände wird immer wieder von der Erfahrung berichtet: „In diesem Weltbild konnte ich mich beheimaten.“ „Die Esoterik lieferte mir die spirituelle Ergänzung zu meinem Alltagsleben, die ich brauchte.“ Dahinter lässt sich die Sehnsucht nach einem Kosmos erkennen, der einen Bezug zur eigenen Existenz hat, der dem Menschen etwas sagt und dessen Botschaften mithilfe geeigneten Wissens abrufbar sind. Da der moderne Mensch sich zuerst einmal individuell wahrnimmt, und da sein Selbst ein vom Anspruch her selbst entworfenes ist, bezieht sich ein Kosmos, der ihm Heimat bietet, auf die Innenwelt. Das „wie innen, so außen“ des gegenwärtigen esoterischen Weltbilds entspricht in seiner Funktion dem „wie oben, so unten“ früherer Zeiten, in denen sich das Selbst stärker über das Kollektiv und seine Wahrheiten definierte.

Wenn Esoteriker ihre seelischen Regungen im Kosmos wiederfinden, handelt es sich deshalb um mehr als die wahnhafte Ich-Inflation, die ihnen manchmal unterstellt wird. Es handelt sich um die Sehnsucht, dass Natur und Kosmos einen Rahmen bieten, um „sich selbst treu zu bleiben“. Sie kann in einem unsäglich fremden Kosmos, wie ihn der moderne Wissenschaftsglaube darstellt, in dem kein Gegenüber, kein Du, keine Botschaft und deshalb keine Selbstbestätigung zu finden sind, nicht gestillt werden. Das Leiden an einem solchen fremden, nicht nach menschlichen Maßen gestalteten Weltbild stellt eine Variante der Kränkung des Menschen durch die Naturwissenschaft dar, eine Kränkung, die vom „Wärmetod der Welt“ über die unendlichen Räume und ungeheuren Zeiten der Kosmologie, über Charles Darwin bis zur modernen Gehirnforschung reicht, die scheinbar den menschlichen Geist abschafft.

Die Esoterik widerspricht dem auf allen Ebenen: Ihre Welt entfaltet sich auf ein menschliches Ziel hin, ihre räumliche und zeitliche Endlosigkeit ist strukturiert und wird von guten Wesen bewohnt, die Entstehung des Menschen ist nicht zufällig, sondern Ergebnis kosmischer Planung, und die Materie ist dem Geist untergeordnet. Der esoterische Kosmos sagt dem modernen Menschen wieder, wer er ist, woher er kommt und wohin er geht. Aber ob er ihm die Wahrheit sagt, ist fraglich.

Esoterik in der Seelsorge

Da viele Menschen, die esoterische Lebenshilfen in Anspruch nehmen, von derartigen Sehnsüchten motiviert sind und sich über das dahinter stehende Weltbild zunächst einmal keine Gedanken machen, sehen sie auch keinen Widerspruch zum christlichen Glauben, ebenso wenig wie einen Widerspruch zur aufgeklärten Vernunft. So reicht die Esoterik bis weit in die Volkshochschulen (die eigentlich der wissenschaftlichen Bildung verpflichtet sind) und bis in die kirchlichen Gemeinden hinein (die eigentlich dem kirchlichen Auftrag verpflichtet sind).

In anderen Fällen führt der unverbindliche Gebrauch von einzelnen esoterischen Mitteln und Lebenshilfen allerdings zur Übernahme eines festen esoterischen Lebenskonzepts. Man kann in diesem Fall von einer Art Bekehrung sprechen hin zu einer Weltanschauung, in der die Entwicklung des eigenen höheren Selbst zum Zentrum und Ziel des Lebens (und, im Sinne des Reinkarnationsglaubens, weiterer Leben) wird. Dabei kommt es oft zu Konflikten und Brüchen mit dem bisherigen Lebensumfeld. Diese Bekehrungen finden meist unter Anleitung und Begleitung eines Anbieters (z. B. eines „spirituellen Meisters“) auf dem breiten Markt sogenannter „spiritueller“ Lebenshilfe statt.

Der Umgang mit Menschen, die von den Versprechungen der Esoterik fasziniert sind, erfordert Sensibilität, aber auch eine klare Stellungnahme gegen magische Erwartungen und religiöse Vereinnahmungstendenzen. Das ist in einem religiös und weltanschaulich pluralen Umfeld keine einfache Aufgabe, denn weder das wissenschaftliche noch das christliche Denken haben allgemeine Autorität. Die säkulare Gesellschaft bietet dem einzelnen Menschen zwar viele Sinn-Optionen an, darunter auch esoterische und magische Entwürfe, aber keine erscheint von vornherein verlässlich. Nur die eigene Erfahrung bleibt übrig als Maßstab dessen, was gilt. Mystik entstehe, wenn Skepsis und Sehnsucht sich begatten, spöttelte der Philosoph Friedrich Nietzsche und kennzeichnete damit zwar nicht die genuin religiöse Mystik, aber den Grund für die Suche nach jenseitigen und übersinnlichen Erfahrungen in der Enge der ökonomischen, technischen Welt, in der sich alles rechnen und alles funktionieren muss. Sie wird durch die Begegnung mit Über- und Unterwelten, mit Geistern und Engeln aufgebrochen. Insofern ist die Esoterik-Bewegung eine Reaktion auf die Defizite der modernen Lebensführung, allerdings auch eine bloße Reaktion. Der Mensch bleibt auch in der Esoterik Subjekt, Gott und Welt sind Objekte seines Denkens und Tuns.

Gesucht wird deshalb eine Spiritualität, die den Menschen Subjekt sein lässt und die sich den Bedürfnissen des modernen Lebens einfügen lässt, anstatt das moderne Leben kritisch zu befragen. Der Buddhismus (oder das westliche Bild dieser Religion) gewinnt von daher seine Popularität, denn der Buddhismus ist zwar nicht eigentlich atheistisch und auch nicht unorganisiert, aber aus der Sicht des Westlers unverbindlich und privat praktizierbar.

Das gilt noch mehr für die Esoterik-Bewegung, die geradezu von der individuellen Vermarktung religiöser Bestände lebt und von jeglicher religiöser Bindung absieht. Als tiefste religiöse Erfahrungen gelten in der Esoterik diejenigen, die innerlich, individuell und bei verändertem Bewusstsein gemacht werden, sei es in der Trance des Samadhi-Tanks, in ekstatischer Verzü­ckung oder in meditativer Versenkung. Aber auch das veränderte Bewusstsein übersteigt weltanschauliche Ideen nicht, sondern bleibt von ihnen bestimmt. Die Mehrdeutigkeit jeder menschlichen Erfahrung lässt sich durch meditative oder übersinnliche Erlebnisse nicht aufheben. Weder das Streben nach okkultem Wissen noch das Streben nach Erfahrung mit Über- und Unterwelten führt unmittelbar zur Frage nach dem Wesen des Absoluten, nach dem letzten Grund des Seienden und sicher nicht zu einer Gottesbegegnung im Sinn von Judentum, Christentum und Islam. Esoterik kann völlig ohne Gott auskommen, wie ihn die mediterranen Hochreligionen verstehen. Gibt es in der Esoterik-Bewegung dennoch personale Bezüge der Suchenden und Glaubenden zum Kosmos, zum Absoluten oder zu einem personal gedachten Gott? Und wenn es sie gibt, wie sehen sie aus?

Das esoterische Gottesbild

Lassen wir den Anthroposophen und Pries­ter der Christengemeinschaft Wolfgang Gädeke zu Wort kommen: „Trotz alledem gibt es in den allermeisten Menschenseelen Religiosität, das heißt das Gefühl, dass die materielle und sinnliche Welt nicht die einzige Wirklichkeit ist, dass es eine Realität gibt, die sich der Erfassung durch naturwissenschaftliche Methoden entzieht. Von diesem Gefühl ist all das getragen, was sich in der ‚neuen Spiritualität‘ und ‚Esoterik‘ an Erscheinungen zeigt.“7

Gädeke ist davon überzeugt, dass man das geistige Wesen des Menschen beweisen könne und dass diese Erfahrung auch Hinweise auf die Existenz höherer Wesen gebe: „Könnte es nicht sein, dass diese rein geistige, übersinnliche Weise dasselbe ist, was man früher ‚Himmel’ genannt hat, wo es Engel, Götter, eben geistige Wesen gibt?“ Folglich sind Gebet und Gottesdienst für den Autor Formen, „sich geistigen Wesen zuzuwenden“: „Durch ein Gebet öffnen wir unsere Seele den Kräften der göttlichen Welt, damit sie in uns einfließen können, wie wir Mund und Nase öffnen, dass die Luft in unsere Lungen strömen kann ... In der christlichen Religion ist es eigentlich immer bekannt gewesen, dass die hauptsächliche Funktion von Religion die Nahrung der Seele ist ... Religion hat also in ers­ter Linie nicht etwas damit zu tun, wie wir bestimmte Fragen der Welt beantworten oder verstehen. Sie ist keine Frage der Erkenntnis oder des Intellekts. Sondern sie ist eine Frage des Lebens wie die Ernährung.“

Gädeke spart als Anthroposoph den Bereich esoterischer „Magie“ aus. Aber ansonsten ist seine Auffassung von Religion in der Esoterik-Bewegung Konsens. Der Bezug zum Kosmos, zur geistigen Überwelt, ist durchweg anthropozentrisch, er geht vom (als geistiges Wesen betrachteten) Menschen aus und regelt sich nach dessen Tun und Wollen. Er ist, als Kommunikation betrachtet, weitgehend unpersönlich. Das vorherrschende Bild ist „Nahrung“ oder „Energie“ oder „wirkendes Feld“. Personale geistige Wesen mögen existieren. Sie spielen aber für den spirituellen Menschen keine wichtige Rolle, da sie ihm wesensähnlich sind. Und Gott? Gädeke benutzt dieses Wort kein einziges Mal. Er benötigt es nicht, um zu erklären, was Religion ist. Weder gibt es in seinem Bild der Religion Gott, den Schöpfer, noch gibt es den Erlöser, noch gibt es von Gott offenbarte Wahrheit. Wahrheit ist vom Menschen geschaute und zum Wohl seiner Seele genutzte Erkenntnis.

Außerhalb und innerhalb der Anthroposophie gibt es weitere Beweggründe der Suche nach Spiritualität, die bereits erwähnt wurden: Die Entzauberung der Natur durch die Wissenschaft wird als Verlust empfunden, sie will man rückgängig machen. Die Natur wird vermenschlicht und damit zum Gesprächspartner, bei Geomanten und bei Naturmystikern gleichermaßen. In der mystischen Versenkung erlebt man die All-Einheit und damit gerade in der Entgrenzung des Selbst eine neue, spirituelle Identität. Die Mystik als Erfahrung der Leere oder Vergeistigung hat in der Esoterik-Bewegung, anders als in den meisten historischen Religionen, weithin therapeutische Funktion. Auch von daher ist sie nicht oder nur selten mit der christlichen Sehnsucht nach einer „unio mystica“ in eins zu setzen.

Ein sprechendes Beispiel für die esoterische Gottesvorstellung ist der „pädagogische Kosmos“ des 2005 verstorbenen Esoterik-Meisters Gordon Freeman Fraser. Nach seiner Lehre entstand Gott vor 53 Milliarden Jahren: „Die Schwingungsformel der Dualität Gottes wurde ... als die bisher intelligenteste und komplizierteste Gesetzesverbindung im ganzen Universum gebildet ... Sie entstand als aktiver (männlicher) und passiver (weiblicher) Teil miteinander verbunden ... Der aktive Teil wird heute als Gott Vater bezeichnet und der weibliche Teil als heiliger Geist.“8

Von den Gesetzen und von Gott wurden vor 1,25 Millionen Jahren die noch heute bestehenden 23 Milliarden menschlichen Individualitäten (Seelen) oder 11,5 Milliarden Dualitäten nach dem Vorbild der göttlichen Dualität geschaffen. Nach Gordon Freeman Fraser durchlaufen die Seelen vor ihrer irdischen Verkörperung in Gemeinschaft mit Gott vier Vorbereitungsstufen auf vier Planeten; dabei wird Unterricht erteilt und für jede Seele ein „Programm“ für das irdische Leben festgelegt. Die Erde selbst stellt die fünfte Station der seelischen Entwicklung und das eigentliche Feld der Erprobung dar. Alles, was es auf der Erde gibt, dient einzig und allein dem Ziel, dem Menschen zur Fortentwicklung seiner Seele zu verhelfen. Das gilt für positive Einflüsse ebenso wie für Unglück und Not – der Geist des Universums bringt beides hervor, um die Seele zu läutern. „Die Erde ist deshalb eine Bühne, auf der das Leben für den Menschen wie in einer Art ständig aneinander gereihter und ineinander verschachtelter Schauspiele abläuft.“9

Das Universum als moralische Anstalt – diese esoterische Sichtweise lässt sich als eine Projektion des Denkens des 19. Jahrhunderts in den Kosmos verstehen. Auch hier sind die Beweggründe offensichtlich: Sie heißen Kontingenzbewältigung und Identitätssicherung. Das Leben in einem „pädagogischen Kosmos“ beantwortet die drängenden Fragen, wer man ist und warum einem das widerfährt, was widerfährt. Der Kosmos nimmt sich des Menschen an, aber nach pädagogischen, fast technisch anmutenden Regeln: wie die Naturgesetze, so die kosmischen Gesetze. Wohl mag es auch Gnade geben, verkörpert von kosmischen Helfern, Avataren und Lichtarbeitern wie Gordon Freeman Fraser. Der Preis dafür ist, dass diese Gestalten an die Stelle eines hörenden und handelnden Gottes treten, nicht nur als priesterliche Mittler, sondern als wesenhaft von der übrigen Menschheit verschiedene Vollmächtige. Gott kommt zwar vor im Kosmos Frasers, aber er ist nicht von ihm unterschieden. Vielmehr entwickelt er sich mit dem Kosmos und ist dem Menschen gegenüber „primus inter pares“. Absolut, das macht Fraser klar, ist der Kosmos und seine Gesetze, nicht Gott. Seine Esoterik duldet kein unüberbrückbares Anderssein Gottes oder des Kosmos, keine Schöpfung und damit keinen Dialog zwischen Geschöpf und Schöpfer, zwischen Sünder und Retter. Solche personalen Vorstellungen von der Beziehung zwischen Mensch und Absolutem werden als ungeistig und unreif eingestuft, sie sind durch Wissen und Erfahrung zu überwinden. Gott und Mensch sind letztlich eins; das Reden mit Gott, das Hören auf Gott erkennt das entwickelte Bewusstsein als Selbstgespräche des Göttlichen. Demgegenüber hoffen Christen auf den ganz anderen, den unbegreiflichen Gott, der dennoch hört und antwortet, weil er uns in Christus nahe gekommen ist.


Hansjörg Hemminger, Stuttgart


Anmerkungen

1 Schriftliche Form eines Vortrags vom 15.2.2011 (Mainz), erweitert um Teilinhalte anderer Vorträge zum Thema „Esoterik“.

2 www.amazon.de/Bestellungen-beim-Universum-Handbuch-Wunscherfüllung/dp/393024313X 
(zuletzt abgerufen am 6.7.2012).

3 www.baerbelmohr.de/erfolgsgeschichten.html  (zuletzt abgerufen am 6.7.2012).

4 Bernhard Grom, Hoffnungsträger Esoterik?, Regensburg 2002.

5 Beispiele: Fritjof Capras Interpretation der Quantentheorie; Rupert Sheldrakes Theorie des morphogenetischen Feldes als alternative Evolutionstheorie, Ruediger Dahlkes Medizintheorie.

6 Siehe den Beitrag von Claudia Knepper „Hochschulstrukturkommission kritisiert umstrittenes Institut an der Viadrina“ in dieser Ausgabe des MD, 302f.

7 Alle Zitate aus Wolfgang Gädeke, Religion, Serie „Anthroposophische Perspektiven“, Teil 2/12 Alnatura (Hg.), 2011.

8 Hansjörg Hemminger, Gordon Freeman Fraser: Esoterik als wahnhaftes System, in: MD 3/1999, 75-87, hier 76.

9 Ebd.