Johannes Lorenz

Das „Isha Judd System“

„Es ist Zeit, aufzuwachen. Es ist Zeit, aufzuwachen.“ So habe es ihr eine Stimme eingeflüstert, sagt die Gründerin und spirituelle Leiterin Isha Judd auf ihrer Internetseite.1 Diese Stimme, die direkt aus ihrem Herzen zu ihr zu sprechen schien, habe sie direkt zu ihr „nach Hause“ gebracht, hinter die Verwirrungen und Vorurteile des Verstandes, hinein in die Fülle des Friedens.

Das eingangs zitierte Erweckungserlebnis führte die gebürtige Australierin (Melbourne) zu jenem Punkt, an dem sie heute steht: Isha Judd ist eine erfolgreiche Leiterin und ein spiritueller Coach in Südamerika. Näherhin unterhält Jennifer Lee Duprei, so ihr bürgerlicher Name, zwei eindrucksvolle Retreat- und Seminarzentren in Manzanillo (Mexiko) und Costa Azul (Uruguay). Ein Netz von Lehrerinnen und Lehrern unterstützt sie dabei, ihre Methode und Kurse bekannt zu machen und Außenstehende vom sogenannten „Isha Judd System“ zu überzeugen. Recherchiert man im Internet, so scheint es auch in Berlin ein solches Netzwerk zu geben, das um die 220 Mitglieder hat und von Victoria Abdelnur verantwortet wird.2 Auch an anderen Orten gibt es Bestrebungen, Außenstellen für Isha Judd zu gründen und Interessenten nach Südamerika zu schicken. Was steckt dahinter?

Selbstverständnis

Das „Isha Judd System“ versteht sich als eine glaubens- und theoriefreie Methode („simple tool“), die bedingungslose Selbstliebe verspricht und aus einer tiefen inneren Friedenserfahrung resultieren soll. Die harmonische Selbsterfahrung wirke sich allmählich auf die Um- und Mitwelt aus, sodass selbstbegrenzende Stress- und Angsterfahrungen weichen, um schließlich eine vollständige Transformation des Lebens zu ermöglichen („transform our lives completely“).3 Die Transformationsbewegung geht von der Transformation des eigenen Ichs zur Transformation des nächsten Freundeskreises, über die Familie, bis hin zu den kommunalen Zellen, in denen man lebt. Die explizite Religions- und Glaubensfreiheit habe Priester und Rabbis genauso wie Skeptiker und Atheisten angezogen. Alle Menschen würden dieselbe Sehnsucht (thirst) teilen, die alle Differenzen hintergründig verbinde: die Suche nach der Liebe. Jenseits der beiden südamerikanischen Zentren scheint Isha Judd mit ihrem System sozial Benachteiligte ansprechen zu wollen, Krankenhauspatienten und Gefängnisinsassen. Nach eigenen Angaben wurde ihr dafür in Argentinien der Titel „Ambassador for Peace“ verliehen. Zahlreiche Angebote zu teils kostspieligen Kursen, Seminaren, Filmen und Büchern bilden den spirituellen Kosmos, in dessen Zentrum die charismatische Lehrerin, Pferdezüchterin und Falknerin steht.

Ein zwiespältiges Bild

Recherchen zu Isha Judd und ihren Angeboten ergeben ein zwiespältiges Bild: Offensichtlich scheint sie einerseits viele Menschen zu begeistern. Ihre Kurse sind gut besucht, so jedenfalls der Eindruck der zahlreichen Coaching-Videos ihres YouTube-Kanals (Isha Judd). Blogbeiträge zeigen sich beeindruckt sowohl von ihrer Methode, aber insbesondere auch von Isha Judd selbst. Solche Einträge wirken glaubhaft; es ist nicht auszuschließen, dass ein individueller positiver psychologischer Effekt durch die Kurse und Angebote erreicht werden kann.

Andererseits stößt man auf Blogeinträge ebenso wie auf einen ausführlichen Aussteigerbericht, die ein anderes Bild zeichnen. Es werden darin schwere Vorwürfe erhoben. Neben unbehandelten Folgen psychotischer Ausbrüche, emotionalen Destabilisierungen und der Isolation von Familie und Außenwelt geht es um den Missbrauch der Arbeitskraft – unentgeltliches Mitarbeiten in den Zentren ist Teil der Methode –, Demütigungen bei Widerspruch, Manipulationen und autoritäres Gebaren der Leiterin. Auch sollen Argentinien und Uruguay gerichtlich dagegen vorgegangen sein, Isha‘s Angebote weiterhin für Gefängnisinsassen anzubieten. Überprüfen lassen sich die Anschuldigungen nur schwer. Mehrere Faktoren fallen auf, die zumindest nahelegen, dass das „Isha Judd System“ durch eine kritische Perspektive zu ergänzen ist.

Einschätzungen und Kritik

Da ist die offensichtliche Dominanz von Isha Judd, die sich nicht nur in den zahlreichen sie und ihre Methode verkaufenden Produkten widerspiegelt. Es geht auch um die Erzählung ihres Erweckungserlebnisses, das der Logik des klassischen Hagiografie-Narrativs folgt: unsteter, weltlicher Lebenswandel, Bekehrung durch die Stimme ihres Herzens, Heilserkenntnis und neues Bewusstsein. Freilich sind solche Bekehrungen nicht per se problematisch und durchaus denkbar. Problematisch ist, dass Isha Judd ihre eigene spirituelle Herkunft nicht erwähnt und nahelegt, dass ihr System allein auf sie selbst zurückgehen würde. Eine Quelle sagt, dass Isha Judd Schülerin von Maharishi Sadishiva Isham (MSI) war, der 1997 verstarb und die sogenannten „Ishayas“ gründete. MSI selbst war Schüler von Maharishi Mahesh Yogi (MMY), dem Begründer der Transzendentalen Meditation (TM). Ebenfalls auf MSI geht der „Bright Path“ zurück, der u. a. Meditationen („Ascensions“) in mexikanischen Gefängnissen durchführte. MSI gibt an, seine Technik von einem alten Mönchsorden im Himalaya erhalten zu haben, der vom Apostel Johannes gegründet worden sein soll. Ein Bruch mit MMY soll MSI in die Selbstständigkeit gezwungen haben; MSIs Tod habe wiederum die „Ishayas“ in verschiedene Untergruppen gespalten. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist Isha Judds Gruppe als eine dieser Untergruppen zu bezeichnen. Inhaltlich steht ihr Konzept deshalb nicht zufällig der Transzendentalen Meditation sehr nahe. Ihr Motto „Why walk when you can fly“ erinnert an das Siddhi-Programm der TM, in dem das yogische Fliegen eine der paranormalen Fähigkeiten war, die man erlernen konnte. Genauso steht ihre Betonung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität in der Tradition von TM. Ihr Anspruch, durch die Erweckung der inneren Selbstliebe Mitmenschen und ganze Kommunen qualitativ zu verändern, könnte als fernes Echo des „Maharishi-Effekts“ gelesen werden. Studien sollen belegt haben, dass wenige Menschen, die Transzendentale Meditation betrieben, ausreichten, um die Welt gewaltfreier und friedlicher zu machen. Sollte diese inhaltliche Nähe und persönliche Verquickung mit der TM stimmen, ist die Frage, weshalb dies nicht transparent gemacht wird. Möglicherweise könnte es ihrer spirituellen Autorität schaden.

Auffällig ist darüber hinaus das Bestreben, sich durch externe Qualitätssiegel abzusichern. So wird ihr Auftritt bei der UNAOC (Allianz der Zivilisationen der UN) vom 31.10.2014 stark unterstrichen. Sie betont zudem, „Ambassador for Peace“ zu sein, und hebt ihre Mitgliedschaft beim 2013 gegründeten sogenannten „Global Citizen Forum“ hervor,4 das nicht zu verwechseln ist mit der gleichnamigen kanadischen Non-Profit-Organisation.5 Jenes „Global Citizen Forum“ gibt an, „beyond Gender, Religion and Nationality“ zu stehen, und versteht sich als Netzwerk progressiver Weltbürger mit dem Investor Dr. Bhupendra Kumar Modi an der Spitze, der ein Vorwort für Isha Judds Buch „The Global Citizen“ von 2014 beisteuerte. Neben durchaus seriösen Unterstützern des „Global Citizen Forums“, wo im Einzelnen Überprüfungen über deren tatsächliche Unterstützung noch laufen (z. B. Rotary), gibt es etwa „The Art of Living“, eine von Sri Sri Ravi Shankar geführte Meditationsschule, die inhaltlich sehr nahe an Isha Judds Angeboten steht; 1970 traf Sri Sri Ravi Shankar auf Maharishi Mahesh Yogi und war „Gouverneur des Zeitalters der Erleuchtung“ von Maharishis Weltregierung.6 Unter anderem tauchen dort beinahe wörtliche Übereinstimmungen auf, Versprechen bezüglich Stressreduktion und besserem Schlaf, bis hin zur These, mit dem Angebot das volle eigene Potenzial entfalten zu können; bei Isha Judd heißt es: „This system allows us to anchor ourselves in the present moment and from there to reach our maximum potential …“ Ob nun Zufall oder nicht – die Anbindung an übergeordnete Netzwerke, die Isha Judds Anliegen verbreiten, sind vorhanden. Es könnte sich lohnen, sich die Hintergründe des „Global Citizen Forums“ nochmals genauer anzusehen.

Kritisch zu vermerken ist ferner Ishas Anspruch der totalen Lebensveränderung, die ihre Methode bewirken soll. Darüber hinaus möchte sie ihre Methode in alle sozialen Schichten hineintragen („this foundation takes Isha Judd‘s system to every corner of society“), was einen starken expansiven Gestus zum Ausdruck bringt. Ihre Überzeugung, eine transreligiöse Methode anzubieten, die keinerlei Bezug zu religiösen Traditionen enthält, muss spätestens dann als unredlich bezeichnet werden, wenn ihre geistige Herkunft tatsächlich bei Maharishi Mahesh Yogi zu verorten ist, der mit seiner Transzendentalen Meditation eine auf den westlichen Individualismus zugeschnittene Reformulierung hinduistischer Traditionen entwickelt hat.

Dies alles sind Hinweise dafür, eine ergänzende, kritische Perspektive auf Isha Judd und ihre Angebote zu richten. Isha Judd selbst hält die Vorwürfe gegen sie für falsche Unterstellungen. Dass ihr System tatsächlich psychische und finanzielle Abhängigkeiten schafft, lässt sich eindeutig bisher nicht belegen. Ein aktueller Beratungsfall zeigt indes, dass das Angebot von Isha Judd zu massiven familiären Beziehungskonflikten führen kann, weil häufige Auslandsaufenthalte in einem der Zentren in Südamerika offensichtlich zu starken Persönlichkeitsveränderungen führen. Auch soll die Absicht bestehen, im Rhein-Main-Gebiet vermehrt für Isha Judd zu werben. Eine kritische Begleitung der Bewegung erscheint daher auch in Zukunft angebracht.


Johannes Lorenz, Frankfurt M., 01.05.2021

Anmerkungen

  1. Vgl. ishajudd.com/en (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 26.2.2021).
  2. Vgl. www.meetup.com/de-DE/Isha-System-Berlin.
  3. Vgl. ishajudd.com/en.
  4. Vgl. globalcitizenforum.co.
  5. Vgl. www.globalcitizenforum.org.
  6. Vgl. Friedmann Eißler: Sri Sri Shankar (Art of Living), in: MdEZW 11/2019, 420.