Allversöhnung - doppelter Ausgang des Gerichts - Annihilation

Die Frage „Was darf ich hoffen?“ durchzieht die Geschichte des Christentums und hat auch in heutigen kirchlichen und theologischen Diskursen ihre Aktualität nicht eingebüßt. Sie bestimmt christliche Gemeinschaften in ihrem Selbstverständnis und ist Gegenstand der Suche nach einem angemessenen Verständnis christlicher Zukunftserwartung. Mit den Begrifflichkeiten und Perspektiven Allversöhnung (griech. apokatastasis panton/Wiederherstellung aller), Annihilation (Vernichtung) und der Erwartung eines doppelten Ausgangs des Gerichtes werden unterschiedliche Optionen in den Blick genommen, drei mögliche Antworten auf die Frage nach der Zukunft des Einzelnen und der Menschheit als ganzer. Während die kirchliche Normalfrömmigkeit eschatologischen Erwartungen nur begrenzte Aufmerksamkeit schenkt, werden sie in einzelnen christlichen Gemeinschaften ins Zentrum der Glaubenspraxis und -lehre gestellt. Bezugnahmen auf biblische Texte und historische Traditionen begründen und legitimieren die jeweiligen endzeitlichen Perspektiven.

Apokatastasis oder doppelter Ausgang

Als Allversöhnung wird die endzeitliche Erwartung einer universalen Harmonie zwischen Schöpfer und Geschöpfen bezeichnet, ein Zustand vollendeter Versöhnung, zu der die Teilhabe aller am endzeitlichen Heil gehört. Andere Begrifflichkeiten wie Allerlösung oder Allaussöhnung bezeichnen Ähnliches. In dieser Perspektive gibt es am Ende – nach dem göttlichen Gericht – keine Verdammten und keine Hölle, keinen Teufel, keine Dämonen und keine ewigen Qualen mehr. Die Allversöhnungslehre wurde in der alten Kirche prominent von Origenes (gest. 253) unter Bezugnahme auf 1. Kor 15,25-28 und Phil 2,5-11 vertreten. Sie wurde problematisiert, später u. a. durch den Einfluss Augustins (gest. 430) verworfen und auf der Synode von Konstantinopel (543) wie auch auf dem 2. Konzil von Konstantinopel (553) als Irrlehre abgelehnt. Die reformatorischen Bekenntnisse rezipieren die Kritik der Allversöhnung. Das Augsburgische Bekenntnis (CA XVII) formuliert Abgrenzungen gegenüber der Erwartung eines Tausendjährigen Reiches (Chiliasmus) wie auch gegenüber der Allversöhnung (apokatastasis panton im Sinne von „Alle werden selig”). Auch die römisch-katholische Kirche und Theologie grenzt sich in ihrer Lehrtradition von der Allversöhnungslehre ab und betont die traditionelle Lehre vom Himmel, von der Hölle und vom Purgatorium. In einzelnen Ausprägungen des Pietismus, der fraglos bedeutendsten religiösen Erneuerungsbewegung im nachreformatorischen kontinentalen Europa, wird die Allversöhnungslehre wieder aufgegriffen, u. a. bei Johann Albrecht Bengel (gest. 1752) – hier eher vorsichtig –, bei Friedrich Christoph Oetinger (gest. 1782) und Johann Michael Hahn (gest. 1819) explizit, besonders eindrücklich auch bei Johann Christoph Blumhardt (gest. 1880) und seinem Sohn Christoph Blumhardt (gest. 1919). In heutigen innerpietistischen Diskursen zur Allversöhnung wird darauf verwiesen, dass es zu solchen Fragen keine „offizielle Lehrmeinung“ gebe, dass das Hören auf die Schrift und die geschwisterliche Beratung wichtig seien.

Katholische und evangelische Theologinnen und Theologen im 20. und 21. Jahrhundert rezipieren die klassische Tradition nicht kritiklos. Sie greifen dabei vor allem Anliegen einer Hermeneutik auf, die von der Metaphorik religiöser Sprache ausgeht. So wird beispielsweise Hölle nicht als Ort ewiger Qualen verstanden, sondern als selbstverschuldeter Ausschluss des Menschen aus der Gemeinschaft mit Gott. Gleichzeitig wird insgesamt zu konstatieren sein: In zentralen eschatologischen Überlegungen tendieren die meisten der heute rezipierten Theologinnen und Theologen zur Allversöhnung, allerdings ohne daraus eine feste Lehre zu machen (Karl Barth, Karl Rahner, Gisbert Greshake, Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel, Christine Janowski u. a.). Die Annäherung an die Allversöhnung hat verschiedene Gründe: Die Aporie eines endzeitlichen Dualismus soll vermieden und die Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus als unbedingte Liebe hervorgehoben werden. Unterstrichen wird dabei zugleich die „soteriologische Ohnmacht“ (Hartmut Rosenau) des auf Gottes Gnade angewiesenen Menschen.

Einwände gegenüber solchen Annäherungen an die Allversöhnungslehre sind nicht neu und begleiten sie seit ihren Anfängen. Bibeltheologisch kann zwar auf nicht wenige heilsuniversalistische Aussagen im Neuen Testaments verwiesen werden: Röm 5,12-21, Röm 11,32, 1. Kor 15,28 ... In 1. Tim 2,4 heißt es klassisch: Gott „will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“. Neben heilsuniversalistischen Texten stehen zahlreiche Aussagen über einen doppelten Ausgang des Gerichts: Mt 25,31-46; Mk 9,44; Joh 3,36 etc. Die Menschheit wird demnach in die Geretteten und Verlorenen geschieden. Nur ein Teil gewinnt Anteil an der Herrlichkeit des Reiches Gottes, während der andere Teil der Verdammnis und Trennung von Gott preisgegeben ist. Einwände, die gegenüber der Allversöhnungslehre ins Feld geführt werden, sind freilich nicht nur bibeltheologisch ausgerichtet, sondern auch ethisch, pastoral und missionstheologisch. Darüber hinaus scheint die Lehre von der Apokatastasis panton die Souveränität Gottes und die Verantwortung und Freiheit des Menschen nicht hinreichend zu berücksichtigen.

Annihilation oder Unsterblichkeit

Eine weitere Perspektive, die gewissermaßen zwischen der Erwartung der Allversöhnung und der eines doppelten Ausgangs des Gerichtes steht, stellt die Vorstellung der Annihilation dar. Sie geht davon aus, dass mit dem Kommen Gottes am Ende der Welt alle widergöttlichen Mächte zerstört werden und der Vernichtung anheimfallen. Eine Trennung der Menschheit wird auch hier vorgenommen. Die Hölle wird jedoch nicht als ein ewiges widergöttliches Reich gedacht. Vertreter dieser Richtung weisen etwa darauf hin, dass in Offb 21,1-8 das zukünftige Reich Gottes als Negation des Negativen beschrieben wird, als Ort und Zeit, wo jede Träne abgewischt wird „und der Tod … nicht mehr sein“ wird, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal …“
Die Vorstellung der Annihilation kann ein Protestpotenzial gegenüber der Vorstellung von ewigen Höllenqualen enthalten, wenn etwa darauf verwiesen wird, dass diese unvereinbar sei mit der Unbedingtheit der göttlichen Gnade. Zwingend ist diese Verknüpfung allerdings nicht.

Eine ganze Reihe von religiösen Gemeinschaften und Bewegungen vertritt annihilationistische Vorstellungen: u. a. die mit ca. 160000 Mitgliedern zahlenmäßig in Deutschland durchaus verbreitete Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen. Auch der Adventismus geht in seinen „28 Glaubenspunkten“ von annihilationistischen Perspektiven aus. Der Tod wird als Zustand des Schlafs verstanden, der für die Gerechten mit der Parusie Christi endet. Von hier aus ergeben sich auch Beziehungen zur sogenannten Ganztodtheorie, die die christliche Theologie beeinflusste, wobei das skizzierte eschatologische Konzept des Adventismus auch als „bedingte Unsterblichkeit“ bezeichnet wird. Für die Gottlosen bedeutet das Jüngste Gericht nicht ewige Qual, sondern Vernichtung und Auslöschung – nach dem Millennium. Die Geretteten gewinnen Anteil an der göttlichen Unsterblichkeit. Nicht die formale Zugehörigkeit zu den Siebenten-Tags-Adventisten bringt freilich diese Rettung, sondern der Glaube an Jesus Christus als Erlöser ist entscheidend.

Die annihilationistische Kritik gegenüber der Vorstellung einer ewigen Hölle findet sich auch bei den Christadelphians (Brüder Christi im Anschluss an Hebr 2,11), einer kleinen Religionsgemeinschaft, die 1844 in Nordamerika gegründet wurde und den Anspruch erhebt, die urchristliche Lehre in ursprünglicher und unverfälschter Form bewahrt zu haben. Ihre biblizistisch begründete Lehre geht von der alles bestimmenden Grundlage aus, das ursprüngliche Evangelium sei beim Übergang aus dem alttestamentlich-jüdischen Kontext in die hellenistische Kulturwelt verfremdet worden. Die Ausbildung der Trinitätslehre gilt etwa als illegitime Hellenisierung und Verlust christlicher Authentizität. Entschiedene Ablehnung erfahren auch die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und das Verständnis der Hölle als Ort ewiger Qual. Zur Eschatologie der Christadelphians gehört, dass am Ende des Millenniums die Auferstehung aller Toten (Glaubender wie Nichtglaubender) zum Gericht steht, wobei Gott die Seinen mit Unsterblichkeit überkleiden wird, während das Schicksal der Gottlosen ihre Vernichtung ist.

Im Kontext des Evangelikalismus ist die eschatologische Perspektive des doppelten Ausgangs des Gerichtes vorherrschend. Eine Reihe evangelikaler Theologen sympathisiert allerdings mit der Auffassung der Annihilation oder stimmt ihr teilweise oder ganz zu. Der bekannteste ist der 2011 verstorbene John Stott. Als herausragender Theologe und Priester der anglikanischen Kirche beeinflusste er wie kein anderer die offizielle Theologie des Evangelikalismus und war maßgeblich an der Erstellung der Grundsatzdokumente der Bewegung beteiligt, der Lausanner Verpflichtung und dem Manila-Manifest. In seinen Schriften sympathisierte Stott mit dem Annihilationismus. Er hielt die Vorstellung einer Hölle als Ort ewiger und bewusster Qual für problematisch und bibeltheologisch nicht zwingend. Mit seiner These löste er im Kontext der internationalen evangelikalen Bewegung seit Ende der 1980er Jahren intensive Diskussionen und heftigen Widerspruch aus. Bis heute halten diese Debatten an. Sie sind insofern noch verschärft worden, als etwa einflussreiche evangelikale Prediger wie Rob Bell in ihren aktuellen Publikationen Fragen stellen, die traditionelle Denkmuster evangelikaler Theologie grundlegend infrage stellen und dabei wiederum Annäherungen an die Allversöhnungslehre vollziehen, die von zahlreichen Theologen evangelikaler Prägung strikt abgelehnt wird.

Einschätzungen

Es ist zu unterscheiden, ob Allversöhnung erhofft wird, ob sie in der Dimension des Gebetes verbleibt oder ob sie als verbindliche Glaubenslehre verstanden und verbreitet wird. Der Glaube an Gott als Richter und Retter des Menschen verbietet es, letzte Urteile über den Ausgang des individuellen Lebens und der Welt als ganzer zu machen. Der Satz des Apostolikums, dass Jesus Christus kommen wird zum Gericht über Lebende und Tote, bringt freilich auch zum Ausdruck, dass das Endgericht in christologischer Perspektive zu sehen ist. Kein anderer als Jesus Christus ist der Richter der Welt. Damit ist der Ernst des kommenden Gerichtes nicht aufgehoben. Das richtende Handeln Gottes ist jedoch in den Zusammenhang seiner Gnade gestellt. Die heilsuniversalistischen Aussagen der Bibel erinnern die Glaubenden daran, dass allein Christi stellvertretender Tod und seine Auferweckung und nicht menschliche Werke der Grund der göttlichen Gnade sind. Die Botschaft von einem möglichen doppelten Ausgang des Gerichts erinnert den Menschen an seine Verantwortlichkeit vor Gott. In der Geschichte der Christenheit ist der Sinn des göttlichen Gerichtes oft verdunkelt worden. Die Gerichtsbotschaft ist als Drohmittel missbraucht worden, sie wird auch heute noch missbraucht. Im Zentrum christlicher Verkündigung steht nicht Gottes Gericht, sondern seine Gnade. Der Missbrauch der Botschaft vom Gericht Gottes ist freilich kein ausreichender Grund, dieses zu leugnen.

Versteht man unter Gericht die Aufrichtung von Gerechtigkeit und Wahrheit, dann ist allein der Sachverhalt, „dass es ein solches Gericht gibt, in dem alle Lüge, Verstellung und Täuschung abgetan wird und die Wahrheit ans Licht kommt, ... schon an sich eine Wohltat“ (Härle, 64). In Gericht und Gnade zeigen sich Gottes Heiligkeit und Liebe. Das Evangelium bezeugt, dass Gott seine Gnade über sein Gericht triumphieren lässt. Gericht und Gnade, Gesetz und Evangelium stehen sich spannungsvoll gegenüber. Theoretisch lassen sie sich nicht harmonisieren. Sie sind freilich nicht gleichrangig. Der universale Heilswille Gottes ist die grundlegende Perspektive christlicher Verkündigung. Die biblischen Aussagen vom Gericht und Verlorensein sprechen von der Möglichkeit, dass der Mensch seine Bestimmung verfehlt. „Die letzte eschatologische Offenheit, die hier bleiben muss, ist nicht taktisch, sondern sachlich begründet“ (Härle, 66). Niemandem steht es zu, andere Menschen für verloren zu erklären. Die Zukunft aller liegt allein in Gottes Hand.

Reinhard Hempelmann, April 2015
 

Literatur

Jens Adam, Paulus und die Versöhnung aller. Eine Studie zum paulinischen Heilsuniversalismus, Neukirchen-Vluyn 2009

Rob Bell, Das letzte Wort hat die Liebe. Über Himmel und Hölle und das Schicksal jedes Menschen, der je gelebt hat, Gießen 2011

Friedhelm Groth, Die „Wiederbringung aller Dinge“ im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts (= Arbeiten zur Geschichte des Pie­tismus Bd. 21), Göttingen 1984

Wilfried Härle, Die Rede von der Liebe und vom Zorn Gottes, in: ZThK Beiheft 8/1990, 50-69

Christine Janowski, Allerlösung – Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie (= Neukirchener Beiträge zur systematischen Theologie Bd. 23), Neukirchen-Vluyn 2000

Hans Küng, Ewiges Leben?, München 1982

Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Darmstadt 22005

Hartmut Rosenau, Allversöhnung. Ein transzendental-theologischer Grundlegungsversuch, Berlin / New York 1993

Hartmut Rosenau, Art. Allversöhnung, in: RGG4 Bd. 1, Tübingen 1998, 322f

Wolfgang Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-frühjüdischen Tradition, Neukirchen-Vluyn 2002

Werner Thiede, Die Hölle ist ausgelöscht, in: Zeitzeichen 11/2010, 15-17