Matthias Neff

„Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“

Ein Tagungsbericht

Wohl kein Phänomen wird in der Weltanschauungsarbeit so kontrovers diskutiert wie das der „rituellen Gewalt“.1  Die Einschätzungen zu der Frage, ob tatsächlich arkane, generationenübergreifende, international organisierte und gesellschaftlich einflussreiche Täternetzwerke existieren, die rituelle Gewalt als sexualisierte physische und emotionale Form der Misshandlung praktizieren, gehen weit auseinander. Auch die Frage, inwieweit „rituelle Gewalt“ mit religionsförmigen Symbolen, Riten und Praktiken verbunden ist, die dem neuzeitlichen Satanismus zugerechnet werden müssen, ist stark umstritten. Die ARD-Dokumentation „Höllenleben“2, die von der realen Existenz dieser Netzwerke ausgeht, und die Diskursanalyse „Satanismus und ritueller Missbrauch“ von Ina Schmied-Knittel3, die zu dem Ergebnis kommt, dass es sich dabei um ein fiktionales, von Polizei und Justiz nicht verifizierbares Konstrukt handelt, bilden die Spannbreite dieser Diskussion ab und könnten nicht gegensätzlicher sein.

Von entscheidender Bedeutung ist die Frage, ob die Aussagen von angeblich ritueller Gewalt ausgesetzten und dadurch schwer traumatisierten Frauen glaubhaft das tatsächliche Tatgeschehen wiedergeben oder ob diese Berichte anders, beispielsweise mit psychischen Mechanismen, erklärt werden müssen, etwa dem Konzept der „falschen Erinnerung“. Letzteres steht unter der Prämisse, dass die traumatischen Gewalterfahrungen zwar real sind, diese aber die Erinnerung der Opfer stark verändern können, ohne dass das den Opfern selbst bewusst sein muss. In der Folge ist auch der therapeutische Ansatz der Behandlung vor allem von Frauen mit dissoziativer Störung, der davon ausgeht, dass sie tatsächlich Opfer arkaner satanistischer Netzwerke geworden sind, stark umstritten.

Mit diesem therapeutischen Ansatz setzte sich die Tagung „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“ auseinander, die am 6. November 2009 in Trier stattfand.Die Tagung mit 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war als Fortbildungsveranstaltung der Ärztekammer Trier akkreditiert und wurde von Daniela Engelhardt, Journalistin beim SWR Mainz, moderiert. Ein Workshop am folgenden Tag war „therapeutisch Tätigen mit Berufserfahrung“ vorbehalten. Ziel der Veranstalterinnen war die Information über Formen der rituellen Gewalt und die Täterkreise, denen sie diese Gewalt zuschreiben. Die Problematik sollte aus sozial- und gesundheitspolitischer sowie aus therapeutischer, sicherheits- und gesellschaftspolitischer Perspektive betrachtet werden. Vor allem ging es den Veranstalterinnen um eine Verbesserung der Situation der Opfer, die aus ihrer  Perspektive besonders in der Ermöglichung einer längeren, von den Krankenkassen finanzierten psychotherapeutischen Behandlung besteht.

Die Initiatorinnen der Tagung gehen von der Existenz der oben beschriebenen Täternetzwerke aus.5 Eine Umfrage6, die zunächst 2007 unter Therapeuten in Nordrhein-Westfalen und später in Rheinland-Pfalz und im Saarland durchgeführt wurde, ergab demnach, dass die befragten Therapeuten beispielsweise in Rheinland-Pfalz 63 Berichte ihrer Patientinnen über Fälle ritueller Gewalt, bei denen es zu 23 Menschenopferungen gekommen sein soll, für glaubwürdig hielten. Während der Therapie soll bei 57 Prozent der Patientinnen noch Täterkontakt bestanden haben.

Die Tagung wurde mit einem Grußwort von Wolfgang Willems vom Polizeipräsidium Trier eröffnet. Er betonte, dass sich die Polizei mit dem Phänomen „rituelle Gewalt“ aufgrund ihres allgemeinen  Auftrags intensiver befassen müsse. Hinsichtlich des Phänomens sei er „hin- und hergerissen“. Er wies darauf hin, dass besondere Kommissariate mit ausgebildeten Beamten bei Verdachtsfällen von ritueller Gewalt ermitteln könnten.

Mafiöse Täterkreise?

Der Journalist Rainer Fromm befasste sich in seinem Vortrag mit der Frage, inwieweit die Strukturen, in denen sich rituelle Gewalt nach Berichten von Opfern bzw. Therapeuten abspielt, mit Phänomenen, Praktiken und Strukturen der „Schwarzen Szene“, insbesondere des Satanismus, korrespondieren. Die Diskussion um die Frage der „rituellen Gewalt“ in Deutschland spielt sich seiner Wahrnehmung nach zwischen zwei destruktiven Polen ab: einerseits unquantifizierbare Mythen über Täterkreise und Gewalttaten, die sich mit kriminalistischen Mitteln nicht belegen lassen, andererseits die grundsätzliche Pathologisierung der Opfer von Gewalttaten in Kontext ritueller Gewalt.

Im Zusammenhang mit dieser Form der Gewalt seien in satanistischen Segmenten des  weltanschaulichen Markts drei Phänomene belegbar: (1) Rituelle Gewalt als Ausdruck eines satanistischen Überzeugungssystems, wobei die Triebfeder für diese Form der Gewaltausübung nicht immer klar in einem okkulten weltanschaulichen Überbau zu lokalisieren sei. (2) Inszenierungen mit Anleihen aus dem „Überzeugungssystem Satanismus“, ohne dieses zu teilen. (3) Rituelle Gewalt als reines Rahmungselement kommerzieller und nichtkommerzieller pornografischer Produktionen.

Unzweifelhaft sei, so Fromm, dass es einen Markt für diese Formen ritueller bzw. satanistisch motivierter Gewalt gibt. Einschlägige Fundstellen im Internet belegten, dass mit entsprechenden Bildern und Videos erhebliche Umsätze getätigt würden. Dieser Markt werde allerdings nicht von Satanisten im engeren Sinne bedient, also nicht auf der Basis einer weltanschaulichen Überzeugung. Bestimmend sei vielmehr ein kommerzieller Pseudosatanismus, bei dem eine Vernetzung zu Okkultorden bzw. satanistischen Gruppen nicht erkennbar sei und bei dem Satanismus im Sinne einer weltanschaulichen Überzeugung keine nennenswerte Rolle spiele.

Bei satanistisch motivierten Gewalttaten handele es sich vor allem um Verstöße gegen das Jugendschutzgesetz, um die Störung der Totenruhe und Sachbeschädigungen von Kirchen und Friedhöfen. Es gebe auch Gewalt gegen Menschen, bis hin zu einzelnen Tötungsdelikten, beispielsweise dem sog. „Satansmord“ von Witten oder vier rituellen Morden einer satanistischen Loge in Russland, über die in jüngster Zeit berichtet wurde. Gewalt gehe in der satanistischen Szene von Kleinstgruppen aus, deren Innenleben durch eine ausgesprochene Theorielastigkeit  gekennzeichnet sei.7  Überhaupt, so Fromm, seien satanistische Logen sehr klein. Beispielsweise gehörten zur „Fraternitas Saturni“ nur etwa 50 Mitglieder, zur größten bekannten Gruppe, der „Thelema Society“, maximal 150. Zwischen diesen Gruppen gebe es insbesondere durch das Internet eine weltweite Vernetzung. Auch die Auseinandersetzung mit der Frage, wie Menschen so konditioniert werden können, dass sie sich als Opfer gewaltsamer satanistischer Praktiken eignen, sei in der satanistischen Literatur vielfach belegbar. Darin werde auch deutlich, dass auf diesem Hintergrund „Täter produziert“ werden könnten.8  Ebenso sei ein Irrationalismus nachweisbar, der bei intensiver Beschäftigung mit satanistischer Literatur zu einem erheblichem Realitätsverlust führen könne. Detaillierte Vorlagen für Gewalthandlungen, vor allem im Zusammenhang mit dem Konsum von Drogen, könnten im Extremfall bis zu einem „Einbruch der Dämme“, zu Gewaltverbrechen und Morden führen, wobei nicht klar sei, ob deren Hauptmotiv ein ideologischer okkulter Überbau oder sexuelle Devianz ist.

Fromm machte auf „Scharniere“ im Sinne von Kontaktstellen aufmerksam, über die gewalttätige Satanisten versuchten, mit möglichen Opfern Verbindung aufzunehmen. Er nannte entsprechende Foren im Internet, z. B. die „Kontaktliste Satanismus“ oder die Internet-Community der Thelema-Society „New Aeon City“. Auch in sozialen Netzwerken ließen sich immer wieder entsprechende Kontaktscharniere finden, so jüngst in der Social Community „Gesichterparty“, die diese Kontaktstelle inzwischen geschlossen habe. Diesen „breit aufgestellten Scharnieren“ müsse mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dabei sei eine intensive Kooperation zwischen Behörden, Therapeuten und Weltanschauungsexperten erforderlich. Fromm sieht hier eine wichtige Aufgabe der Behörden und forderte eine rigide Indizierungspraxis bei entsprechenden Publikationen ein.

Für die Existenz „mafiöser Strukturen“ im Sinne einer weltweiten Vernetzung ausgedehnter satanistischer Gruppen mit gesellschaftlich einflussreichen Mitgliedern, die in der Lage seien, über Generationen hin bereits Kleinkinder so zu konditionieren, dass sie jahrelang als Opfer ritueller Gewalt missbraucht werden könnten, gebe es über die Aussagen der Betroffenen hinaus jedoch keinerlei Anhaltspunkte – auch wenn die Initiatorinnen der Tagung von der Existenz solcher Netzwerke ausgingen. Vielmehr handele es sich um einen „Mythos-Begriff“. Die in Deutschland bekannten satanistischen Logen seien nicht in der Lage, derartige Strukturen aufzubauen. Der „Mafia-Diskurs“ sei kontraproduktiv und könne tatsächliche Opfer satanistischer Gewalt am Ausstieg hindern.

Klare Daten erforderlich

Die Psychotherapeutin Annelie Wagner referierte über die oben erwähnte Umfrage unter Therapeutinnen und Therapeuten in Rheinland-Pfalz, zu deren Initiatorinnen sie gehört. Für Initiativen zur Unterstützung und therapeutischen Betreuung von Opfern ritueller Gewalt über den jetzt möglichen, von den Krankenkassen finanzierten Behandlungszeitraum hinaus sei das Vorliegen klarer Daten eine wichtige Voraussetzung. Weitere Ziele der Umfrage sehen die Initiatorinnen in der Erzeugung von Öffentlichkeit, von Problembewusstsein und in der Vernetzung der Betroffenen. Wagner benannte auch Defizite der Umfrage, die bei der Konzeption künftiger Befragungen  berücksichtigt werden müssten, etwa die Abfrage der Ausbildung derjenigen, die die Fragebögen beantworteten, Angaben über die Vorbehandlung der betroffenen Klientinnen und die Diagnosen, die gestellt worden seien. Auf die Rückfrage, ob es über die Einschätzungen der befragten Therapeuten hinaus Beweise oder Anhaltspunkte für die Straftaten gebe, von denen die Umfrage ausgeht, betonte Wagner, dass die Kompetenz der befragten Therapeuten ausreiche, um beurteilen zu können, inwieweit die Aussagen der Betroffenen glaubwürdig seien und ob sie die Tatumstände richtig wiedergeben.

Traumatherapie und Ausstiegsbegleitung

Die Psychologin Claudia Fliß und die Sozialwissenschaftlerin Claudia Igney stellten ihren Therapieansatz9  vor, der von der Existenz großer Gruppen und Netzwerke ausgeht, in denen systematisch und generationenübergreifend ritueller Missbrauch praktiziert wird. Sie wiesen auf die fehlende ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema in der Fachwelt hin und bezeichneten die Hilfe für Betroffene und Unterstützer als völlig unzulänglich.

Igney stellte dar, wie ihrer Überzeugung nach durch eine intensive Konditionierung vom Kleinkindalter an erwünschtes Verhalten und dissoziative Persönlichkeitsstrukturen erzeugt werden können. Derartige Mechanismen würden im Kontext ritueller Gewalt von Tätergruppen ganz gezielt bereits bei Kleinkindern eingesetzt, um diese missbrauchen zu können. So gebe es eine Reihe von Konditionierungsprogrammen, die bei den Opfern durch bestimmte Schlüsselreize ausgelöst werden könnten. Sie nannte als Beispiele Suizidprogramme, Anti-Polizeiprogramme und Rückkehrprogramme. Das Anti-Polizeiprogramm z. B. solle verhindern, dass Opfer ritueller Gewalt polizeiliche Hilfe suchen. Es werde in Kooperation mit Polizisten durchgeführt, die zur Tätergruppe gehörten. Das Opfer werde zur Polizei geführt und dort von dem Polizisten bzw. Täter so behandelt, dass es künftig unter keinen Umständen mehr Kontakt mit der Polizei aufnehmen werde. Sollte dieser trotzdem zustande kommen, werde durch die Konditionierung verhindert, dass das Opfer Vertrauen zur Polizei aufbaut. Dass es dennoch zur Therapie von Betroffenen komme, sei der Tatsache zu verdanken, dass letztlich kein Konditionierungsprogramm perfekt funktioniere.

Die Existenz ritueller Gewalt, so Igney, sei evident, auch wenn es bisher nicht zur strafrechtlichen Verurteilung von Tätern gekommen sei. Eine Therapie von Opfern, betonte sie, müsse auch möglich sein, wenn noch Täterkontakt bestehe, mit dem Ziel, Opfer darin zu stärken, gegen den Missbrauch vorzugehen.

Im Interview mit Daniela Engelhardt berichtete Silvia Eilhardt, Diplom-Sozialarbeiterin beim Jugendamt Witten, über ihre Arbeit mit von ritueller Gewalt betroffenen Frauen. Ihr Angebot versteht sich im Unterschied zur Traumatherapie als Ausstiegsberatung. Anders als bei Aussteigern aus anderen, z. B. rechtsextremen, Kontexten sei es hier unbedingt geboten, den Betroffenen uneingeschränkt zu glauben und ihre Berichte nicht infrage zu stellen. Auch Eilhardt, die jährlich zwei bis drei Betroffene begleitet, geht von der Existenz generationsübergreifender Gruppen und Netzwerke aus, die rituelle Gewalt praktizieren und zu diesem Zweck bereits Kleinkinder entsprechend konditionieren.

„Wir leben damit“

Die Psychotherapeutin Carola Spiekermann, die eine Selbsthilfegruppe von ritueller Gewalt betroffener Frauen mit dissoziativer Störung betreut, verlas ein Statement, das diese Selbsthilfegruppe für die Tagung erarbeitet hatte. Darin drückte sich vor allem der Wunsch nach gesellschaftlicher Integration der Betroffenen aus, deren Preis nicht darin bestehen dürfe, traumatische Erfahrungen ritueller Gewalt abzuspalten. Das Statement lenkte den Blick auf die Ressourcen der Betroffenen, die die Gesellschaft nutzen könne, und beklagte das hohe Risiko der Stigmatisierung, die denjenigen drohe, die sich als Opfer ritueller Gewalt öffentlich zu erkennen gäben.

Dass dieses Statement von der Psychotherapeutin und nicht von den Betroffenen verlesen wurde, begründete Spiekermann mit deren Angst, als psychisch krank stigmatisiert zu werden. Außerdem wollten sie sich nicht öffentlich als Opfer zu erkennen geben, um sich nicht dem Risiko auszusetzen, durch Täternetzwerke verfolgt zu werden. Auch im weiteren Verlauf der Tagung traten weder Betroffene auf noch gaben sich Teilnehmerinnen im Publikum als solche zu erkennen. Rainer Fromm verwies angesichts dessen darauf, dass er sich seit vielen Jahren mit dem Thema Satanismus  beschäftige, mit aktiven Satanisten und Aussteigern Kontakt habe und sich öffentlich als Kritiker des Satanismus zu erkennen gebe, ohne dass er dadurch jemals Opfer von Verfolgung oder sogar Gewalt geworden sei.

„Relativ geringes Fallaufkommen“

Axel Petermann vom Landeskriminalamt Bremen wies darauf hin, dass im Gegensatz zu den Ergebnissen der Umfragen unter Therapeuten aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden lediglich ein relativ geringes Fallaufkommen im Zusammenhang mit ritueller Gewalt konstatiert werden könne. Der hohen Zuschreibung von Glaubwürdigkeit durch Therapeutinnen und Therapeuten an die Aussagen der Betroffenen stehe aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden die Tatsache gegenüber, dass trotz intensiver Ermittlungen bisher keine verifizierbaren Angaben über derartige satanistische Netzwerke ermittelt werden konnten.

Ziel polizeilicher Ermittlungsarbeit sei die Klärung der Frage der Glaubhaftigkeit von Zeugen mit dissoziativer Persönlichkeitsstörung sowie die Herausarbeitung verifizierbarer Sachverhalte. Eine Aussage alleine reiche für eine Strafverfolgung nicht aus. Dafür seien neben Personalbeweisen auch Sachbeweise erforderlich. Die Kombination von glaubhaften Aussagen der Betroffenen und Spuren, die in diesem Zusammenhang gesichert werden können, müsse möglich sein: „Verbrechen hinterlassen Spuren“.

Die Kriterien, die Petermann für polizeiliche Untersuchungen nannte, waren u. a. eine lückenlose Dokumentation des Vorgefallenen und eine suggestionsfreie Vernehmung der Betroffenen, Zeugen und Beschuldigten. Dies erfordere im Zusammenhang mit Ermittlungen bei Verdacht auf rituelle Gewalt einen hohen zeitlichen Aufwand, die Einbindung psychologischer Sachverständiger, die rechtsmedizinische Untersuchung der Opfer, die kriminaltechnische Überprüfung der zu Protokoll gegebenen Sachverhalte, die Kooperation mit Sonderermittlungsstellen und die Aufarbeitung biografischer Daten und Dokumente des angegebenen Tatzeitraums sowie gezielte Überwachungs- und Schutzmaßnahmen.

Petermann legte dar, dass sich bei Ermittlungen wegen des Verdachts auf Straftaten im Zusammenhang mit ritueller Gewalt erhebliche Probleme in der Beweisführung ergeben, beispielsweise weil sich die Verbrechen in der Regel über einen langen und weit zurückreichenden Zeitraum erstreckt haben sollen. Zeugen, die von einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung betroffen sind, können Petermanns Erfahrung nach den Strafverfolgungsbehörden nur sehr eingeschränkt als Zeugen zur Verfügung stehen, bedingt etwa durch den häufigen Wechsel von Persönlichkeitszuständen. Daraus ergebe sich, dass bei den zur Anzeige gebrachten Verbrechen in der Regel keine konkreten Hinweise auf die Täterschaft der Beschuldigten, auf bestimmte Tatorte bzw. Anfahrtswege zu Tatorten oder andere konkrete Anhaltspunkte für eine Strafverfolgung ermittelt werden könnten. Dies sei auch bei zwei Ermittlungen der Fall gewesen, die er selbst geleitet habe. Sie führten trotz langer und intensiver Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass weder Sachbeweise ermittelt noch die Aussagen der Betroffenen bestätigt oder gar Beschuldigte überführt werden konnten. Die Ermittlungen in einen dritten Fall führte Petermann nicht zu Ende, weil sich ein ähnliches Ergebnis deutlich abzeichnete.

Psychologische Aspekte

Luise Greuel, forensische Psychologin  beim Institut für Polizei- und Sicherheitsforschung in Bremen, erläuterte die hohen Anforderungen der Gerichte an die Glaubhaftigkeit der Aussagen von Verbrechensopfern. Beim Vorliegen einer dissoziativen Störung sei es sehr schwierig, die Glaubhaftigkeit zu beurteilen.

Aussagen zu ritueller Gewalt hätten, so Greuel, grundsätzlich mit Gewalterfahrungen zu tun, die sich jedoch nicht genauso wie in der Aussage beschrieben ereignet haben müssten. Es handele sich zwar nie um frei erfundene Aussagen, allerdings müssten sie von Autosuggestionen, Alpträumen usw. abgegrenzt werden. Zwar seien Erinnerungsfehler keine Lügen, als unzuverlässige Aussagen jedoch nicht glaubhaft. Berücksichtigt werden müsse, dass bei dissoziativen Störungen von „besonders farbigen Erinnerungen“ auszugehen ist, auch dann, wenn diese den Tathergang nicht zutreffend beschreiben.10  Dissoziative Störungen und Traumatisierungen müssten nicht immer auf sexuellen Missbrauch zurückgehen, auch pathologische Familienhintergründe könnten die Entstehung der Störung begünstigen. Daher könne das Vorliegen einer dissoziativen Störung auch nicht als Beweis für rituellen Missbrauch betrachtet werden. Diese Aussage sorgte für Unruhe unter den anwesenden Therapeutinnen und Therapeuten, die offenbar davon ausgehen, dass das Vorliegen einer dissoziativen Störung als Beweis für die Richtigkeit der Aussagen der Betroffenen angesehen werden kann.

Greuel empfahl, aussagepsychologische Aspekte mit einzubeziehen, wenn juristische Schritte von Opfern ritueller Gewalt beabsichtigt sind, und betonte, dass eine therapeutische Unterstützung von Missbrauchsopfern deren Chancen auf ein positives Glaubhaftigkeitsgutachten nicht mindere. Ganz im Gegenteil hält sie die Praxis, aufgrund einer solchen Befürchtung mit einer therapeutischen Behandlung bis zum Abschluss eines Strafprozesses zu warten, für ethisch nicht vertretbar und plädierte für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Therapeuten, Justiz und Polizei.

„Das Tabu greift nicht mehr“

In einem Interview befragte Daniela Engelhardt die Soziologin und Journalistin Ulla Fröhling, Hamburg, und den Sozialpädagogen Thorsten Becker, Lüneburg, die sich seit vielen Jahren mit dem Thema „rituelle Gewalt“ befassen. Becker würdigte die Veranstaltung als erste größere deutschlandweite Tagung zum Thema11  und mahnte eine differenzierte fachliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung an, anstatt die „Überbringer der schlechten Botschaft“ anzugreifen. Er schlug vor, den Begriff „rituelle Gewalt“ durch „ideologisch motivierte Straftaten“ zu ersetzen. Dieser Vorschlag stieß im Auditorium allerdings auf Skepsis. Fröhling stellte fest: „Das Tabu greift nicht mehr“. Sie wies darauf hin, dass sich in der therapeutischen Behandlung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern aus der Sektenkolonie „Colonia Dignidad“ ähnliche Phänomene zeigten wie bei der Therapie von Opfern ritueller Gewalt.12

Ideologisch motivierte Straftaten oder pathologischer Fetischismus?

Im Schlusspodium forderten Claudia Igney und Claudia Fliß einen „Bundesaktionsplan“ zur Unterstützung der Opfer ritueller Gewalt und Gesetzesänderungen, die die Krankenkassen zu einer Verlängerung der Therapiedauer verpflichten. Axel Petermann betonte, dass polizeiliche Ermittlungen weder Täter noch Opfer vernachlässigen dürften und dass die Frage der Beweisbarkeit auch bei Ermittlungen bei Verdacht auf rituellen Missbrauch eine zentrale Rolle spiele. Er forderte die  Therapeutinnen und Therapeuten auf, zur Beweissicherung beizutragen.

Rainer Fromm betonte, dass der gewissenhafte Blick auf jeden einzelnen Fall nicht vernachlässigt werden dürfe. Alte Schablonen wie die Annahme der Existenz mafiöser Strukturen schüchterten Opfer eher ein, als dass sie ihnen helfen würden. Besonders befremdet zeigte Fromm sich angesichts der Tatsache, dass sogar noch während der Zeit der Therapie Täterkontakt bestehen könne, was von Therapeutenseite mit der Schweigepflicht gerechtfertigt wurde. Die Situation der Opfer sei in der Regel zu instabil, um vor den Strafverfolgungsbehörden aussagen zu können.

Ebenso wie Thorsten Becker plädierte Fromm dafür, den Begriff „rituelle Gewalt“ aufzugeben und, anders als Beckers Vorschlag, die Frage nach dem weltanschaulichen Hintergrund zurückzustellen, weil die rituellen Elemente bei dieser Form der Gewalt als eine kriminelle, pathologische Form sexueller Devianz und Fetischismus betrachtet werden müssten.

Fazit

Im Verlauf der Tagung wurde von Anfang an deutlich, wie umstritten der therapeutische Ansatz der Veranstalterinnen ist und wie weit die fachlichen Meinungen und Einschätzungen, besonders hinsichtlich der Frage der Täterkreise, auseinandergehen. Nicht nur beim Abschlusspodium zeigte sich, dass eine Annäherung der sehr unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Positionen im Verlauf der Tagung nicht möglich war. Bis zu einer konstruktiven Zusammenarbeit der unterschiedlichen Berufszweige scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Vor allem für die Betroffenen bleibt es daher bei der unbefriedigenden Situation, dass die Therapeutinnen weiterhin vom Bestehen satanistischer Netzwerke ausgehen, für deren Existenz aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden, der forensischen Psychiatrie und eines investigativen Journalismus offenbar keine Anhaltspunkte erkennbar sind.

Es ist den Veranstalterinnen zugute zu halten, dass sie ihren Ansatz auch aus anderer als der eigenen fachlichen Perspektive zur Diskussion stellten. Dies gilt jedoch nur eingeschränkt. Es fehlte vor allem ein Beitrag, der diese Form der Traumatherapie aus psychotherapeutischer Sicht kritisch beleuchtete. Auch die Frage nach der Qualität der Ergebnisse der Umfragen wurde aus fachlicher Sicht nicht gestellt. Auch wenn zu jedem Beitrag Nachfragen und Diskussionsbeiträge möglich waren, kam eine engagierte Diskussion nur sehr selten auf.

Schließlich bleibt die Frage, welche Rolle der kirchlichen Weltanschauungsarbeit in diesem Zusammenhang zukommen kann. Sie kann nicht ermitteln, ob mafiöse satanistische Netzwerke bestehen. Die Erfahrungen aus der Beratungsarbeit (mit allen damit verbundenen Einschränkungen) lassen allerdings keinen Rückschluss auf deren Existenz zu. Kirchliche Weltanschauungsarbeit kann satanistisches Gedankengut in Hinsicht auf seine grundsätzliche soziale Verträglichkeit mit den Grundprinzipien unserer Gesellschaft und auf seine Vereinbarkeit mit dem christlichen Gottes- und Menschenbild bewerten. Sie kann Betroffene beraten und sie in Kooperation mit anderen fachlich qualifizierten Unterstützungs- und Beratungsträgern begleiten.

Die Erfahrungen mit selbst im weitesten Sinn satanistischen Gruppen lassen sich auf das Phänomen rituelle Gewalt und die in diesem Kontext postulierten Täterstrukturen offenbar nicht anwenden, weil weder belegt ist, dass solche Strukturen existieren, noch dass weltanschauliche Fragen im Kontext bekannter Fälle überhaupt eine Relevanz haben, weil vieles dafür spricht, dass rituelle Gewalt in weltanschaulicher Hinsicht als Form sexueller Devianz (Fetischismus) betrachtet werden muss.

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Frauen mit traumatischen Gewalterfahrungen und dissoziativer Störung durch diakonisches kirchliches Handeln nicht unterstützt werden können und müssen. Eine solche Unterstützung ist fachlich qualifiziert und ethisch vertretbar möglich – auch ohne die Annahme mafiöser satanistischer Netzwerke und ohne alle damit verbundenen Konsequenzen bis hin zu darauf aufbauenden therapeutischen Ansätzen.


Matthias Neff, 01.06.2010

 

Anmerkungen

1  Die Darstellung des Verlaufs und der Ergebnisse der Tagung konzentriert sich auf die Fragestellung, wie plausibel das Konzept der „Täternetzwerke“ erscheint und ob es für deren Existenz über die Berichte der Betroffenen hinaus Belege gibt. Daneben steht die Frage, welche Rolle weltanschauliche Fragen im Zusammenhang mit dem Konzept der rituellen Gewalt spielen, im Vordergrund. Die Darstellung und Bewertung des psychotherapeutischen Ansatzes der Veranstalterinnen zur Entstehung von dissoziativen Störungen und zur Behandlung von Opfern ritueller Gewalt kann aus fachlicher Sicht selbstverständlich nicht geleistet werden und spielt in diesem Bericht nur eine untergeordnete Rolle.

2  Höllenleben – Der Kampf der Opfer. Ritueller Missbrauch in Deutschland, Autorin: Liz Wieskerstrauch, Produktion: NDR, gesendet am 23.6.2003.

3  Ina Schmied-Knittel, Satanismus und ritueller Missbrauch. Eine wissenssoziologische Diskursanalyse, Würzburg 2008, s. dazu die Rezension von Christian Ruch in MD 10/2009, 398-399.

4  Als Kooperationsveranstaltung des „Frauennotrufs Trier“, der „Heinrich-Böll-Stiftung Rheinland-Pfalz“, der „Landesgemeinschaft Anders Lernen, Rheinland-Pfalz“ sowie des „Arbeitskreises und Qualitätszirkels Gegen Rituelle Gewalt in Rheinland-Pfalz“.

5  Im Vorfeld der Tagung hatte das zu Irritationen wegen einer Formulierung in einem Zeitungsartikel geführt, in dem Annelie Wagner, eine der Initiatorinnen der Tagung, mit dem Satz zitiert wird: „Die Täterkreise sind durchsetzt von Polizisten und Anwälten“ (Trierischer Volksfreund vom 1.11.2009). Zu Beginn der Tagung erklärte Wagner, sie sei sinnentstellend zitiert worden. Zwar gehörten auch Polizisten und Anwälte zu den Tätergruppen, sie seien darin jedoch nicht überproportional vertreten.

6  Die Ergebnisse sind abrufbar unter www.bistummuenster.de/downloads/Seelsorge/2008/207_Datenerhebung_rituelle_Gewalt.pdf.

7  Ein wichtiges Kriterium für die Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Berichten aus satanistischen Organisationen sei daher, ob diese Berichte deren weltanschaulichen Hintergrund richtig wiedergäben. S. dazu auch Georg Otto Schmid, Berichte aus okkulten Organisationen: Phantasie oder Wirklichkeit? Kriterien zur Unterscheidung echter und erfundener Geschichten, www.relinfo.ch/satanismus/berichte.html.

8  Die „Spaltungsmagie“ in den „Magischen Briefen“ Gregor A. Gregorius’ (1888-1964), Begründer der satanistischen Loge „Fraternitas Saturni“, kann, so Fromm, auch als Anleitung zur Produktion dissoziativer Persönlichkeitsstrukturen interpretiert werden.

9  Siehe dazu Claudia Fliß / Claudia Igney (Hg.), Handbuch Trauma und Dissoziation, Lengerich 2008.

10  Dies habe eine Studie von Harald Merkelbach, Amsterdam, erwiesen.

11  Eine erste Tagung zum Thema mit dem Titel „Rituelle Gewalt – Spinnerei oder Realität“ hatte am 4.6.2008 in Münster stattgefunden.

12  Sie berief sich dabei auf einen Bericht von Nils Idermann.