Vom Tempel zur Moschee zum Tempel: Ayodhya und die indische Religionspolitik

Seit Amtsantritt der hindunationalistischen Regierung unter Premierminister Narendra Modi steht der Säkularismus in Indien zunehmend unter Beschuss. Sinnbildlich für den Wandel in der indischen Religionspolitik steht die aktuelle Debatte um die (Wieder)Errichtung eines umstrittenen Hindu-Tempels in Ayodhya. Alexander Benatar über einen Fall, der in Südasien zuletzt wieder hohe Wellen schlug.

Alexander Benatar
Silhouette einer Moschee in der Dämmerung

In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit im Jahr 1947 war die indische Politik geprägt vom „Nehruvian Consensus“, benannt nach Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister Indiens. Dieser ungeschriebenen Regel zufolge, die im Großen und Ganzen auch die Regierungszeit seiner Tochter Indira Gandhi sowie später ihres Sohnes Rajiv Gandhi bestimmte, war Indien ein sozialistischer, bündnisfreier und säkularer Staat. Die ersten beiden Säulen (Sozialismus, Bündnisfreiheit) fielen bereits mit der wirtschaftlichen Liberalisierung und dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre. Der indische Säkularismus hingegen wird erst durch die aktuelle Regierung Narendra Modis (Bharatiya Janata Party, BJP) ernsthaft infrage gestellt. Modi war Mitglied des paramilitärischen hindunationalistischen Freiwilligenkorps Rashtriya Svayamsevak Sangh (RSS). Und er spielte als Ministerpräsident seines westindischen Heimatbundesstaates Gujarat eine höchst problematische Rolle bei den blutigen Pogromen im Frühjahr 2002, in denen dort mehr als 1.000 indische Muslime getötet und weitere 150.000 vertrieben wurden. Die USA wie die EU verwehrten Modi daraufhin für mehr als ein Jahrzehnt die Einreise (s. MdEZW 5/2015). Mit entsprechender Sorge verfolgten daher gerade die knapp 200 Mio. indischen Muslime (gut 14 % der Gesamtbevölkerung) die Innenpolitik seit der Amtseinführung Narendra Modis im Mai 2014.

Zumal nach seiner Wiederwahl im letzten Jahr scheinen sich viele ihrer Befürchtungen zunehmend zu bewahrheiten. Im August 2019 entzog die indische Zentralregierung zunächst dem mehrheitlich muslimisch bevölkerten Bundesstaat Jammu & Kaschmir seine bis dahin weitreichenden und in der indischen Verfassung verankerten Autonomierechte. Im Dezember wurde dann eine Änderung des indischen Staatsangehörigkeitsrechts verabschiedet, wonach aus den südasiatischen Staaten Pakistan, Bangladesch und Afghanistan nach Indien fliehende Hindus, Sikhs, Buddhisten, Jains, Parsen und Christen einen erleichterten Zugang zur indischen Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Muslimische Flüchtlinge blieben von dieser Regelung ausdrücklich ausgenommen. Vor allem letztere Reform löste in den ersten Monaten dieses Jahres indienweit lautstarke Proteste aus. Im Zuge der zum Teil gewalttätigen Unruhen kamen in Delhi ab Ende Februar über 50 mehrheitlich muslimische Demonstranten ums Leben. Erst der Ausbruch der Coronapandemie, die Indien Mitte März hart traf, konnte die blutige Auseinandersetzung vorerst beenden.

Ein weiteres Element des gegenwärtig wieder aufflammenden Konflikts zwischen Hindus und Muslimen in Indien ist die inzwischen fast drei Jahrzehnte währende Kontroverse um die (Wieder)Errichtung eines hinduistischen Tempels in Ayodhya, einem Wallfahrtsort im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Einer im Hindumythos „Ramayana“ überlieferten Legende nach soll dort vor mehr als 900.000 Jahren der von vielen Hindus als Gott verehrte Rama, ein Avatar der Gottheit Vishnu, geboren worden sein. Inzwischen kaum mehr nachvollziehbar ist der von hinduistischer Seite erhobene Vorwurf, im 16. Jahrhundert hätte der muslimische Moghulherrscher Babur einen an Ramas Geburtsort errichteten Tempel gewaltsam niederreißen und dort stattdessen eine Moschee bauen lassen. Zweifelsfrei belegt ist demgegenüber die Tatsache, dass ein u.a. von Vertretern der hindunationalistischen BJP aufgewiegelter Mob von etwa 150.000 Menschen diese „Babri Moschee“ im Jahr 1992 gewaltsam stürmte und innerhalb weniger Stunden zerstörte. Die in den nächsten Monaten folgenden landesweiten Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslimen kosteten über 2.000 Menschen das Leben (s. MdEZW 3/1993). Im Folgejahr erwarb die indische Zentralregierung das Gelände. Seine religiöse Zugehörigkeit blieb umstritten.

Im Jahr 2010 sprach das Oberste Landesgericht von Uttar Pradesh das Grundstück zu zwei Dritteln Hindu-Organisationen und zu einem Drittel dem sunnitischen „Central Waqf Board“ zu. Unter Berufung auf archäologische Untersuchungen revidierte der Supreme Court of India, Oberstes Bundesgericht und zugleich Verfassungsgerichts Indiens, dieses Urteil nun im November 2019 in einer einstimmigen, aber anonymen Entscheidung – ein Novum in der indischen Rechtsgeschichte. Das Gelände wurde der indischen Zentralregierung zur treuhänderischen Verwaltung übergeben, um dort einen neuen Rama-Tempel zu errichten. Der prozessbeteiligte Waqf-Rat soll zum Ausgleich ein Grundstück in einem Dorf außerhalb von Ayodhya erhalten. Muslimische Proteste gegen dieses Urteil sowie Zweifel an der Unabhängigkeit des indischen Bundesgerichtshofs ließen nicht lange auf sich warten, blieben aber erfolglos. Anfang August legte der indische Premierminister Narendra Modi persönlich den Grundstein für den neuen „Ram-Janmabhumi-Tempel“. Ende September wurden 32 wegen der Zerstörung der Babri-Moschee angeklagte BJP-Politiker von einem Gericht in Uttar Pradesh freigesprochen. Der allen Protesten zum Trotz entstehende Tempel wird zwar vermutlich noch eine ganze Weile nationaler und internationaler Kritik ausgesetzt bleiben, er wird nun aber gebaut. Und der Nehruvian Consensus ist damit endgültig Geschichte.

Alexander Benatar

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Foto Dr. Alexander BenatarDr. phil. Alexander Benatar
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