Sind Kirchen in einer säkularen Gesellschaft überflüssig?

Für den 18. April wurde vom Bundespräsidialamt eine zentrale staatliche Gedenkfeier für die Corona-Toten ausgerufen. Zunächst schlossen die Planungen für die staatliche Gedenkfeier die Kirchen aus. Manche sahen darin einen weiteren Beleg für den Bedeutungsverlust der Kirchen, wenn Tod, Trauer und Sterben ohne religiöse Trost- und Hoffnungsrituale bedacht werden.

Michael Utsch

Am Ende des vergangenen Kirchenjahres, dem Ewigkeitssonntag im November 2020, haben Bischöfe der evangelischen und katholischen Kirche in Gottesdiensten an die Toten der Corona-Pandemie und die Trauer ihrer Angehörigen erinnert. War damals von 14.000 Verstorbenen die Rede, sind heute, drei Monate später, weit über 60.000 Tote in Deutschland zu beklagen. Für den 18. April wurde nun vom Bundespräsidialamt eine zentrale staatliche Gedenkfeier für die Corona-Toten ausgerufen. Genau an diesem Wochenende finden aber in Worms Jubiläumsveranstaltungen statt. Vor 500 Jahren verteidigte der ehemalige Augustinermönch Martin Luther dort seine reformatorischen Gedanken vor dem Reichstag. Zunächst schlossen die Planungen für die staatliche Gedenkfeier die Kirchen aus. Manche sahen darin nicht allein eine unglückliche Terminkollision, sondern einen weiteren Beleg für den Bedeutungsverlust der Kirchen, wenn Tod, Trauer und Sterben ohne religiöse Trost- und Hoffnungsrituale bedacht werden – „gegen Corona ist selbst Martin Luther machtlos“ (F.A.Z. vom 12.02.2021). 

Mehrere Feuilleton-Beiträge haben in den letzten Wochen die Rückständigkeit und Nutzlosigkeit der Kirchen angeprangert. Sie hätten nichts religiös Hilfreiches zur Bewältigung der Coronakrise beigetragen und seien deshalb faktisch überflüssig, meint der Gründungsdirektor und langjährige Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Gerhard Wegner, in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. am 14. Januar.  „Sind die Kirchen nicht mehr gefragt?“, räsoniert auch der Herausgeber vom Berliner „Tagesspiegel“ am 8. Februar. 

Ob die Kirchen tatsächlich zu wenig Trauer- und Bewältigungsangebote für die gegenwärtige Pandemie-Krise bereitstellen, wie ihnen vorgeworfen wird, ist Ansichtssache. Es gibt unendlich viele kreative Gesprächs-, Meditations- und Seelsorge-Angebote in den Landeskirchen. Nur ein Beispiel: Drei Pfarrerinnen eines Berliner Kirchenkreises haben eine interaktive Webseite ins Leben gerufen (https://spiritandsoul.org/), um Beziehungen in Zeiten sozialer Distanzierungspflicht zu pflegen oder neu zu knüpfen. Dafür muss die Hemmschwelle einer Kirchentür gar nicht überwunden werden.  

Soziologen weisen darauf hin, dass die Praxis des christlichen Glaubens vor allem zwei menschliche Grundbedürfnisse befriedigen kann, auf die unsere hochtechnisierte, säkulare Gesellschaft keine Antworten weiß: Wie können wir trotz unserer tief verwurzelten egoistischen und gewalttätigen Impulse harmonisch in Gemeinschaften zusammenleben? Und wie können wir unsere Endlichkeit, das ungerechte Leiden und den Schmerz aushalten, ohne zu verzweifeln? Hier bietet der christliche Glaube Sinndeutungen an, um bohrende existenzielle Fragen zu beantworten und Hoffnung und Vertrauen über den Tod hinaus zu stiften. 

Der Philosoph Jürgen Habermas schätzt die Religionen auch für „religiös Unmusikalische“ als wichtige Quelle der persönlichen Sinnstiftung ein. Er skizziert in seiner 2019 erschienenen Philosophiegeschichte fünf Bereiche, in denen ihm die Ergänzung der säkularen Vernunft durch einen religiösen Umgang mit der Lebenswirklichkeit als sinnvoll erscheint: Solidarität, Moral, Sprache, existentielle Antworten und Transzendenz. 

Religiöse Werte bilden eine zentrale Säule der Kultur und sind damit identitätsstiftend. Der Deutsche Kulturrat hat im Jahr 2017 Thesen zur kulturellen Integration einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft verabschiedet. Sie beschreiben, wie Religionen wichtige Beiträge zur kulturellen Integration leisten, indem sie etwa durch ihre Wertvorstellungen den Gemeinsinn stärken. Deshalb ist es klug, dass nun unmittelbar vor dem staatlichen Gedenkakt am 18. April ein ökumenischer Gottesdienst in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche anberaumt wurde, der live in der ARD übertragen wird. Damit erinnert sich die Regierung an ihre kulturellen Wurzeln und übergeht die zahlreichen und bewährten Möglichkeiten christlicher Trauerkultur und Angstbewältigung vor Tod und Sterben nicht.

Michael Utsch   

„Sind die Kirchen nicht mehr gefragt?“
https://www.tagesspiegel.de/politik/political-animal-sind-die-kirchen-nicht-gefragt/26895068.html

„Gegen Corona ist selbst Martin Luther machtlos“
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/gedenken-gegen-corona-ist-selbst-martin-luther-machtlos-17195042.html

Ansprechpartner

Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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10117 Berlin