(Selbst-)Kritik am „antimuslimischen Rassismus“. Die alevitische Jugend positioniert sich

In einem Ende 2021 erschienenen Positionspapier distanziert sich der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V. (BDAJ) vom Missbrauch des Phänomens des antimuslimischen Rassismus durch die islamischen Verbände. Er hält ihnen vor, sich unter Berufung auf das durchaus ernstzunehmende Phänomen gegen jegliche Kritik zu immunisieren.

Rüdiger Braun
Geballte Faust eines Mannes

„Antimuslimischen Rassismus ernst nehmen – Kritik an muslimischen Organisationen zulassen“ ist der Titel eines Positionspapiers, mit dem sich der Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e. V. (BDAJ) vom Missbrauch des Phänomens „antimuslimischer Rassismus“ durch politische Islamverbände distanziert. In der Kritik stehen dabei insbesondere der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und der Islamrat (IR), deren Berufung in die Projektkommission „Forum Muslime und Christen“ zum Ökumenischen Kirchentag 2021 den BDAJ seinerzeit dazu bewogen hat, die eigene Beteiligung daran aufzukündigen (vgl. ZRW 1/2021, 46 – 50). Die von diesen Verbänden teilweise vertretene nationalistisch-identitäre oder fundamentalistische Abgrenzung stelle, so der BDAJ, eine Gefahr für Aleviten und andere Minderheiten in Deutschland dar. Kritisch gegen die Islamverbände gerichtet sind auch die Beiträge namhafter Autoren wie Mouhanad Khorchide (Universität Münster) oder Lale Akgün (SPD), die der BDAJ für das Positionspapier gewinnen konnte.

Akgün führt die in den letzten 30 Jahren zu beobachtende „wundersame Wandlung“ und „erstaunliche Transformation“ türkischer Mitbürger zu „Muslimen“ auf den – so auch der Titel ihres Beitrags – „Einfluss der großen Islamverbände“ zurück, die „der Mehrheitsgesellschaft das eigene Weltbild als den ‚wahren Islam‘ aufoktroyiert“ und damit in Deutschland eine Form von Islam normiert haben, in dem „der Koran und das Vorbild des Propheten alles [bestimmen]: das private, das gesellschaftliche und das politische Leben“ (BDAJ 2021, 5). Im Vorstoß der Bundesregierung, die vier großen Verbände zu einem Zusammenschluss im Koordinationsrat der Muslime (KRM, 2007) zu bewegen, sieht Akgün „eine Parteinahme für den konservativen Islam“ (ebd., 10) und empfiehlt der Regierung, ihre „religionsfreundliche Politik … allen islamischen Richtungen gleichermaßen zugutekommen“ zu lassen (ebd., 11).

„Keine Aufklärung ohne (Selbst)kritik“, mahnt Mouhanad Khorchide in seinem gleichnamigen Beitrag und zeigt sich „höchst irritier[t]“ über die Unterstützung, die islamistischen und reaktionären Kräften unter dem Label „Solidarität mit den bei uns benachteiligten Muslimen“ (ebd., 17) durch Politiker, Kirchenvertreter, Intellektuelle, Journalisten, Universitätsprofessoren und weitere Akteure der Zivilgesellschaft zuteilwird. Efsun Kızılay fragt sich, wie es sein könne, „dass insbesondere bei den Themen antirassistische Arbeit, Flucht / Asyl und interreligiöser Dialog … immer mehr zivilgesellschaftliche Organisationen unterschiedlichster Couleur, auch linke / progressive Bündnisse, Kooperationen mit islamistischen Organisationen eingehen“ (ebd., 21). Solange der ZMD Verbände wie die aus den rechtsextremen Grauen Wölfen hervorgegangene und z. T. islamistisch-nationalistische Positionen vertretende ATİB (Avrupa Türk-İslam Birliği – Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e. V.) in den eigenen Strukturen dulde, „disqualifiziert er sich als möglicher Bündnispartner“ (ebd., 22). Ähnliches gilt für die DİTİB als Ableger der türkischen Religionsbehörde Diyanet, die in Deutschland Rechte beansprucht, die sie, so bezeuge es der „breite Erfahrungsschatz“ alevitischer, yezidischer, armenischer und assyrischer Minderheitenverbände, „den dortigen [in der Türkei lebenden, R. B.] Minderheiten nicht zusprechen würden“ (ebd., 24). Dieselben Akteure würden sich, so Khorchide, mit Begriffen wie „antimuslimischer Rassismus“ oder „Islamophobie“ gegen jegliche Kritik immunisieren und so „suggerieren, dass jegliche, auch berechtigte Kritik eine Form der Diskriminierung sei“ (ebd., 16). Wirklich diskriminierend sei aber etwas anderes: „Die meist gut gemeinte Assoziation der Muslim*innen als Opferkollektiv“ (ebd., 17). Sie befördere ein Opfernarrativ, das in jeder Kritik „antimuslimischen Rassismus“ oder „Islamophobie“ erkennt und schon den Begriff des politischen Islam für denunziatorisch hält.

Das Positionspapier des BDAJ will damit das Faktum einer in Deutschland weit verbreiteten Islam- und Muslimfeindlichkeit nicht infrage stellen. Selbst wer nicht so weit gehen will wie Wolfgang Benz, dem zufolge 18 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland … täglich Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung [erfahren]“, Muslime einfach nur deshalb „gehasst“ werden, „weil sie Muslime sind“, und „die erforderlichen negativen Eigenschaften … erfunden [werden], um die [muslimische, R. B.] Minderheit ausgrenzen zu können“ (Benz 2018, 17 und 63): Niemand wird bezweifeln wollen, dass Muslime in der Gesellschaft (wenn auch nicht nur sie) schmerzhafte Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung machen und unter Stereotypen zum Islam leiden. Umfragen zufolge stimmen rund 60 % der Deutschen der Äußerung zu, der Islam passe nicht in die westliche Welt, und 52 % empfinden den Islam als Bedrohung (Hafez / Schmidt 2015; Pickel 2019). Umstritten ist allerdings, ob Begriffe wie „antimuslimischer Rassismus“ und „Islamophobie“ einer Aufarbeitung und Bekämpfung von Islam- oder Muslimfeindlichkeit in Deutschland langfristig dienlich sind.

Anders als das vornehmlich auf die persönliche Ebene fokussierende Konzept einer „Islamophobie“ geht das Konzept des „antimuslimischen Rassismus“ von der Annahme einer durch gesellschaftliche Machtverhältnisse nochmals beförderten strukturellen Diskriminierung von Menschen aus: Ganz unabhängig von ihrer tatsächlichen Zugehörigkeit und ihren individuellen Einstellungen zum Islam und allein aufgrund vermeintlich unveränderlicher kulturell-religiöser Eigenschaften würden Menschen, so die Vertreter des Konzepts, als Angehörige einer kulturell, ethnisch und religiös homogenisierten „fremden“ Gruppe bzw. als „Muslime“ markiert und ausgegrenzt. Im Gegenüber zum mittlerweile tabuisierten biologistischen Rassismus nutze der „antimuslimische Rassismus“ anstelle der Konstruktion „Rasse“ die Konstruktion der als Quasi-Rasse verstandenen „Religion“ und stelle die Religionszugehörigkeit in den Mittelpunkt „stereotypisierender, abwertender und ausgrenzender Narrative“ (Spielhaus 2021, 85). Die damit einhergehende „Muslimisierung“ von Migranten oder „Islamisierung“ der Debatte wird in der Wissenschaft auch „als Reaktion auf die Bewusstwerdung der Permanenz islamischen Lebens in Europa“ (ebd., 86) beschrieben.

Der BDAJ plädiert dafür, das mit dem Begriff „antimuslimischer Rassismus“ umschriebene Phänomen ernst zu nehmen und zugleich einer missbräuchlichen Instrumentalisierung antirassistischer, der Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus dienender Initiativen durch muslimische Verbände entgegenzutreten. Nicht alles, was sich „antirassistisch“ nennt, ist zugleich der Unterstützung durch öffentliche Fördergelder würdig, zu deren Beantragung insbesondere die Parallelisierung von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus strategisch erfolgversprechend zu sein scheint: So ruft die vom BMFSFJ und von der EU geförderte „Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit“ (CLAIM) mit ihren Hashtags („Heute wieder“) ausdrücklich Bezüge zur Verfolgung von Juden in der NS-Zeit und zu Muslimen als „neuen Juden“ auf.

Sahen sich alevitische Jugendliche in Deutschland aufgrund ihrer von einem Kollektivtrauma (Massaker von Dersim 1938 und Sivas 1993) geprägten Erinnerungskultur in der Vergangenheit noch „zu einer Selbstzensur zum eigenen Schutz“ (BDAJ 2021, 41) veranlasst, gehen sie jetzt in die Offensive und formulieren ganz konkrete Forderungen: Zu diesen gehören, um hier nur die wichtigsten zu nennen, „ein strukturiertes Konzept im Umgang mit türkischem Rechtsextremismus in Deutschland“ (ebd., 42), eine „sensibilisierte Sichtbarmachung des Alevitentums“ (ebd.) und schließlich die (zweifelsohne Konfliktpotenzial beinhaltende) Forderung an die Politik, die Anerkennung von Jugendverbänden, die transnationale Verbindungen mit z. T. reaktionären Organisationen (wie z. B. der Muslimbruderschaft) pflegen, als freie Träger der Jugendhilfe gemäß § 75 SGB VIII zu prüfen bzw. zu überdenken. Genannt werden die DİTİB-Jugend (Bund der muslimischen Jugend, BDMJ), die Muslimische Jugend in Deutschland (MJD), das Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO), der Islamische Jugendbund, die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) und Young Schura, die Jugend der schiitischen IGS und die Jugendgruppen aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung und der Grauen Wölfe (vgl. ebd., 45).

Der kalte religionskritische Wind, der den Großkirchen in Deutschland seit geraumer Zeit entgegenbläst, dürfte bald auch, so lässt sich das Positionspapier des BDAJ deuten, den großen muslimischen Verbänden und ihren Jugendabteilungen entgegenwehen. Die Gruppe derjenigen, die sich als „muslimisiert“, „markiert“ oder „marginalisiert“ erfahren, geht weit über die Angehörigen des sunnitischen Mainstream-Islam hinaus und dürfte in naher und fernerer Zukunft noch für kontroverse Debatten und Konflikte um Deutungshoheiten sorgen. Dem Diskurs um den in Deutschland beheimateten zutiefst fragmentierten und sich fortwährend ausdifferenzierenden Islam dürfte diese Entwicklung nicht abträglich sein.

Rüdiger Braun


Quellen

BDAJ (Bund der Alevitischen Jugend in Deutschland) (12/2021): Antimuslimischen Rassismus ernst nehmen. Kritik an muslimischen Organisationen zulassen, Köln, https://tinyurl.com/2p872zut.

Benz, Wolfgang (2019): Alltagsrassismus. Feindschaft gegen „Fremde“ und „Andere“, Frankfurt a. M.

Hafez, Kai / Schmidt, Sabrina (2015): Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor – verstehen was verbindet, Gütersloh.

Pickel, Gert (2019): Weltanschauliche Vielfalt und Demokratie. Wie sich religiöse Vielfalt auf die politische Kultur auswirkt, Gütersloh.

Spielhaus, Riem (2021): „Antimuslimischer Rassismus“, in: Fereidooni, Karim / Hößl, Stefan E. (Hg.): Rassismuskritische Bildungsarbeit: Reflexionen zu Theorie und Praxis, Frankfurt a. M.

Ansprechpartner

Foto Dr. Rüdiger BraunPD Dr. theol. Rüdiger Braun
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
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