Schweizer Gericht erlaubt grundlegende Kritik an Jehovas Zeugen

In einem nunmehr rechtskräftigen Urteil hat das Bezirksgericht Zürich grundlegende Kritik an Jehovas Zeugen erlaubt. Michael Utsch über eine wegweisende Entscheidung und ihre möglichen Auswirkungen auf den Umgang mit Jehovas Zeugen auch in Deutschland.

Michael Utsch
Statue der Justitia mit Schwert und Waage in den Händen

Die Züricher Religionsexpertin Dr. Regina Spiess, eine ehemalige Mitarbeiterin der Fachstelle „Infosekta“, hat immer wieder auf Machtmissbrauch innerhalb dieser Religionsgemeinschaft hingewiesen. Wegen eines Zeitungsinterviews und eines Berichts im Jahr 2015 war sie wegen übler Nachrede von der Schweizer Vereinigung der Zeugen Jehovas angeklagt worden. Anhand von umfangreichem Beweismaterial prüfte das Züricher Bezirksgericht die massiven Vorwürfe der Psychologin und gab ihr in einem Urteil vom 9.07.2019 in allen Punkten Recht (Geschäfts-Nr. GG 180259-L/U). Zunächst hatten Jehovas Zeugen Schweiz Berufung angekündigt, dann aber die Frist verstreichen lassen. Damit ist das Urteil seit Februar 2020 rechtskräftig. Der Expertin wurde eine stattliche Prozess-Entschädigung von 20.500 Franken für Anwaltskosten sowie zusätzlich eine persönliche „Umtriebs-Entschädigung“ von 4.000 Franken aus der Gerichtskasse zugesprochen.

Laut diesem Gerichtsentscheid darf behauptet werden, dass Jehovas Zeugen gegen elementare Rechte der Mitglieder und ihrer Angehörigen verstoßen. Als Beispiel wird in dem Urteil die sogenannte "Zwei-Zeugen-Regelung" genannt, die besagt, dass einem Verdacht auf eine Sexualstraftat innerhalb der Gemeinschaft nur dann nachgegangen werden darf, wenn es dafür mindestens zwei Zeugen gibt. Das Gericht hält nach Sichtung der Beweise fest, dass die Zwei-Zeugen-Regelung existiert und schriftlich immer noch verankert ist. 

Neben der Zwei-Zeugen-Regel und dem lebensgefährlichen Verbot von Bluttransfusionen gingen die Richter auch auf die soziale Ächtung von ehemaligen Mitgliedern ein. Diese Praxis sei durch Hunderte von Betroffenenberichten genügend dokumentiert, steht in dem wegweisenden Urteil. Das Gericht kommt zum Schluss, ein solches Verhalten könne durchaus als Mobbing, also als die Verletzung der persönlichen Integrität eines Menschen verstanden werden. Wie bedrückend das Klima einer Kindheit bei Jehovas Zeugen sein kann, hat Stefanie de Velasco literarisch in ihrem neuen Roman „Kein Teil dieser Welt“ (Köln 2019) verarbeitet. 

Das Urteil ist nicht nur für die kritische Aufklärung in der Weltanschauungsarbeit von Bedeutung. Es könnte auch dazu führen, dass die Körperschaftsanerkennung von Jehovas Zeugen in Deutschland und Österreich neu geprüft wird. Wie kann ein Staat ein Religionsrecht billigen, in dem von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Frauen durch die Zwei-Zeugen-Regel zum Schweigen gebracht werden? Ist es hinzunehmen, dass Menschen durch das rigorose Verbot einer Bluttransfusion in Lebensgefahr geraten und sterben? Und werden nicht Familien zerstört, wenn Eltern aufgefordert werden, ihre andersglaubenden Kinder zu ächten?

Michael Utsch

Opferhilfe für ehemalige Zeugen Jehovas

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Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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