Neuer Streit um selbstbestimmtes Sterben

In einem umstrittenen Urteil hat das deutsche Bundesverfassungsgericht Ende Februar 2020 ärztliche Suizidbeihilfe erlaubt. Durch dieses Grundsatzurteil wurde das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung revidiert. Michael Utsch ordnet die daraufhin entbrannte Debatte ein.

Michael Utsch
Frau, hochbetagt und gebrechlich, sitzt auf einem Bett, davor eine dunkel gekleidete Person

In einem umstrittenen Urteil hat das deutsche Bundesverfassungsgericht Ende Februar 2020 ärztliche Suizidbeihilfe erlaubt. Durch dieses Grundsatzurteil wurde das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung revidiert. In den Erläuterungen wurde ausgeführt, dass die freie Selbstbestimmung des Menschen durch das Grundgesetz geschützt sei und die persönliche Autonomie auch am Lebensende nicht eingeschränkt werden dürfe. Unmittelbar nach dem Urteil warnte die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin vor der Gefahr einer Ausbreitung kommerzieller Sterbehilfeorganisationen. Im Wunsch zu Sterben drücke sich nämlich oftmals das Anliegen aus, über das Leiden unter einer unerträglichen Situation und die persönliche Hoffnungslosigkeit zu sprechen und nicht primär eine Todessehnsucht. Ein vertrauensvoller Gesprächsprozess über den Sterbewunsch in all seiner Ambivalenz sorge für Entlastung und eröffne nach Erfahrung der Palliativmedizin fast immer auch Perspektiven zur Linderung der belastenden Symptome und Nöte.

In einer gemeinsamen Erklärung des Vorsitzenden des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz wurde ebenfalls die Sorge ausgedrückt, nach dieser neuen Rechtslage könnten organisierte Angebote der Selbsttötung zur akzeptierten Normalität werden. Der Marburger Systematiker Dietrich Korsch hat sich in einem Zeitschriften-Beitrag vehement gegen das Urteil ausgesprochen, weil es dem christlichen Menschenbild widerspreche (https://zeitzeichen.net/node/8191). Dagegen werben die Theologin Isolde Karle und der Jurist Jacob Joussen von der Universität Bochum für eine abgewogene Sicht und plädieren dafür, das Gewissen des einzelnen zu stärken: „In den Grenzfällen des Lebens ist zweifellose Gewissheit fehl am Platz“ (https://zeitzeichen.net/node/8325). 
 
Das hoch emotional besetzte Thema verweist einmal mehr auf die Herausforderung, in einer pluralistischen Gesellschaft den unterschiedlichsten Wertvorstellungen Raum zu gewähren, ohne sich gegenseitig abzuwerten. Die neue Regelung zum assistierten Suizid versucht, sowohl die Menschenwürde also auch das Selbstbestimmungsrecht gleichrangig zu berücksichtigen. Das Bundesgesundheitsministerium bereitet nun eine gesetzliche Neuregelung vor und will ein „legislatives Schutzkonzept“ entwickeln. Wesentlicher Bestandteil für diesen schweren Entscheidungsprozess ist die Pflicht zu einer qualifizierten Beratung. Der Humanistische Verband Deutschlands, der bisher für mehr Freiheiten beim assistierten Suizid eingetreten ist, hat sofort einen Vorschlag zum assistierten Suizid und zur Suizidprävention gemacht. Die im Regelungsvorschlag enthaltene Suizidpräventionsberatung des Verbandes soll Sterbewilligen darin unterstützen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung im Rahmen ihrer Entscheidungsautonomie zu treffen. Eine Verpflichtung zur Suizidhilfe wird vom Verband ausgeschlossen. Dem Regelungsvorschlag ist das Bemühen anzumerken, die Gefahren unsachgemäßer Anwendung zu minimieren und einen Missbrauch auszuschließen.  

Die praktische Umsetzung der neuen Rechtslage erfordert ein hohes Maß an ethischer Integrität und Kompetenz. Es ist zu wünschen, dass in den verpflichtenden Beratungsangeboten ihre weltanschaulichen Grundlagen transparent gemacht werden. 

Michael Utsch

HVD-Gesetzentwurf zum assistierten Suizid und zur Suizidprävention

Ansprechpartner

Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin