Nach dem Amoklauf in Hamburg: Keine Diskriminierung einer religiösen Minderheit!

In einem ökumenischen Gottesdienst in der Hamburger Hauptkirche St. Petri wurde gestern der Opfer des Amoklaufs in einer Versammlung von Jehovas Zeugen am 9. März gedacht. Michael Utsch betont, dass gegenwärtig vor allem Mitgefühl angebracht ist.

Michael Utsch

Am 9. März drang ein 35-jähriger Mann, ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas, am Ende eines Abendgottesdienstes in ein Hamburger Gebäude der Religionsgemeinschaft ein und tötete wahllos sechs Gläubige und ein ungeborenes Kind, bevor er sich selbst erschoss. Dank des schnellen Eingreifens der Polizei konnten ca. 30 weitere Anwesende, teilweise verletzt, überleben. Die Motive für diese schreckliche Tat sind unbekannt. Aus Berichten Nahestehender und einem kurz zuvor veröffentlichten Buch des Täters ergibt sich der Eindruck eines vermutlich psychisch kranken Menschen. Etwa anderthalb Jahre nach seiner Taufe bei Jehovas Zeugen hatte er die Gruppe vor kurzem wieder verlassen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt.

Im Vergleich zu anderen Amokläufen in der jüngeren deutschen Vergangenheit verläuft die öffentliche Trauer verhalten. Das Mitgefühl für die Opfer wurde teilweise überdeckt von Vorbehalten gegenüber dieser für Gewaltfreiheit und Pazifismus eintretenden Glaubensgemeinschaft mit exklusivem Heilsanspruch. Auch die Ablehnung von Jehovas Zeugen, sich an der großen öffentlichen christlich-ökumenischen Trauerveranstaltung in der Hamburger Hauptkirche St. Petri zu beteiligen, stieß bei manchen Menschen auf Unverständnis. In der medialen Berichterstattung war schnell von einer gefährlichen „Sekte“ die Rede, die Konflikte hervorrufe und in der eine Zugehörigkeit im Extremfall in einem Gewaltausbruch enden könne. Es wurde die Frage gestellt, ob die Tat mit der Lehre der Religionsgemeinschaft in Verbindung stehen könnte. Mit einem Wort: Die öffentliche Debatte war von Vorurteilen gegenüber der „Sekte“ geprägt.

Jehovas Zeugen sind immer wieder öffentlichen Diskriminierungen ausgesetzt. In Russland wurde die Religionsgemeinschaft 2017 verboten. Hunderte Zeugen Jehovas wurden in Untersuchungshaft genommen oder aufgrund von Extremismusvorwürfen zu Freiheitsstrafen verurteilt; aktuell befinden sich dort noch über einhundert Zeugen Jehovas in Haft. Im Nationalsozialismus wurden Jehovas Zeugen verfolgt. Sie gehörten zu den ersten Opfern des NS-Regimes, über tausend Mitglieder wurden getötet. Obwohl die Religionsgemeinschaft in Deutschland seit vielen Jahren als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist, hat das an ihrem schlechten Ruf nichts geändert. Unsere demokratische Verfassung stellt die Religionsfreiheit unter besonderen Schutz. Dazu zählt auch das Recht, einer kleinen, exklusiven Religionsgemeinschaft wie Jehovas Zeugen anzugehören. Natürlich erlaubt das Recht auf freie Meinungsäußerung, wo nötig Kritik an fundamentalistischen Gruppenstrukturen zu äußern. Vor allem aber sind Zeugen Jehovas Mitmenschen, die in dieser schweren Zeit unser Mitgefühl verdienen.
 

Michael Utsch

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Foto Dr. Michael UtschProf. Dr. phil. Michael Utsch
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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