06.05.2024

Islam und Politik

Eine neue Forschungsstelle wirft interdisziplinäre Perspektiven auf die Dynamiken des Islam.

Rüdiger Braun

Angegliedert an das Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster und in Kooperation mit dem universitären Exzellenzcluster „Religion und Politik“ erforscht die neue interdisziplinäre Forschungsstelle „Islam und Politik“ das Verhältnis von Islam und Muslimen zur Politik in und außerhalb Europas.1 Der zentrale Fokus der von Mouhanad Khorchide (ZIT) geleiteten Forschungsstelle liegt dabei auf Formen muslimischer Gestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik innerhalb und außerhalb der Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates (parteipolitisches und ehrenamtliches Engagement vs. Islamismus, Radikalisierung und deren Prävention). Das gesellschaftliche, auf als islamisch angesehenen Werten und Normen basierende Engagement von Muslimen soll in einer interdisziplinären Zusammenführung eines theologischen, historischen, sozialwissenschaftlich-theoretischen und sozialwissenschaftlich-empirischen Zugangs in den Blick genommen werden.

Bausteine auf dem Weg zu einer eigenständigen islamischen Fakultät

Wie Khorchide in der am 17. April 2024 im Schloss zu Münster ausgerichteten Eröffnungsveranstaltung zum Hintergrund der neu eingerichteten Forschungsstelle (FS) ausführte, war es der Wunsch sowohl des Bundesministeriums des Inneren (BMI) als auch des ZIT, das zunächst in einem vom BMI eingerichteten Expertenkreis andiskutierte Thema „Politischer Islamismus“ aus der sicherheitspolitischen Dimension und Debattenlage herauszuführen und in Kooperation mit dem bereits mit Fragen von „Religion und Politik“ befassten Exzellenzcluster der Universität Münster in einem unterschiedliche akademische Disziplinen zusammenführenden Rahmen theoretisch und empirisch zu erforschen. Zusammen mit zwei weiteren, im Sommer 2024 zu eröffnenden Forschungsstellen des ZIT, die thematisch zum einen auf „Kritische Männlichkeitsforschung und antipatriarchale Ansätze in den Religionen“, zum anderen auf „Religion, Ästhetik und neue religionspädagogische Entwürfe in der islamischen Theologie“ fokussieren, bildet die FS „Islam und Politik“ einen zentralen Baustein in der Entwicklung hin zu einer eigenständigen islamischen Fakultät. Geplant ist, das im Jahr 2010 mit 3 Mitarbeitenden und 13 Studierenden eröffnete ZIT, das aktuell mit 70 Mitarbeitenden über 800 Studierende betreut, bis Ende 2025 zur ersten islamischen Fakultät in Deutschland auszubauen.

In der zur Eröffnung der Forschungsstelle organisierten Podiumsdiskussion traten die stellvertretende Leiterin der FS, die Religionspsychologin Sarah Demmrich und die am ZIT forschende Politikwissenschaftlerin Evelyn Bokler-Völkel mit Vertretern aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft in ein das Thema der neuen FS umkreisendes Gespräch. Eingeladen waren neben dem römisch-katholischen Theologen und Islamwissenschaftler Felix Körner (HU Berlin) und der Politologin Elham Manea (Washington, Zürich, Kuwait) Alexander Weißenburger von der „Dokumentationsstelle politischer Islam“ (DPI)2 in Wien sowie Engin Karahan, langjähriges Mitglied der Deutschen Islam Konferenz (DIK) und Beiratsmitglied der Alhambra-Gesellschaft e.V.3

Aufeinander verwiesene Räume – Religion als Weltgestaltung und die Politik

Mit einem Zitat von Gandhi, demzufolge „diejenigen, die sagen, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht wirklich wissen, was Religion bedeutet“, eröffnete Körner die Statements zum Thema und gab dabei unmissverständlich seine Abneigung gegenüber dem einen Verdachtsmoment gegen den Islam mitimplizierenden Begriff des „Politischen Islam“ zum Ausdruck. Mit Verweis auf eine eigene Publikation zum Thema (Politische Religion. Theologie der Weltgestaltung, 2020) unterstrich er den Weltgestaltungsanspruch von Religion und das selbstverständliche Recht religiöser Menschen zur Mitgestaltung von Politik und Gesellschaft. Muslime sollten „die ihnen aufgetragene Verantwortung für die Welt auch geltend machen“ und explizit auch „Impulse für staatliches Handeln geben“ dürfen. Problematisch sei ein solcher Anspruch auf Mitgestaltung erst dann, wenn der Unterschied zwischen dem staatlichen Gewaltmonopol und der Religion nicht mehr gesehen würde. Staat und Religion seien zwar „verschieden, aber nicht getrennt“.

Das unhintergehbare Politische und die muslimische Selbstreflexion

Auch Elham Manea wollte den Islam als Weltreligion explizit vom Islamismus als politischer Ideologie unterschieden wissen, betonte aber stärker als ihr christlicher Kollege, dass der Anspruch einer religiösen Ideologie auf die (Um)Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung nicht mit dem Hinweis auf das religiöse Moment verharmlost werden dürfe. Ausgehend von der Grundannahme, dass es „den unpolitischen Menschen an sich“ nicht gebe, sondern jede im Sozialen vollzogene Handlung immer auch politische Konsequenzen habe, bestehe die grundlegende Frage zum Thema „Islam und Politik“ vielmehr darin, welche Konsequenzen bestimmte Einstellungen im Hier und Jetzt des gesellschaftlichen Zusammenlebens haben. Religion könne, wie sich besonders anschaulich am Beispiel Saudi-Arabiens aufzeigen lässt, immer auch machtpolitisch instrumentalisiert werden. Die Verantwortung der Muslime sah Manea dabei darin, innermuslimische Binnendiskurse auch nach außen hin sichtbar zu machen und sich dabei nicht zu scheuen, „sich eine Blöße zu geben“: Es werde unentwegt vom antimuslimischen Rassismus gesprochen, kritische Themen aber wie der innermuslimische Rassismus (gegenüber Schwarzen, Nichtarabern usw.) sowie der muslimische Antisemitismus (besser: Antijudaismus) ausgeblendet. Nicht alles am Islam Beanstandete sei, so Manea, ein Import aus der europäischen Welt, wie Muslime gerne behaupten. Es habe eben auch „eine Theologisierung und Renationalisierung in die jeweiligen Kontexte“ stattgefunden, die mit einer essentialisierenden Interpretation einschlägiger, auf Abgrenzung zielender Koranverse einhergeht und unübersehbar gesamtgesellschaftliche Konsequenzen hat. Demgegenüber gelte es, so Manea, im koranischen Diskurs hermeneutisch zwischen unterschiedlichen Ebenen der Argumentation gegenüber den Juden zu unterscheiden und nach den Beweggründen zu fragen, warum Islamisten nur auf die eine explizit judenfeindliche (nach Maneas Klassifikation die „dritte“) Ebene des Diskurses rekurrieren.

„Politischer Islam“ als heuristischer Index zur Erfassung einer spezifischen Herrschaftsideologie

Alexander Weissenburger, ein am Institut für Sozialanthropologie an der österreichischen Akademie der Wissenschaften assoziierter und an der Dokumentationsstelle politischer Islam (DPI) in Wien tätiger Wissenschaftler, sah sich angesichts von Körners Kritik am Begriff „Politischer Islam“ in seinem Statement zu einer Verteidigung desselben aufgefordert. Das mit Carl Ludwig von Hallers (1768-1854) Werk Politische Religion oder biblische Lehre über die Staaten (Winterthur 1811) bis ins 19. Jahrhundert zurückgehende Konzept der „Politischen Religion“ habe bereits mit Eric Voegelins (1901-1985) Studie über Die politischen Religionen (Wien/Stockholm 1939) eine politikwissenschaftlich wirkmächtige Systematisierung erfahren und sei mittlerweile ein weit etablierter Anknüpfungspunkt auch für die Debatte um eine spezifisch islamisch legitimierte Herrschaft von Religion im Bereich des Politischen. Ähnlich wie der ebenfalls umstrittene Begriff des „Islamismus“ gehöre der Begriff des „Politischen Islam“, mit Walter Bryce Gallie gesprochen, zu den „essentially contested concepts“, die sich zwar einer genauen Definition entziehen, im wissenschaftlichen Kontext gleichwohl einen disziplinübergreifend verständlichen Index der Forschung markieren. Der „Zwickmühle“, auf niemals hundertprozentig passgenaue Begriffe zurückgreifen zu müssen, könne auch die Wissenschaft nicht entkommen. Gleichwohl bemüht sich die Dokumentationsstelle in Wien, bei der Erforschung des sogenannten „politischen Islam“ so deskriptiv und analytisch wie nur möglich vorzugehen und sich präskriptiver oder normativer Urteile zu enthalten. Ihr gehe es um nicht mehr, aber auch nicht weniger als um eine möglichst nüchterne Erfassung einer wohlgemerkt spezifischen und damit nicht für den Islam als Ganzes stehenden Ausprägung von Religion, die sich aufgrund ihrer Herrschaftsideologie in einem Konflikt mit der Demokratie und der liberalen Ordnung befindet.

Die islamische Welt und die zivilgesellschaftliche Herausforderung

Der kurzfristig für den ursprünglich angekündigten Erin Güvercin eingesprungene Publizist Engin Karahan ist neben seiner Tätigkeit als Beiratsmitglied der Alhambra-Gesellschaft e.V. auch Projektleiter des Bildungsvereins Mosaik e.V.4 und überraschte in seinem Statement zum Thema mit dem kritischen Verweis auf das Fehlen zivilgesellschaftlicher Dynamiken im muslimischen Raum. Dieser habe von der Umayyaden- und Abbasidenzeit (7.-13. Jahrhundert) bis zum Ende des Osmanischen Reiches Anfang des 20. Jahrhunderts jenseits der Unterwerfung entweder unter die nominelle Herrschaft des Kalifen (bzw. historisch unter die der zahlreichen Emire) oder die der muslimischen Gelehrsamkeit kein Drittes gekannt, in dem sich jenseits staatlicher und religiöser Herrschaft ein bürgerschaftliches Engagement hätte entwickeln können. Auch zeitgenössisch noch hadern, so Karahan, die sich in den 1970er und 1980er Jahren etablierenden islamischen Verbände in Deutschland (DITIB, VIKZ, IGMG usw.) mit ihrer Rolle und ihrer Funktion als zivilgesellschaftlicher Akteure, lassen klare Positionierungen und Wortmeldungen zu aktuellen politischen Herausforderungen vermissen und überlassen schließlich „das Vakuum auf der Straße“ den Radikalen wie zum Beispiel der (in Deutschland seit 2003 mit einem Betätigungsverbot belegten, gleichwohl höchst aktiven und unentwegt neue Sympathisanten rekrutierenden) Ḥizb at-taḥrīr (wörtl. „Partei der Befreiung [vom Joch westlicher bzw. unislamischer Herrschaft, RB]“.

Theologische Legitimationen zivilgesellschaftlicher Partizipation

Durchaus auch als ein „Kontrapunkt zum politischen Islam“ wurde, so Karahan, 2017 die Alhambra-Gesellschaft e.V. gegründet, als deren Beiratsmitglied er selbst, zusammen mit vielen anderen, in unterschiedlichen Projekten den Dialog zwischen der muslimischen und nichtmuslimischen Zivilgesellschaft zu befördern sucht. Weil sich die dringend notwendige Sozialarbeit unter Muslimen zusammen mit den muslimischen Verbänden nur schwierig umsetzen lässt, formieren sich gegenwärtig immer mehr junge Muslime zu Initiativen, die jenseits der Verbandsstrukturen eine Form von muslimischer Diakonie zu etablieren suchen. Nicht wenige greifen in ihrem gesellschaftlichen Engagement als fromme Muslime auf rationalistische Strömungen innerhalb des Islam zurück, die in ihrer Herausstellung des kreativen Geistes des in einer „direkten unvermittelten Beziehung zu Gott“ stehenden und zugleich freien Menschen die zivilgesellschaftliche Partizipation von Muslimen in der nichtmuslimischen säkularen Gesellschaft auch theologisch legitimieren. Im Gegensatz zur islamistischen Praxis, andere Muslime zu „Ungläubigen“ zu erklären (sogenannter takfīr), sei Karahan zufolge die šahāda (wörtl. „Glaubensbezeugung“) „ein völlig ausreichendes Kriterium für das Muslimsein“: „Solange wir uns [beim Gebet Richtung Mekka, die sogenannte qibla, RB] gemeinsam verneigen, sind alle theologischen Ansichten irrelevant“: Ein gemeinsunnitisches Konzept, das in der Moderne leider, so Karahan, verlustig gegangen sei und das es mit Hilfe auch der Münsteraner Forschungsstelle „Islam und Politik“ wieder neu zu entdecken gelte.

Jenseits der akademischen Theologie – Selbst ist der Muslim/die Muslima!

Doch „vielleicht“, so schließt Karahan seine Gedanken zum Thema, „erwarten wir von der islamischen Theologie zu viel“, wenn wir ihr und ihren Akteuren die Transformation des Islam in die Moderne auferlegen. Es sind die Muslime selbst, welche die in der pluralen Gesellschaft zur Verfügung stehenden Reflexionsräume nutzen, anstehende Herausforderungen und Fragen aufgreifen und aus muslimischer Perspektive konstruktiv-kritisch dazu Stellung beziehen müssen. Karahan selbst und seine Mitstreiter in der Alhambra-Gesellschaft habe die wiederholte Erfahrung mit rhetorisch und inhaltlich enttäuschenden Predigten in muslimischen Moscheen dazu veranlasst, eigene Texte zu verfassen, in denen sie lebensweltliche Themen ansprechen und in gutem Deutsch in Predigtform aufs Papier bringen. Die seither auf die eigene Website gestellten Texte5 stoßen auf eine beachtliche Nachfrage und wurden bereits vieltausendmal von Lehrpersonen und Studierenden der islamischen Theologie heruntergeladen. Es sind, neben den Tendenzen zur Radikalisierung des islamischen Feldes eben und gerade auch diese zivilgesellschaftlichen Dynamiken muslimischen Lebens in Europa und weltweit, welche die FS theoretisch und empirisch in den Blick zu nehmen gedenkt. Jenseits der mit Spannung zu erwartenden Forschungsbefunde dürfte schon jetzt eines sicher sein: Wie das ZIT selbst dürfte sich auch die ihm zugehörige FS „Islam und Politik“ zukünftig wachsender personeller und finanzieller Mittel erfreuen.

Rüdiger Braun
 

  1. www.uni-muenster.de/ZIT/Religionspaedagogik/forschungsstelleislamundpolitik/index.html
  2. www.dokumentationsstelle.at
  3. alhambra-gesellschaft.de
  4. www.mosaik-ev.org.
  5. https://alhambra-gesellschaft.de/freitagsworte/


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Foto Dr. Rüdiger BraunPD Dr. theol. Rüdiger Braun
Wissenschaftlicher Referent
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
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