Ein Raum für kritische Fragen: Wie digitale Plattformen „Mormon:innen“ zusammenbringen

Eine stetig wachsende Zahl an neuen digitalen Plattformen zeigt, wie mehr und mehr Mormon:innen versuchen, individuelle Glaubenskonflikte zu thematisieren, um aus der Stille des tabuisierten Zweifels auszubrechen, ohne mit der Gemeinschaft zu brechen.

Claudia Jetter

Seit bald zehn Jahren schreibt Jana Riess die erfolgreiche Kolumne „Flunking Sainthood“ („die Heiligkeit vermasseln“) für die religiöse Nachrichtenseite Religion News Service (religionnews.com). Unter dem provokanten Titel thematisiert Riess darin mormonisches Leben und berichtet über aktuelle Entwicklungen in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (engl.: Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, kurz LDS). Ein Artikel im August mit der Überschrift „Dear Mormons in a faith crisis: You’re not crazy, wrong or stupid” (Liebe Mormonen in einer Glaubenskrise: Ihr seid nicht verrückt, habt Unrecht oder seid dumm“) handelt davon, welchen Platz Glaubenskrisen im öffentlichen Austausch in der LDS haben und warum die Leitung kritische Fragen ernst nehmen sollte, anstatt nur Mitglieder zu fördern, die Zweifel nicht öffentlich äußern.1   Für Riess ist klar: Krisen gehören zum Glauben und können ihn in manchen Fällen sogar stärken.

Die differenzierten Beiträge aus Riess‘ Feder stützen sich nicht nur auf persönliche Beobachtungen. In Zusammenarbeit mit dem Politikwissenschaftler Benjamin Knoll sammelt sie derzeit empirische Daten zur gegenwärtigen Glaubenspraxis von Mormon:innen und untersucht, warum gerade jüngere LDS-Mitglieder, die mit Glaubensinhalten oder mit der Leitungsstruktur kämpfen, die Gemeinschaft häufig verlassen.2  Dabei betrachtet die Autorin die Gemeinschaft nicht als Außenstehende oder Ehemalige, wie der Titel ihrer Kolumne, ein Wortspiel mit „Saint“ (einer Selbstbezeichnung von Mormon:innen) bereits vermuten lässt: Denn Riess ist nicht nur kritische Journalistin, sondern zugleich praktizierende Mormonin.

Mit ihren reflektierten Kommentaren, die sie u. a. mit ihren über 10.000 Followern bei Twitter teilt, ermöglicht die Kolumnistin Außenstehenden einen Einblick in die moderne LDS und darauf, was es bedeutet, als kritisch reflektierende Frau im 21. Jahrhundert Mitglied einer nach wie vor hierarchischen und patriarchalisch geführten Gemeinschaft zu sein. Viel wichtiger erscheint jedoch, dass sie durch diese öffentliche Kommunikation einen Raum für aktive Auseinandersetzung schafft, und zwar außerhalb der örtlichen Gemeinde. Ihre Texte regen zum Nachdenken und Hinterfragen an und zeigen an ihrem eigenen Beispiel, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der LDS nicht automatisch zum Bruch führen muss.

Riess vermutet, dass es mittlerweile „definitiv normaler“ geworden sei, „unabhängige Stimmen“ zu hören, die nicht notwendigerweise mit offiziellen Repräsentant:innen der Gemeinschaft im Einklang sind und dennoch offen über ihre persönlichen Erfahrungen sprechen. Da zweifelnde Mitglieder selten dazu ermutigt würden, ihre Fragen in der Gemeinde zu stellen, fänden sie nun den digitalen Austausch mit Gleichgesinnten, auch ohne persönlichen Kontakt. Auch für sie selbst sei es „entscheidend“ gewesen, offen ihre Meinung zu sagen. „Mein eigener Glaube wurde auf vielfache Weise gestärkt, indem ich mir die schwierigen Fragen gestellt habe, und es ist wichtig, diese Fragen mit meiner Erfahrung in der Kirche zu zusammenzubringen“3

Riess ist nur ein Beispiel, wie gerade weibliche Mitglieder der Gemeinschaft zunehmend öffentlich ihre Fragen und Zweifel äußern. Seit 2020 gibt es den Podcast „At last she said it” (“Endlich spricht sie es aus“) von zwei aktiven Mormoninnen.4   Mit mittlerweile über 100 Episoden bringen Cynthia Winward und Susan Hinckley schwierige Fragen zur Sprache, die nicht nur bei Mormoninnen Gehör finden. Ob die Geschlechterungleichheit bei der Durchführung von Tempelritualen gerechtfertigt ist oder wie man ein Kind, das sich als LGBTQ identifiziert, in einer Gemeinschaft großziehen soll, die homosexuelles Verhalten ablehnt – heikle Themen wie diese werden hier frei diskutiert. Im Interview mit Religion News Service erklärten die beiden Podcasterinnen, es falle ihnen mittlerweile leichter, in der eigenen Gemeinde weniger offensiv aufzutreten, da sie durch den Podcast eine alternative Plattform gefunden hätten, um der „Stille-Krise“ zu begegnen, die viele Frauen durchlitten.5  Die größte Überraschung sei dabei die große Resonanz von Männern gewesen, die manche Themen des Podcasts auch in die eigene Gemeinde mitnähmen.

Wie Riess äußern sich auch Winward und Hinckley öffentlich zu der Frage, warum sie die LDS trotz der vielen kritischen Punkte, die sie Woche für Woche diskutieren, nicht verlassen. Zu dem Thema gibt es sogar eine eigene Folge mit dem Titel „What’s in it for me?“ („Was steckt für mich drin?“).6   Demnach geben für sie vor allem die Glaubensinhalte und die sozialen Aspekte den Ausschlag dafür, trotz der negative Seiten weiter aktiv in der Gemeinde zu bleiben.

Aber nicht nur Mormoninnen suchen neue Möglichkeiten, sich jenseits der institutionellen LDS-Strukturen offen über Glaubensfragen auszutauschen. Auch neue Organisationen wie Faith Matters („Glaube zählt“) suchen den kritischen Diskurs innerhalb der „Mormon community“ und darüber hinaus.7  Zwei Ehepaare gründeten das Forum 2016, um einen Raum für Fragende und Zweifelnde zu schaffen und diesen auch eine Gemeinschaft zu bieten, zumindest digital. Mittlerweile produziert die Organisation einen Podcast und publiziert ab Dezember 2022 das Magazin Wayfare. Mehr und mehr wird aber auch auf gelebte (und präsentische) Gemeinschaft gesetzt. Darum veranstaltet Faith Matters mittlerweile große festivalartige Versammlungen, inklusive Lobpreis, Meditations-Sequenzen und nicht-mormonischer Musiker:innen wie der Bethel Group – ohne Podium, ohne Sonntagskleidung, dafür mit mehr Lifestyle-Gemeinden-Atmosphäre.8

Die vorgestellten Formate zeigen, wie Mitglieder der LDS gemeinsam versuchen, individuelle Glaubenskonflikte zu reflektieren und zu thematisieren – und somit aus der Stille des tabuisierten Zweifels auszubrechen.9  Ob dadurch langfristig Veränderungen innerhalb der Institution angestoßen und mehr junge Mormon:innen in der LDS gehalten werden können, bleibt offen. Was die Projekte jedoch leisten, ist, Mitgliedern einen Raum für kritische Fragen zu bieten, der es manchen erlaubt, die LDS trotz aller Dissonanzen als spirituelles Zuhause zu behalten. In diesem Sinne rät Riess am Ende ihres Artikels über die Glaubenskrise als Mormonin: „Nimm die Veränderungen wahr und staune, anstatt dich auf ein bestimmtes Ergebnis zu konzentrieren. Du bist nicht verrückt. Du hast nicht Unrecht. Du bist kein Abtrünniger. Du veränderst dich einfach.“10

Anmerkungen

1  Jana Riess, „Dear Mormons in a faith crisis: You’re not crazy, wrong or stupid”, Religion News Service, 17. August 2022. Vgl.: https://religionnews.com/2022/08/17/dear-mormons-in-a-faith-crisis-youre-not-crazy-wrong-or-stupid/ (zuletzt abgerufen am 07. Oktober 2022).

2  Riess stützt ihre Aussagen u. a. mit empirischen Daten, die sie in ihrem Buch The Next Mormons (2019) veröffentlicht hat. Die Ergebnisse basieren auf Daten, die sie mithilfe von repräsentativen Umfragen und Interviews zusammengestellt hat. Vgl.: Jana Riess, The Next Mormons: How Millennials are Changing the LDS Church (New York: Oxford University Press, 2019).

3  Aus dem persönlichen Austausch zwischen Jana Riess und der Autorin.

4  https://atlastshesaidit.org/ (zuletzt abgerufen am 07. Oktober 2022).

5  Jana Riess, “‘At Last She Said It’ podcast helps Mormon women find their voices”. Religion News Service. 14. September 2022. Vgl.: https://religionnews.com/2022/09/14/at-last-she-said-it-podcast-helps-mormon-women-find-their-voices/ (zuletzt abgerufen am 07. Oktober 2022).

6  https://atlastshesaidit.org/episode-038-whats-in-it-for-me/. (Zuletzt abgerufen am 07. Oktober 2022).

7  https://faithmatters.org/ (zuletzt abgerufen am 07. Oktober 2022).

8  Bethel Group ist ein Lobpreis-Künstler-Kollektiv, das ursprünglich in der pfingstlich-charismatischen Bethel Church, California, entstanden ist. Am diesjährigen Faith Matters Festival vom 07.-08. Oktober 2022 in Salt Lake City nahmen ca. 1500 Menschen teil. Vgl. https://religionnews.com/2022/09/29/for-many-mormons-who-question-faith-matters-is-a-spiritual-lifeline/.

9  Auch innerhalb der NAK gibt es seit längerem ähnliche Netzwerke, u. a. das kritische Internet-Magazin „Glaubenskultur“. Vgl. hierzu: https://www.glaubenskultur.de/?/ueberuns.html (zuletzt abgerufen am 14. Oktober 2022).

10  Im Original: “Rather than focusing right now on a particular outcome, just notice the changes that are happening to you, and marvel. You’re not crazy. You’re not wrong. You’re not apostate. You’re just changing.” Vgl. Fußnote 1.

Ansprechpartner

Foto Claudia Jetter M.A.Dr. Claudia Jetter
Wissenschaftliche Referentin
Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen
Auguststraße 80
10117 Berlin