„Abtreibung“ als religiöses Ritual des „Satanic Temple“

Am 01.09.2021 trat im US-amerikanischen Bundesstaat Texas das sogenannte „Heartbeat Law“ in Kraft. Das von Evangelikalen vorangetriebene De-Facto-Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen sobald ein Herzschlag nachgewiesen werden kann, wird nun von der Religionsgemeinschaft „Satanic Temple“ angegangen. Die nicht-theistische Gemeinschaft deklariert „Abtreibung“ als religiöses Ritual für sich und pocht auf das Recht auf freie Religionsausübung.

Tobias Vöge, Praktikant EZW
Auf schwarzem Hintergrund in weißer Schrift Satanic Temple

Am 01.09.2021 trat im US-amerikanischen Bundesstaat Texas ein Gesetz in Kraft, das die Diskussion um das Thema Schwangerschaftsabbruch weiter verschärfte. Nach dem auch „Heartbeat Law“ genannten Gesetz war für den Abbruch einer Schwangerschaft entscheidend, ob beim Embryo zum fraglichen Zeitpunkt schon ein Herzschlag nachweisbar war. Dies ist in der Regel schon nach den ersten sechs Wochen der Fall. Ein Großteil der betroffenen Frauen weiß zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht von der eigenen Schwangerschaft. Auch im Falle von Vergewaltigung oder Inzest galten keine Ausnahmen. Bürgern, die einen illegalen Schwangerschaftsabbruch an die Behörden meldeten, wurde eine Belohnung von 10.000 US-Dollar zugesagt.1

Schon früh gab es Kritik von vielen Seiten, am prominentesten von Seiten des US-Präsidenten. Joe Biden sprach sich entschieden gegen das Gesetz und dessen vorläufige Akzeptanz im Supreme Court (mit 5:4 Stimmen) aus.2 Mittlerweile hat das Bundesgericht in Austin das Gesetz in Folge einer Klage der US-Regierung wieder aufgehoben. Abtreibungskliniken können jedoch trotzdem nicht wieder risikofrei handeln, da die texanische Regierung bereits gegen das Gerichtsurteil Berufung eingelegt hat. Sollte das Urteil aus Austin nicht rechtskräftig bleiben, drohen Fällen von Schwangerschaftsabbrüchen nachträglich juristische Konsequenzen.3

Neben der politischen Dimension birgt die Abtreibungsfrage auch Zündstoff auf religiöser Ebene. So trat die in den USA als Kirche anerkannte Bewegung „The Satanic Temple“ (TST) mit der ausdrücklichen Befürwortung von Schwangerschaftsabbrüchen auf den Plan. Bereits vor dem fraglichen Gesetz war die Vereinigung auch in anderen Bundesstaaten mit Klagen und Aktionen wie Demonstrationen und öffentlichen Improvisationstheatern gegen Abtreibungsgegner in Erscheinung getreten.4 Ihr zufolge werde das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung durch De-Facto-Verbote wie in Texas maßgeblich beschnitten.

TST wurde 2013 durch den heutigen Sprecher Lucien Greaves (bürgerlicher Name: Douglas Misicko) und Malcolm Jerry (bürgerlich Cevin Soling) gegründet.5 In Salem, Massachusetts, befindet sich der Hauptsitz (inklusive Museum und Shop). Die Gruppe versteht sich selbst als „nichttheistische“ Bewegung und nutzt die Satan-Figur als Symbol für die Auflehnung gegen ein tyrannisches System.

Mit ihrer Selbstbezeichnung und diversen Aktionen eckte TST in der Vergangenheit häufig bei der evangelikal geprägten Bevölkerung an, was ihr viel mediale Aufmerksamkeit einbrachte. Infolgedessen beschäftigten sich immer mehr Menschen mit der Gruppierung und die Anhängerzahl wuchs auf über 300.0006. Organisiert ist der Tempel in über 30 Ortsverbänden, darunter je einer in Großbritannien und Australien.7 Außerdem gibt es in diversen Ländern Freundesgruppen in sozialen Netzwerken, so auch in Deutschland.

Neben der Abtreibungsthematik steht der Tempel für die Trennung von Kirche und Staat und setzt sich in sozialen Projekten wie der Adoption eines Highway- und eines Strandabschnittes ein. Auch ein Nachmittagsprogramm für Schülerinnen und Schüler oder eine Initiative gegen Gewalt an Schulen gehören zum Engagement.8
 
Die Bewegung sah im neuen Texanischen Gesetz eine unrechtmäßige Einflussnahme einer Religion – nämlich des evangelikal geprägten Christentums – in die Angelegenheiten des Staates sowie in die körperliche Selbstbestimmtheit von Frauen. Abgesehen von der weltanschauungspolitischen Stellungnahme versuchte der Tempel auch, schwangeren Frauen in Texas eine legale Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch zu eröffnen. Dafür bezog sich die Gruppe auf den „Religious Freedom Restoration Act“ (RFRA), der es in den USA erlaubt, für bestimmte religiöse Handlungen illegale Substanzen zu konsumieren. Anlass für dessen Einführung war der meskalinhaltige Peyote-Kaktus gewesen, der in Ritualen der indigenen Bevölkerung Verwendung findet.9 In analoger Weise sollten trotz des Texanische Abtreibungsgesetzes Frauen die Medikamente Mifopristone und Mifopristol legal verabreicht werden dürfen, um damit einen Schwangerschaftsabbruch herbeizuführen. Zu diesem Zweck definierte TST Abtreibung als religiöses Ritual, um betroffenen Frauen die Möglichkeit zu bieten, als Mitglieder der Religionsgemeinschaft einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Derzeit wird der entsprechende Antrag von TST durch die Gesundheitsbehörde „U.S. Food and Drug Administration“ juristisch geprüft.10
 
Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor ein heikles Thema. Erst vor Kurzem wurde in Berlin wieder ein „Marsch für das Leben“ mit mehreren Tausend Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern veranstaltet – darunter auch eine große Zahl religiös motivierter Menschen und Geistlicher. Zuvor hatte auch die katholische Bischofskonferenz zu einer Teilnahme an der Demonstration aufgerufen. Eine Gegendemonstration zählte ebenfalls mehrere Tausend Teilnehmende.11

In Deutschland ist der politische Einfluss der evangelikalen Bewegung wesentlich geringer als in Amerika. Das ist möglicherweise der Grund, warum TST hierzulande noch keine Gemeinschaft gründen konnte bzw. wollte. Die Vorgänge um das texanische Gesetz rücken erneut die (religiösen) Streitfragen um Schwangerschaftsabbrüche generell sowie die Thematik der Trennung von Kirche und Staat in den Blick. Daneben werfen sie die Problematik der Religionsfreiheit und deren Inanspruchnahme für nichtreligiöse (oder zumindest nicht unstrittig als religiös anerkannte) Ziele auf.
 
Tobias Vöge, Praktikant EZW



Anmerkungen

1 Vgl. Biden kritisiert Supreme Court wegen Abtreibungsrecht in Texas, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2021,
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/biden-kritisiert-supreme-court-wegen-abtreibungsrecht-in-texas-17514385.html. Diese und alle weiteren Quellen wurden zuletzt aufgerufen am 13.10.2021.

2 Vgl. ebd.

3 Vgl. Gericht setzt strenges Abtreibungsgesetz in Texas aus, Süddeutsche Zeitung, 07.10.2021, www.sueddeutsche.de/politik/usa-abtreibung-texas-1.5432653. Für aktuelle Informationen zum Abtreibungsgesetz vgl. Sneed, Tierney: Where things stand in the legal battle over Texas' six-week abortion ban, Cable News Network 12.10.2021, www.edition.cnn.com/2021/10/12/politics/justice-department-texas-abortion-ban-fifth-circuit-what-is-happening/index.html.

4 Vgl. Penny Lane (Direktorin): Hail Satan? Amerika und seine Satanisten, Zweites Deutsches Fernsehen 06.07.2021, www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/hail-satan--amerika-und-seine-satanisten-100.html.

5 Für die bürgerlichen Namen vgl. Correcting the Church of Satan “Fact Sheet”,  die offizielle Homepage des TST-Sprechers: www.luciengreaves.com/correcting-the-church-of-satan-fact-sheet/#more-460.

6 Vgl. Goodkind, Nicole: Why Satanists may be the last hope to take down Texas's abortion bill, Fortune 04.09.2021, www.fortune.com/2021/09/03/why-satanists-may-be-the-last-hope-to-take-down-texass-abortion-bill/.

7 Vgl. die Übersicht über die Ortsverbände auf der offiziellen Website des TST,  www.thesatanictemple.com/pages/find-a-congregation.

8 Vgl. Hail Satan? Amerika und seine Satanisten, Zweites Deutsches Fernsehen 06.07.2021, www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/hail-satan--amerika-und-seine-satanisten-100.html.

9 Vgl. Goodkind, Nicole: Why Satanists may be the last hope to take down Texas's abortion bill, Fortune 04.09.2021. www.fortune.com/2021/09/03/why-satanists-may-be-the-last-hope-to-take-down-texass-abortion-bill/.

10 Vgl. ebd. Auch wenn Schwangerschaftsabbrüche in Texas wieder endgültig legalisiert werden sollten, ist die Prüfung natürlich für andere Themen und Fälle relevant.

11 Vgl. Mehrere Tausend Menschen stellen sich Abtreibungsgegnern entgegen,  Tagesspiegel 19.09.2021,  www.tagesspiegel.de/berlin/marsch-fuer-das-leben-in-berlin-mitte-mehrere-tausend-menschen-stellen-sich-abtreibungsgegnern-entgegen/27625774.html.