Schriftprinzip (hist.)

Die Bibel Alten und Neuen Testaments ist die Heilige Schrift des Christentums. In allen christlichen Kirchen und Konfessionen spielt das „Buch der Bücher“ eine grundlegende Rolle. Allerdings charakterisiert der Bezug auf die Bibel die protestantische Form des Christentums in besonderer Weise. Protestantische Frömmigkeit ist dezidiert Bibelfrömmigkeit. Historisch geht diese Prägung auf Martin Luther (1483 – 1546) zurück, der das Schriftprinzip zu einem der Grundprinzipien reformatorischer Theologie erhoben hat. Dieses Prinzip ist daher ein Schlüssel zum Verständnis protestantischen Christentums. Die Geschichte seiner Begründung, Verschärfung, Bestreitung und Umformung ist auch ein Schlüssel zum Verständnis innerprotestantischer Konflikte um die rechte Gestalt von Christentum, die bis heute andauern. Gerade zwischen „evangelikalen“ und „liberalen“ Protestanten ist der Streit um ein „bibeltreues“ Christsein nach wie vor virulent – und wird wohl nie zu schlichten sein. Aber es lässt sich kultivierter streiten, wenn man die historischen Voraussetzungen der umstrittenen Optionen kennt.

Grundlinien von Luthers Schriftlehre

Schon im späteren Mittelalter waren Debatten aufgekommen, ob nicht die Autorität der Bibel im Verhältnis zur Autorität der kirchlichen Tradition und des Lehramtes höher einzustufen sei als in der gängigen Praxis von Theologie und Kirche. Im 15. Jahrhundert forderten dann Renaissance-Humanisten mit der Parole ad fontes! („zurück zu den Quellen!“) eine Erneuerung der Kirche durch Rückkehr zu den urchristlichen Urkunden. In Aufnahme und Verschärfung dieser Impulse erhob Luther im Zuge der Ausbildung seiner reformatorischen Theologie die Heilige Schrift zum theologischen Prinzip, und zwar zum einzigen theologischen Prinzip. Mit „Prinzip“ ist dabei ein gegebener Punkt gemeint, der selbst keiner Herleitung bedarf und bei dem die Entfaltung einer Lehre ihren Anfang nehmen muss. Glaubenssätze und theologische Aussagen können und müssen sich demnach aus der Schrift herleiten lassen. Dieser Prinzipienrang wird später auf die Formel sola scriptura gebracht: „allein die Schrift“ – man ergänze: „kann als Fundament von Glauben und Theologie dienen“.

Bedingung dieser Prinzipienfunktion ist die Annahme der „Klarheit der Schrift“ (claritas scripturae). Die Bibel kann nur dann als alleiniger methodischer Ausgangspunkt von Glauben und Lehre fungieren, wenn sie aus sich heraus verständlich ist. Diesen Sachverhalt bezeichnet Luther auch mit der Wendung, die Bibel sei „ihre eigene Auslegerin“ (sui ipsius interpres). Das heißt: Weil sie aus sich heraus verstanden werden kann, bedarf es keiner anderen autoritativen Instanzen wie der katholischen Tradition und ihrer Verkörperung in Papst und Konzilien, um sie als Quelle von Glauben und Lehre erst verständlich zu machen und gültig zu interpretieren.

Damit wird das Vorhandensein von dunklen, mehrdeutigen oder auch widersprüchlichen Stellen in der Bibel keineswegs bestritten. Aber nach Luther ist die Schrift insofern „klar“, als ihre „Mitte“, ihr wesentlicher Gehalt, evident ist. Als „Auslegerin ihrer selbst“ biete sie ein zentrales Auslegungskriterium, anhand dessen sich ihre vielstimmigen Aussagen zu einer einheitlichen Botschaft, dem Evangelium, zusammenschlössen. Luther bezeichnet dieses Kriterium mit der Formel „was Christum treibet“, und er interpretiert diese Formel im Sinne der paulinischen Rechtfertigungslehre: Alles, was in ihr Christus bezeugt, d. h. was die von Gott in Christus dem Menschen ohne Verdienst und Würdigkeit geschenkte Gnade verkündet, macht den evidenten Sachgehalt der Bibel aus. Das „allein die Schrift“ verweist also auf das „allein Christus“ (solus Christus) und dessen Auslegung durch das „allein aus Gnade“ (sola gratia). Oder mit einer Leitunterscheidung des 19. Jahrhunderts ausgedrückt: Das Schriftprinzip als „Formalprinzip“ (oder methodisches Prinzip) des Luther’schen Reformstrebens ist verknüpft mit der Rechtfertigungslehre als seinem „Materialprinzip“ (oder inhaltlichem Prinzip).

Die kirchenkritische Stoßrichtung des Schriftprinzips in der historischen Situation Anfang des 16. Jahrhunderts ist unverkennbar. Mit seiner Hilfe gewinnt Luther eine Berufungsinstanz gegenüber der kirchlichen Lehre und Praxis, deren Missstände (Bußpraxis, Ablass etc.) den reformatorischen Protest herausfordern. Der Kirche und ihren Lehrinstanzen, die sich auf die autoritative Tradition berufen, wird mithilfe des exklusiven Schriftprinzips die maßgebliche Autorität in Glaubensfragen abgesprochen. Päpste und Konzilien können irren, nicht aber die von Gott gegebene, sich selbst erklärende Bibel. Die reformatorische Formel sola scriptura impliziert sonach die Negation der „katholischen“ Formel „Schrift und Tradition“ (bzw. Schrift- und kirchliche Auslegungsautorität).

Das Schriftprinzip ist aber nicht auf die kritische oder konstruktiv-fundierende Funktion der Bibel für die Kirchenlehre zu reduzieren. Sein revolutionäres Potenzial wird erst voll ersichtlich, wenn man einen anderen Aspekt von Luthers reformatorischer Entdeckung mitberücksichtigt, der in der landläufigen Fixierung auf die Rechtfertigungslehre oftmals unterbelichtet bleibt: sein Insistieren auf persönlichen Glauben. Dieser Aspekt klingt in der vierten solus-Formel „allein aus Glauben“ (sola fide) an. Der Zusammenhang von Glaubensbegriff und Schriftlehre wird an der Lehre von der doppelten „Klarheit der Schrift“ deutlich. Glaube besteht für Luther nicht in der Annahme einer aus der Bibel erhobenen Lehre, sondern wesentlich in einem innerlichen Vertrauen des je Einzelnen auf Christus. Terminologisch gesprochen: Glaube entsteht dort, wo aus der „äußeren Klarheit“ der Schrift (claritas externa), von der bisher die Rede war, eine „innere Klarheit“ (claritas interna) wird: eine durch das sachlich evidente äußere Wort kraft des Heiligen Geistes gewirkte individuelle Gewissheit, dass Christi Heilswerk auch für mich persönlich gilt. Das äußere Wort hat demnach nur die Funktion eines „Vehikels“ für das letztlich unverfügbare inwendige Wirken des Geistes im Herzen des Einzelnen. Diese Subjektivität und Individualität der Glaubensgewissheit sowie, damit einhergehend, der bloß dienende, funktionale Rang des äußeren Wortes relativieren die Heilsbedeutung der autoritativen Kirchenlehre in fundamentaler Weise. Nicht die der Bibel entnommene Lehre bzw. die Zustimmung zu ihr macht den Glauben aus, sondern das innerliche Hören des Wortes, durch das in der Seele je und je Heilsgewissheit entsteht.

Derselbe Sachverhalt lässt sich auch mit einer Lieblingsunterscheidung Luthers aussagen: Nicht der „Buchstabe“ (bzw. das „äußere Wort“) wirkt den Glauben, sondern der „Geist“ (bzw. das „innere Wort“), der dabei die äußeren Worte „gleichsam als Werkzeuge“ gebraucht. Das innere ist durchaus angewiesen auf das äußere Wort, weil sich der Heilige Geist gewissermaßen daran gebunden hat. (Man kann hier in Analogie zur „Inkarnation“ des Sohnes von der „Inverbation“ des Heiligen Geistes sprechen.) Dabei ist zu beachten, dass Luther gar nicht das geschriebene Wort der Bibel für die Primärgestalt des äußeren Wortes hält. Weil Gott schlechthin lebendig ist, darum muss auch sein Wort lebendig sein. Nicht in der Starrheit schriftlicher Texte also, sondern in mündlicher Rede erklingt es in wesensgemäßer Weise. Daher ist die Predigt der eigentliche Ort, wo – kraft des Heiligen Geistes – aus äußerem inneres Wort und aus äußerer innere Klarheit werden kann.

In der theologischen Doppelfront, in der sich Luthers Denken seit den frühen 1520er Jahren bewegt, hat diese Verknüpfung von äußerem und innerem Wort eine doppelt kritische Funktion. Luther kann einerseits – das ist die Ursprungsintention – den bloß dienend-funktionalen Charakter des (primär mündlichen) äußeren Wortes betonen, womit das gesamte großkirchliche Lehrgebäude torpediert wird: Schriftwort und Lehre und selbst die Predigt haben keinen Wert an sich, weil sie ohne das unverfügbare Wirken des Geistes im Herzen des Individuums nutzlos sind. Aber Luther kann andererseits auch die Angewiesenheit des inneren auf das äußere Wort hervorheben. Damit reagiert er auf radikale Reformatoren, auf „Schwärmer“ wie Thomas Müntzer oder Andreas Karlstadt, die nach seinem Dafürhalten beliebige Einfälle zu Eingebungen des Heiligen Geistes erklären. Luther hält fest, dass das innere nicht ohne das äußere Wort zustande kommt, und schließt damit alle willkürlichen religiösen Behauptungen aus, die sich allein auf ein inneres Zeugnis des Geistes berufen und sich nicht an Schrift und schriftgemäßer Predigt als „evangelisch“ ausweisen lassen.

Konsequenzen und Probleme

Wie bereits angedeutet hat das reformatorische Schriftprinzip umstürzende Konsequenzen für das Verständnis von Kirche und kirchlichem Amt. Die Autorität der Kirche und ihrer Amtsträger wird der Schriftautorität unterstellt. Damit ist nicht nur die unwidersprechliche Gültigkeit kirchlicher Lehrentscheide bestritten, sondern auch jede „auf besondere Geistbegabung zurückzuführende Personal- oder Amtsautorität“ (Gunther Wenz). Überhaupt begründet die funktionale Hinordnung von Schrift und Predigt auf den Glauben des Einzelnen eine funktionale Auffassung der kirchlichen Institution und des kirchlichen Amtes, mithin einen Einspruch gegen ihre theologische, sakramentale Überhöhung: Sie haben nur insofern Bedeutung, als sie der Vermittlung eines biblisch begründeten Herzensglaubens dienen, auf den es wesentlich ankommt.

Was die konkrete Bibelauslegung angeht, wohnt Luthers Schriftprinzip – genauer: dem darin enthaltenen Auslegungsprinzip „Christus/Rechtfertigung als Mitte der Schrift“ – paradoxerweise ein kanonkritischer Impuls inne. In großer Gewissheit über die „Mitte“ kann Luther manche Schriften des biblischen Kanons harsch abwerten, sofern sie dieser Mitte seiner Wahrnehmung nach relativ fernstehen (Jakobus-, Hebräerbrief, Offenbarung). So distanziert er sich auch von weiten Teilen des mosaischen Gesetzes: Als „der Jüden Sachsenspiegel“ handele es sich um ein historisches Gesetzeskorpus, das für die Christenheit keine unmittelbare Gültigkeit mehr habe.

In Hinsicht auf die Gnadentheologie kommt es dem Schriftprinzip zu, den Rechtfertigungsgedanken als essenziellen Inhalt lutherischer Theologie zu autorisieren. Ist dieser Gedanke als sachlich-klare Mitte der Schrift behauptet, ist ihr zentraler Stellenwert innerhalb der gesamten Theologie ausgemacht. Dabei ist freilich kaum zu leugnen, dass sich die Behauptung jener hermeneutischen Mitte selbst einer Setzung des Bibelauslegers Luther verdankt. Der Reformator erhebt zum „objektiven“ Zentrum, was ihm im Verstehen der Schrift subjektiv als schlechterdings zentral aufgegangen ist.

Ein weiteres Problem ist in der Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität des Schriftverständnisses zu erblicken, die mit der beschriebenen Zuordnung von äußerem und innerem Wort gegeben ist (Jörg Lauster). Die innere Glaubenserfahrung, dass sich das äußere Wort mir selbst im Herzen heilsam erschließt, hängt für Luther an der Bedingung der äußeren Klarheit der Schrift; und umgekehrt zielt die äußere Klarheit auf eine unverfügbare innerliche Aneignung. Der religiöse Schriftumgang hat also eine objektive und eine subjektive Seite, deren Verhältnis wohl auch bei Luther nicht ganz geklärt ist. Beide Seiten können sich im Verlauf der Geschichte des Protestantismus immer wieder verselbständigen: die objektive Seite etwa im biblizistischen Haften am äußeren Wort, die subjektive Seite in enthusiastischen Bewegungen, wo das innere Wort zuweilen auch in inneren Stimmen vernommen wird, die nicht mehr mit dem biblischen Evangelium übereinzubringen sind.

Die Verschärfung des Schriftprinzips in der protestantischen Schultheologie

Im Zuge der Konsolidierung der reformatorischen Theologie hat das Schriftprinzip auch Eingang in die entsprechenden Bekenntnisschriften gefunden. So hebt die Konkordienformel von 1577 mit der Erklärung an, die biblischen Schriften des Alten und Neuen Testaments seien „die einige [lies: einzige] Regel und Richtschnur (unica regula et norma)“ (Epitome § 1, BSLK 767) für die protestantische Lehre. Von römischer Seite wird dem betreffenden Prinzip auf dem Konzil von Trient, bereits im Todesjahr Luthers 1546, eine klare lehramtliche Absage erteilt.

Im folgenden Streit der Konfessionen verteidigt die protestantische Schultheologie des 17. Jahrhunderts das vom Reformator postulierte Prinzip als methodischen Grundstein des protestantischen Christentums, indem sie es zu einer systematischen Schriftlehre ausbaut. Darin setzt sie das Wort der Schrift mit dem Wort Gottes geradewegs gleich – ein Luther selbst noch ganz fremder Gedanke. „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes“, so Johann Gerhard (1582 – 1637). Durch diesen Grund-Satz der schultheologischen Schriftlehre wird die Bibel über die Bedingtheit menschlicher Überlieferungsprozesse erhoben, um ihr eine unmittelbare Begründungsleistung für die Theologie zuschreiben zu können. Mit der Behauptung der fraglichen Identität verschafft sich die altprotestantische Theologie gleichsam selbst direkten Zugang zu den göttlichen Wahrheiten.

Bald wird jene Identitätsbehauptung dann noch mit der Lehre von der Verbalinspiration der Schrift untermauert, wonach jedes einzelne Wort der Bibel dem jeweiligen menschlichen Autor vom Heiligen Geist eingegeben wurde. Schriftwort und Gotteswort sind unmittelbar identisch, weil Gott die Schrift Wort für Wort diktiert hat. Diese Lehre hat indessen nicht nur eine Fundierungsfunktion für die Theologie, sondern auch eine Folge für den Schriftumgang. Denn sie begünstigt ein „flächenhaftes“ Schriftverständnis. Wenn alle Worte von Gott eingegeben sind, so müssen sie auch gleich bedeutsam sein. Dies führt zur Schriftauslegung mittels der „Dicta probantia“-Methode, bei der einzelne Schriftworte ohne Berücksichtigung des Kontextes zur Begründung theologischer Aussagen herangezogen werden.

Die Krise des Schriftprinzips seit der Aufklärung

Das Aufkommen eines historischen Bewusstseins in der Aufklärung und die sich etablierende historisch-kritische Bibelexegese destruieren die Verbalinspirationslehre – und korrigieren damit einen „innerprotestantischen Betriebsunfall“ (Jörg Lauster). Allerdings wird dadurch auch das Schriftprinzip selbst nachhaltig erschüttert.

Nach einer langen Anbahnungsphase, in der schon manche Zweifel am rein postulatorischen Verfahren der Inspirationstheorie laut werden, kommt es in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts zum Durchbruch der historisch argumentierenden Bibelkritik. Für die akademische Theologie ist dafür exemplarisch Johann Salomo Semler (1725 – 1791) zu nennen. Der Hallenser Theologe wendet sich gegen die altprotestantische Schriftlehre und ihre Identitätssetzung, indem er ausdrücklich zwischen Bibel und Wort Gottes unterscheidet. Das Wort Gottes ist demnach zwar in der Schrift zu finden, aber nicht ohne Weiteres mit ihr gleichzusetzen. Zum Beleg beschreibt Semler in seiner bahnbrechenden „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“ (1771 – 1775) den langsamen Prozess der Ausbildung des biblischen Kanons und entlarvt damit die Annahme einer von früh an bestehenden, vom Heiligen Geist in kurzer Zeit offenbarten Heiligen Schrift als anachronistische Fiktion. Als historisch entstandenem Schriftenkorpus kann der Bibel aber nicht in ihrer Gesamtheit eine gleichmäßig verbindliche Autorität zukommen. Sie ist wissenschaftlich als ein historisches Zeugnis zu lesen und vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu interpretieren. Erst die Einsicht in die historische Distanz kann eine sachgemäße Auslegung garantieren, die wiederum an bestimmte Regeln gebunden ist, wie sie auch für andere historische Texte gelten. Dieser Zugang muss aber nach Semler dem frommen Bibelgebrauch gar keinen Abbruch tun – Bibellektüre zur privaten Erbauung und wissenschaftlich-historische Bibelexegese hält er für gleichermaßen legitim. In der erbaulichen Lektüre kann sich nach Semler die Schrift durch das innere Zeugnis des Heiligen Geistes trotz allem subjektiv als Wort Gottes erweisen.

Eine breitenwirksame Erschütterung erfuhr die altprotestantische Schriftlehre im sog. „Fragmentenstreit“. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) hatte zwischen 1774 und 1778 anonyme „Fragmente eines Ungenannten“ aus der Feder des Aufklärers Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) veröffentlicht, die mit historischen und philosophischen Argumenten die Glaubwürdigkeit der biblischen Zeugen bestritten. In der sich anschließenden publizistischen Auseinandersetzung, die einiges zur Popularisierung der Bibelkritik beitrug, formulierte der prominente Herausgeber eine grundsätzliche Anfrage an das protestantische Schriftprinzip. Unter den Bedingungen des historischen Bewusstseins besteht sein Grundproblem laut Lessing darin, dass damit die Wahrheit der christlichen Religion von einem (in sich noch dazu sehr vielschichtigen) geschichtlichen Dokument abhängig gemacht wird. Hier empfindet Lessing jenen „garstig breiten Graben“, der ihn womöglich am Christentum hat irre werden lassen: „Zufällige Geschichtswahrheiten“ – die aufgrund des historischen Abstands immer eine gewisse Abständigkeit und Zweifelhaftigkeit an sich haben – „können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten“ – also in diesem Fall: der inneren Wahrheit des Christentums – „nie werden“ (Über den Beweis des Geistes und der Kraft, 1777). Der prinzipiellen Begründungsfunktion der Bibel für Glauben und Theologie ist damit eine Absage erteilt: „Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten; sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist“ (Axiomata, 1778). Das protestantische Schriftprinzip ist damit aufgegeben.

Ein Zurück zur altprotestantischen Schriftlehre war für viele Theologen von da an unmöglich. So hat beispielsweise Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834), einer der Begründer „neuprotestantischer“ Theologie, griffig festgehalten: „Das Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen, vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um der heiligen Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen“ (Der christliche Glaube, § 128). Der Bibel kommt nicht mehr in der Weise Autorität für den Glauben zu, dass diese Autorität selbst glaubensbegründend sein könnte. Lebendige Frömmigkeit gründet nach Schleiermacher nicht auf der vorauslaufenden Ansicht über die „besondere Beschaffenheit“ der Bibel, sondern auf einer Begegnung mit dem Geist Christi im frommen Austausch unter Gläubigen. Das ursprüngliche Dokument entsprechender Glaubensmitteilung ist indessen das Neue Testament, und insofern kommt ihm – gelesen vor dem Hintergrund des Alten Testaments – mittelbar eine grundlegende Bedeutung für Glauben und Theologie zu. Und weil wir in den Evangelien ein Bild Christi niedergelegt finden, das auch noch in unsere Gegenwart spricht, darum ist protestantische Frömmigkeit auch nach Schleiermacher noch Bibelfrömmigkeit. Damit wird das Schriftprinzip von ihm zwar nicht aufgegeben, aber doch gegenüber seiner klassischen Gestalt erheblich umgeformt.

Ausblick

Schleiermachers Schriftlehre war natürlich nicht das letzte Wort zur Sache. Die protestantische Theologie hat sich in den Folgejahrhunderten an dem skizzierten Stand des Problems abgearbeitet. So hat sich die historisch-kritische Exegese in der akademischen Theologie etabliert, nicht ohne dabei auch radikale Infragestellungen des Quellenwerts der Bibel hervorzubringen (z. B. David Friedrich Strauß). Andererseits gab es auch immer wieder Versuche der Erneuerung des altprotestantischen Schriftprinzips (z. B. Johann Tobias Beck, Karl Barth). Zur Durchsetzung einer Konsensposition und zu einem Abschluss der Debatte ist es bis heute nicht gekommen.

Innerhalb der akademischen Theologie besteht zwar Einigkeit über die Legitimität der historisch-kritischen Bibelexegese. Was freilich deren durchaus wandelbare Ergebnisse für den Bezug des Glaubens auf die Bibel bedeuten, dazu ist eine einheitliche Auffassung nicht in Sicht – sofern die Frage überhaupt gestellt und systematisch reflektiert wird. Auf der anderen Seite herrscht innerhalb der evangelikalen und in großen Teilen der pfingstlich-charismatischen Bewegung eine geradezu identitätsstiftende Übereinkunft darüber, dass die Bibel als unfehlbares und irrtumsloses Wort Gottes sowie als unmittelbare Quelle und Richtschnur entschiedener Frömmigkeit anzusehen sei. Wie dieses Postulat mit der überall sich aufdrängenden Einsicht in die inhaltliche Vielschichtigkeit und historische Gewordenheit der biblischen Schriften zusammengehen soll, ohne das Wahrheitsgewissen der Gläubigen schwer zu belasten und auf ihren Glauben den Schatten der Unwahrhaftigkeit zu werfen – diese Frage wiederum markiert den neuralgischen Punkt im Aufbau eines solchermaßen „bibeltreuen“ Christentums.

Martin Fritz, November 2020


Literatur

Barth, Ulrich (2004): Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen, 27-51.

Lauster, Jörg (2004): Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen, hier 18.

Lessing, Gotthold Ephraim (1967): Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt. Wider den Herrn Pastor Goeze, in Hamburg (1778), in: ders.: Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. 3, Frankfurt a. M., 417-446, hier 436.

Lessing, Gotthold Ephraim (1967): Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: ders.: Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. 3, Frankfurt a. M., 307-312, hier 311; 309.

Pannenberg, Wolfhart (1967): Die Krise des Schriftprinzips, in: ders.: Grundfragen Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen, 11-21.

Schleiermacher, Friedrich (2008): Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Aufl. (1830/31), 2 Bde. in 1 Bd., hg. von Rolf Schäfer, Berlin / New York (Studienausgabe, seitengleich mit ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birkner u. a., Berlin / New York 1980ff, Bde. I/13.1 und 13.2), hier Bd. 2, 316.

Steiger, Johann Anselm (2004): Art. Schriftprinzip, in: RGG4 7, 1008-1010.

Wagner, Falk (1995): Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in: ders.: Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 68-88.

Wenz, Gunther (1988): Sola scriptura?, in: Rohls, Jan / ders. (Hg.): Vernunft des Glaubens, Festschrift zum 60. Geburtstag von W. Pannenberg, Göttingen, 540-567, hier 548.