Religionskritik

Seit dem frühen Altertum bis in die Gegenwart werden Religionen in ihren kultischen Praktiken, Glaubenslehren, Handlungsorientierungen, institutionellen Ausprägungen kritisiert. Dies geschah und geschieht von innen und von außen. Externe Religionskritik manifestiert sich etwa in atheistischen Bewegungen, die öffentlichkeitswirksam für eine religionsfreie Gesellschaft plädieren und religiösen Glauben als Widerspruch zu Wissenschaft, Demokratie und Menschenrechten verstehen. Interne Religionskritik zeigt sich in religiösen Erneuerungsbewegungen, die auf Vergessenes und Vernachlässigtes hinweisen; in der Christentumsgeschichte sind das u. a. monastische Bewegungen, ebenso Reformation und Pietismus. Heute knüpfen u. a. transkonfessionelle Bewegungen daran an. Eine implizite Religionskritik ist in pluralistischen Gesellschaften auch durch die Anwesenheit anderer Religionen gegeben. Durch die Präsenz anderer Glaubensweisen wird die eigene Wahrheitsgewissheit infrage gestellt, verliert die christliche Glaubensorientierung ihre Selbstverständlichkeit, ebenso die christliche Rede von Gott, von Jesus Christus und vom Heiligen Geist.

Religionskritik bezieht sich auf die Schattenseiten gelebter Religiosität, auf den Missbrauch religiöser Hingabebereitschaft, auf problematische Orientierungen an religiösen Führungsgestalten, die Freiheit und Verantwortung verleugnen, auf Jenseitsvertröstungen unter Missachtung der Verantwortung für die Gestaltung des Diesseits. Dabei stellt sich Religionskritik so vielgestaltig dar wie die Religion. Sie setzt keineswegs zwingend eine atheistische oder agnostische Weltanschauung voraus. Religionskritische Impulse sind dem christlichen Glauben nicht fremd. Sie können als Aufklärung im Dienste des Evangeliums verstanden werden. Sie klären auf über problematische Berufungen auf Religion. Sie decken Machtstrategien und vereinnahmende Strukturen auf. Sie fordern die Zuwendung zu denen ein, die Religiosität als einengend und verletzend erfahren haben. Atheistische Stimmen machen in religionskritischen Diskursen immer wieder darauf aufmerksam, dass die Religionsdistanz vieler Menschen in europäischen Gesellschaften, auch zahlreicher Mitglieder der christlichen Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften, ein starkes Indiz für die Zunahme religionskritischer Haltungen darstelle. „Die Normalität eines guten gottfreien Lebens, millionenfach gelebt, diesseitig ethisch orientiert, möglichst selbstbestimmt und den eigenen Erfahrungen vertrauend – das ist die eigentliche Kritik an jeder Religion“ (Horst Groschopp).

Ausprägungen

Geprägt wurde der Begriff Religionskritik von dem Philosophen Johann Heinrich Tieftrunk (1759 – 1837) unter dem Einfluss Immanuel Kants (1724 – 1804). Im Kontext aufklärerischen Denkens zielt Religionskritik auf den freien Gebrauch der Vernunft. Der Religion wird eine moralische Funktion zuerkannt, „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ behält sie ihren Platz. Die Religionskritik insbesondere des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist atheistisch geprägt. Sie entwickelt sich aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Christentum, zielt jedoch auf eine grundlegende Kritik und Infragestellung aller Religionen. Vor allem mit vier Namen ist diese klassische atheistische Religionskritik verbunden: Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche. Nach Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) schafft der Mensch Gott nach seinem Bilde, und zwar durch Projektion. Feuerbach plädiert für eine anthropologische „Reduktion“ der Religion und stellt Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Menschen in den Vordergrund. Die Religionskritik von Karl Marx (1818 – 1883) versteht Religion als „Opium des Volkes“ und hofft darauf, dass die Unterdrückten sich von der Religion befreien. Marxistischer Atheismus ist mit einem gesellschaftlichen Revolutionsprogramm verbunden. Sigmund Freud (1856 – 1939) versteht die Religion als illusionäre Wunscherfüllung und kollektive Zwangsneurose. Nach Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) narkotisiert die Religion den Menschen und lässt ihn einer Schuldkultur zum Opfer fallen.

Neue atheistische Bewegungen, die im 21. Jahrhundert eine zunehmende öffentliche Resonanz erfahren haben, sind auch auf dem Hintergrund fundamentalistischer Tendenzen in den Religionen zu verstehen. Der 11. September 2001 hat Debatten über problematische Seiten der Aufrichtung religiöser Autoritäten und über den Zusammenprall der Kulturen (clash of civilizations) hervorgerufen. Islamistischer Terrorismus steht als bedrängende Herausforderung auf der politischen Tagesordnung ganz weit oben. In neuen atheistischen Bewegungen, wie sie publizistisch ihren Ausdruck in den Büchern von Richard Dawkins („Der Gotteswahn“), Daniel Dennett („Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen“), Sam Harris („Das Ende des Glaubens“) und Christopher Hitchens („Der Herr ist kein Hirte“) fanden, wird die Wahrnehmung der Religionen auf ihre dunkle Seite konzentriert. Religionen werden nicht als Quelle moralischer Verpflichtungen und Vermittlungsinstanzen eines Orientierungswissens wahrgenommen, sondern als Verstärker gewaltsamer Konflikte. Der Redeweise von der „Rückkehr der Religionen“ wird widersprochen. Solcher Redeweise – so wird gesagt – liege eine Selbsttäuschung und eine Wunschvorstellung zugrunde. Aus der Sicht neuer atheistischer Bewegungen ist berichtenswert, dass die Zahl der Menschen, die konfessionsfrei sind, kontinuierlich zugenommen hat und weiter zunimmt, jedenfalls in Europa. Sie gehen vor allem von einer engen Verbindung zwischen wissenschaftlicher Weltwahrnehmung und Atheismus aus. Weitere Kennzeichen dieser Ausrichtung sind: polemische Religionskritik, Religionskritik im Namen der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaften, Ablehnung nicht nur des religiösen Fundamentalismus, sondern auch der moderaten Religiosität. Dem „neuen Atheismus“ geht es um die Popularisierung von fundamentaler Religionskritik, um einen „missionarischen“ Atheismus, um das Plädoyer für eine religionsfreie Welt.

Religionskritik kann freilich nicht eingegrenzt werden auf klassische oder „neue“ atheistische und humanistische Bewegungen. Für zahlreiche religiöse und weltanschauliche Bewegungen gilt, dass sie von religionskritischen Motiven mitbestimmt sind. Esoterische Systeme und Praktiken kritisieren die auf Dogmen aufgebaute Religion, repräsentiert durch Kirchen und Konfessionen, und sehen sie als überholt an. Sie plädieren für eine neue Spiritualität, die ihre Grundlagen aus mystischem Erfahrungswissen und östlicher Religiosität bezieht und das Göttliche in einer universellen Energie erblickt. Diese individualistisch und institutionenkritisch geprägte Spiritualität ist längst in den kulturellen Mainstream eingedrungen. In esoterischer Perspektive stellt das Christentum eine spezifische Verpackung religiöser Wahrheit dar. Auch andere Verpackungen seien in der Lage, die gleiche Wahrheit auszusprechen. Die Wahrnehmung der Unterschiede in den äußeren Formen dürfe nicht zu der Annahme führen, dass zwischen den religiösen Traditionen grundlegende Unterschiede bestehen. Esoterischer Inklusivismus beansprucht, Platz für alle Glaubensrichtungen zu haben, und hält den Kirchen vor, keinen Platz für die Esoterik zu haben und beim Konkreten und Institutionellen haften zu bleiben.

Religionskritische Elemente bestimmen auch sogenannte Sekten und Sondergemeinschaften, die ihr eigenes Selbstverständnis im dezidierten Gegenüber zur Mutterreligion entwickelt haben. Schon die Begrifflichkeit Sekte oder Sondergemeinschaft deutet auf Auseinandersetzungen im Beziehungsfeld zwischen Mutterreligion bzw. Kirche einerseits und Sondergemeinschaft andererseits hin, zu dem wechselseitige kritische Abgrenzungen und Verurteilungen gehören. Sondergemeinschaften, sofern sie im Umfeld des Protestantismus entstanden sind, kritisieren dessen modernitätsverträgliche Auslegungen des Christlichen, insbesondere auf dem Felde der Eschatologie (vgl. etwa die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen). Neuoffenbarungsgruppen lösen sich aus dem Umfeld ihrer „Herkunftsreligion“ und suchen religiöse Autorität durch Berufung auf unmittelbare Kundgaben des Göttlichen neu aufzurichten.

Einschätzungen

Die evangelische und katholische Theologie des 20. Jahrhunderts ist ohne ihre Auseinandersetzung mit atheistischen Einsprüchen und Konzeptionen gar nicht zu verstehen. „Religionskritik ist ein wesentlicher Grundzug von Theologie in der Moderne“ (Ulrich H. J. Körtner). Die biblische Tradition und der sich von ihr her verstehende Gottesglaube wissen um die Zweideutigkeit der Religion, die unterdrücken und befreien, zerstören und heilen kann. Man denke an die Geschichte vom goldenen Kalb, an die prophetische Kultkritik, die von Jesus betonte Unterordnung der Religionsgesetze unter ihren humanen Zweck (Der Sabbat ist für den Menschen da; Mk 2,27), das urchristliche Verständnis des Todes Jesu als Ende von sakralen Opferritualen. Deshalb ist Religionskritik eine wichtige Aufgabe christlicher Glaubenspraxis. Zum kirchlichen Handeln gehört die Förderung einer Kultur der Aufklärung, eine auf Unterscheidung und Kritik zielende Aufgabe. Diese richtet sich gleichermaßen auf die eigene und die fremde Religion. Theologische Religionskritik ist hilfreich, wertvoll und von der Sache her geboten.

Wenn atheistische Bewegungen auf problematische Ausformungen und Verzerrungen des Christlichen hinweisen, kann ihnen zugestimmt werden. Religionskritik, die darauf abzielt, fragwürdige Vermenschlichungen Gottes aufzuzeigen, hat ihre Berechtigung, und wenn die Gottesfrage auf die Tagesordnung öffentlicher Diskurse kommt, ist dies durchaus begrüßenswert.

Weder die Existenz Gottes noch seine Nichtexistenz können freilich aus der Perspektive wissenschaftlicher Welterkenntnis bewiesen werden. Auf die neuzeitliche Religionskritik und die Trennung von Glaube und Vernunft stellt sich das theologische Denken v. a. so ein, dass es seine Berechtigung auf dem Feld der Anthropologie aufzuzeigen versucht. Die Umstrittenheit und Kritik des Glaubens nötigen zum Erweis seiner Glaubwürdigkeit und Vernunftgemäßheit. Der Mensch ist sich selbst nicht genug, sondern über sich selbst hinaus verwiesen auf eine Transzendenz, die ihn unbedingt angeht (Paul Tillich). Menschsein ist ein Selbstsein, das sich anderen und nicht sich selbst verdankt. Jedes Ich verdankt sich einem Du, ohne das es nicht leben könnte. Kein Mensch hat sich das Leben gegeben. Kein Mensch lernt sprechen, ohne angesprochen zu werden. Kein Mensch lernt lieben, ohne zuvor geliebt zu werden. Kein Mensch lernt Vertrauen, ohne dass ihm Vertrauen entgegengebracht wird. Der Mensch wird am Du zum Ich. In den elementaren Lebensakten ist das menschliche Ich ein empfangendes Ich. Überlegungen dieser Art sind keine Gottesbeweise, sie haben jedoch die Funktion einer Hinführung zu Glaubensaussagen. Sie setzen sich argumentativ mit der religionskritischen These auseinander, dass Religion aus einem Selbstmissverständnis des Menschen entstanden sei.

Die religionskritische Aufgabe von Kirche und Theologie bezieht sich gleichermaßen auf Ausprägungen des Christlichen wie auf Ausdrucksformen anderer Religionen und Weltanschauungen. Zu ihr gehört, was die Bibel „Unterscheidung der Geister“ nennt und was inhaltliche Gestalt gewinnt im kritischen Widerspruch gegenüber radikaler Weltverneinung, überzogenen Heilungsversprechen, neuen Offenbarungen, die blinde Gefolgschaft erwarten und kritische Prüfungen nicht zulassen. Im Blick auf die wiederentdeckte Attraktivität von Mystik und Mythos, die Hypostasierung des Synkretismus, die Legitimierung von Okkultismus und Astrologie ist zu fragen, ob hier nicht eine relativistische, ja atheistische Perspektive das Feld für eine neue Religionsbegeisterung freigegeben hat. Mystik, Esoterik und Atheismus können nah beieinanderliegen. Die Ablehnung des Gottesglaubens kann auch im religiösen Gewand, ohne aggressive Anklage, erfolgen.

Gegenüber unbestimmten spirituellen Suchbewegungen ist zu sagen: Christlicher Glaube ist Bindung an den dreieinigen Gott und kann nicht gleichgesetzt werden mit einem unverbindlichen Suchen nach Wahrheit und Sinn. Zahlreiche Ausprägungen esoterischer Religiosität machen Religionen zur Verfügungsmasse für das menschliche Subjekt. Eine selbstgebastelte Religion aber ist keine. Damit ist nicht Nein zu einem persönlichen religiösen Weg und einem individuellen Religionsvollzug gesagt; auch kein Votum gegen die Bereitschaft und Offenheit ausgesprochen, von der Weisheit anderer Kulturen und Religionen zu lernen. Es gehört jedoch zu den Essentials christlichen Glaubens, dass der Mensch sich Sinn und Ziel des Lebens nicht selbst schaffen kann. Wenn es um die Erfahrung der göttlichen Gnade geht, ist er Empfangender. Religionskritik, aus welcher Perspektive sie auch vorgetragen wird, erinnert die Kirchen an die Notwendigkeit ihrer eigenen religiösen Profilierung. Sie fordert heraus, Menschen zu begleiten, unterschiedliche Motive und Gesprächssituationen wahrzunehmen und die eigene Sprachkompetenz im Blick auf zentrale Anliegen des christlichen Glaubens zu vertiefen.

Gegenüber vereinnahmenden Formen von Religiosität, sofern sie sich christlich begründen, ist auf die Freiheit des Glaubens und die Unerzwingbarkeit der göttlichen Gnade zu verweisen. Christlicher Glaube wird dort authentisch gelebt und weitergegeben, wo er die unbedingte Achtung der menschlichen Person in ihrer Individualität stärkt.

Zuallererst ist Religionskritik Selbstkritik. Selbstkritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte und dem in ihr begegnenden religiös motivierten Fanatismus und Fundamentalismus sind Voraussetzung für die Abkehr vom Gewaltpotenzial der eigenen religiösen Tradition. Das gilt für alle Religionen. Heute gewinnt dies im Dialog mit muslimischen Gelehrten und den Verbänden eine besondere Bedeutung. Der religiös begründete Terror legitimiert sich durch eine Gewalttheologie, der der Boden offensichtlich nicht allein von außen entzogen werden kann. Erfreulich ist, dass sich einzelne islamische Theologen von Gewalt legitimierenden Korandeutungen heute abgrenzen und für eine selbstkritische und historische Perspektive plädieren. Ihre Stimmen verdienen im interreligiösen Dialog besondere Aufmerksamkeit, ihre Ausgrenzung wäre fatal. Sie können dazu beitragen, gewaltaffine Korandeutungen zu überwinden, und eine Kultur der Toleranz unterstützen. Für alle Religionen und auch für religionskritische Bewegungen gilt, dass sie von den „Folgelasten der Toleranz“ (Jürgen Habermas) nicht entlastet werden können. Respekt vor Andersglaubenden ist eine grundlegende Tugend in Gesellschaften, die durch einen religiös-weltanschaulichen Pluralismus geprägt sind. In der europäischen Grundrechtecharta ist dies mit den Sätzen unterstrichen worden: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion und Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen“ (Art.10,1). Zur Religionsfreiheit gehört unveräußerlich auch Konversionsfreiheit, ebenso die Freiheit, keine Religion zu haben.

Reinhard Hempelmann, September 2016


Literatur

Hildegard Cancik-Lindemaier, Religionskritik, in: Hubert Cancik u. a., Humanistische Grundbegriffe, Berlin/Boston 2016, 339-345

Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, EKD-Texte 64, Hannover 1999

Horst Groschopp, Ostdeutscher Atheismus – die dritte Konfession?, in: Richard Faber/Susanne Lanwerd (Hg.), Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität?, Würzburg 2006, 207-222

Gregor Maria Hoff, Religionskritik heute, Kavelaer 2004

Ulrich H. J. Körtner, Gottesglaube und Religionskritik, Leipzig 2014

Wolf Krötke, Art. Religionskritik. II. Fundamentaltheologisch, in: RGG4 Bd. 7, 339-340

Karl Rahner/Karl-Heinz Weger, Was sollen wir noch glauben? Theologen stellen sich den Glaubensfragen einer neuen Generation, Freiburg i. Br. 1979

Michael Weinrich, Religion und Religionskritik. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 2011

Jürgen Werbick, Art. Religionskritik, in: Lexikon für Theologie und Kirche 8, Freiburg i. Br. u. a. 1999