Reichsbürger

„Reichsbürger“ (behördlich meist „Reichsbürger und Selbstverwalter“; beide Strömungen nicht streng trennbar) sind Personen, die die staatliche Existenz bzw. Legitimität der Bundesrepublik bestreiten und sich als Bürger eines fortbestehenden Deutschen Reiches oder anderer fiktiver „Staaten“ betrachten. Es handelt sich um ein heterogenes Phänomen mit geringem Organisationsgrad. Nach Erkenntnis der Sicherheitsbehörden agieren die meisten Reichsbürger allein oder in Klein- und Kleinstgruppen. Insofern suggeriert der Begriff „Reichsbürgerbewegung“ mehr Kohärenz, als vorhanden ist. Es gibt inhaltliche und personelle Überschneidungen mit der rechtsextremen und Parallelen in der linksextremen Szene. Die Protagonisten berufen sich auf wechselnde, oft widersprüchliche Theoriegebäude, bilden Allianzen und spalten sich. Gruppen sind in der Regel kurzlebig, Neugründungen in rascher Folge sind häufig.

Erscheinungsformen

1985 gründete Wolfgang Ebel (1939 – 2014), der sich als West-Berliner Mitarbeiter der DDR-Reichs(!)bahn für einen Beamten des fortbestehenden Deutschen Reiches hielt, die Kommissarische Regierung des Deutschen Reiches (KRR). Obwohl er später als geistig verwirrt und strafunfähig galt, fanden sich im Laufe der Jahre Anhänger. Die juristischen Begründungen, die für alle späteren Nachahmer stilbildend wurden, können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Im Wesentlichen behauptete Ebel, mangels Friedensvertrags habe das Deutsche Reich 1945 nicht geendet, Deutschland sei nach wie vor von den Alliierten besetztes Gebiet, und alle staatlichen Strukturen der Bundesrepublik seien daher illegal. Oft wird auf eine Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts von 1973 verwiesen, die tatsächlich mit einem Weiterbestehen des Deutschen Reiches argumentierte (vgl. Caspar / Neubauer 2012).

Insgesamt ist die Szene extrem heterogen und zersplittert. Zu unterscheiden sind rein virtuelle von territorial verfassten Formen. Letztere versuchen, ihre Ideologie auf Privatgrundstücken, die sie zum „Staatsgebiet“ erklären, umzusetzen.

„Reichsbürger“ im engeren Sinne behaupten den Fortbestand des Deutschen Reiches, meist in den Grenzen von 1937 (bisweilen 1871 oder 1914), und sehen sich als dessen Sachwalter mit selbstverliehenen Leitungsämtern („Reichsverweser“, „König“, „Minister“, oft mit mehr Häuptlingen als Indianern). In diese Gruppe gehören bzw. gehörten neben der KRR auch die von dem ehemaligen RAF-Terroristen und späteren Rechtsextremisten Horst Mahler gegründete Völkische Reichsbewegung sowie die Interimpartei Deutschland (IPD), der Volks-Bundesrath, das Deutsche Polizei-Hilfswerk (DPHW)u. a.

„Selbstverwalter“ bestreiten zwar ebenfalls die Legitimität der Bundesrepublik, nennen sie „Deutschland GmbH“ und sehen ihre politische Leitung als illegitime „Geschäftsführung“, knüpfen aber nicht ans Reich an, sondern erklären ohne historischen Rückbezug ihren „Austritt aus der BRD“, begreifen sich also als Staatsneugründung, so etwa der Staat Ur bei Zeitz und – eine der größten Gruppen überhaupt – das 2012 auf einem aufgelassenen Wittenberger Klinikgelände entstandene Königreich Deutschland des später inhaftierten Esoterik-Anbieters Peter Fitzek.

Die meisten Anhänger jedoch sind Einzelgänger, die vor allem Fundamentalopposition betreiben und Behörden in uferlose Auseinandersetzungen verwickeln. Kompromissbereit gegenüber dem Staat sind sie nur beim Erhalt von Sozialleistungen.

Weniger beachtet sind esoterisch-ökologische Gemeinschaften wie die von der russischen Anastasia-Buchreihe angestoßenen Familiensitz-Siedlungen(vgl. Koch / Warnemann 2019). In Brandenburg rief die vegetarische Natürliche Selbstverwaltung oekogekko,seit2009 im Visier des Verfassungsschutzes, einen Staat aus. Nicht weit entfernt verhinderte im selben Jahr die Polizei die Gründung einer Öko-Kommune namens Fürstentum Germania.

Aktivitäten und Verbreitung

Reichsbürger versuchen in der Regel nicht wirklich, das Deutsche Reich wiederzuerrichten, „ernstzunehmende ziel- und zweckgerichtete politische Verhaltensweisen“ fehlen (Deutscher Bundestag 2012). Einige untermauern ihre staatlichen Ambitionen durch die Behauptung hoheitlicher Funktionen, insbesondere die kostenpflichtige Ausstellung von Ausweispapieren, Führerscheinen und Nummernschildern, oder die Gründung von Renten- und Krankenversicherungen. Der Verkauf solcher wertloser Dokumente an die eigenen Unterstützer sichert zwar die „Staats“finanzen, wird aber schnell juristisch heikel und führt regelmäßig zu Verurteilungen. Auch Wappen und Titel sind sehr wichtig, ein Hinweis auf die narzisstische Persönlichkeitsstruktur vieler Reichsbürger. Identitätsstiftend ist v. a. die Sabotage staatlicher Behördenfunktionen. Da man sich nicht als „Personal“ der „Deutschland GmbH“ sieht, wird oft die Zahlung aller Abgaben verweigert. Für viele scheint diese Zahlungsvermeidung überhaupt die Hauptmotivation zu sein. Als Reaktion auf amtliche Schreiben werden Behörden mit seitenlangen Widersprüchen eingedeckt, Bußgeldbescheide mit Gegenforderungen gekontert, alles mit haltlosen juristischen Begründungen, die allein darauf angelegt sind, den Betrieb lahmzulegen.

Bei persönlichen Begegnungen werden Amtsträger mit Vorträgen über ihr „ungesetzliches“ Handeln konfrontiert. Ihnen werden Strafen durch die jeweilige „Reichsregierung“ angedroht. Zunehmend werden Behördenvertreter auch körperlich angegriffen. Häufig und besonders effizient: Sie werden auch als Privatpersonen eingeschüchtert. Das geschieht u. a., indem man via Internet in ein amerikanisches Schuldenregister erfundene Forderungen gegen sie einträgt, die dann an Inkassofirmen in Malta gehen. Der Betroffene erhält einen echten Mahnbescheid aus einem EU-Staat, der Rechtsabkommen mit Deutschland hat. Früher hatten solche Methoden sogar gelegentlich Erfolg, wenn auf sich gestellte Behörden entnervt auf die Eintreibung kleinerer Geldforderungen verzichteten. Aber auch die rein verzögernde Sabotagetaktik ist aus Reichsbürgersicht ein Erfolg. Mit ihr können Einzelpersonen die Funktionsfähigkeit einer rechtsstaatlichen Bürokratie stark behindern. Inzwischen gibt es für Behörden eine Reihe von Ratgebern für den Umgang mit Reichsbürgerinterventionen.

Die Problematik der Reichsbürger wurde lange unterschätzt. So vertrat der Rapper Xavier Naidoo jahrelang öffentlich reichsbürgerliche Verschwörungstheorien, ohne damit seiner Popularität bei Kollegen, Fans und Medien zu schaden. Noch 2015 führte öffentliche Kritik an Naidoos Positionen zu Solidaritätsbekundungen zahlreicher Prominenter aus der Kulturszene.

Bis 2016 gingen die Behörden von bundesweit weniger als 1000 Reichsbürgern aus, viele Bundesländer erhoben nicht einmal Zahlen. Erst nach einem Polizistenmord in Bayern wurden die Zahlen in kurzer Zeit um ein Vielfaches nach oben korrigiert. Heute schätzt man sie auf etwa 20 000 mit leicht wachsender Tendenz (Bundesministerium des Innern 2021), die Hälfte davon in Bayern. Für das Jahr 2020 sind ihnen laut Verfassungsschutz 772 politische Straftaten zuzurechnen, davon 125 Gewalttaten. Etwa 5 % der Szene gelten als waffenaffin.

Politische Orientierung und Gewaltbereitschaft

In den Medien wird das Phänomen häufig summarisch als rechtsextremistisch eingeordnet. Das legt sich oberflächlich angesichts der historischen Bezüge auf „Deutsches Reich“ und „1937“ und die Symbolik (Reichsflaggen) nahe. Trotzdem zielt es am Kern der Sache vorbei. Reichsbürger vertreten selten eine auch nur ansatzweise kohärente politische Programmatik. Die wenigsten sind in rechtsextremen politischen Organisation aktiv, der Verfassungsschutz ordnet 5 % so ein:

„Nur ein geringer Teil der ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ ist auch dem Rechtsextremismus zuzurechnen. Überschneidungen finden sich insbesondere bei den Themenfeldern Gebiets- und Geschichtsrevisionismus, völkisches und teilweise nationalsozialistisches Gedankengut sowie Antisemitismus. Bei den allermeisten Szeneangehörigen sind rechtsextremistische Ideologieelemente jedoch nur gering bis gar nicht auszumachen“ (Bundesministerium des Innern 2021, 113).

Typisch ist der ehemalige Linksterrorist Horst Mahler. Seit 1994 vertrat er reichsbürgerliche Wahnideen, im August 2003 veröffentlichte er online das Manifest „Verkündigung an die Reichsbürgerbewegung“, das mit den Worten „Das Heilige Deutsche Reich komme, sein Wille geschehe!“ endet. Gleichzeitig war er von 2000 bis 2003 prominentes NPD-Mitglied und vertrat die Partei im Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Nach Verfahrensschluss trat er aber mit einer vielsagenden Begründung aus der NPD aus: „Die NPD ist eine am Parlamentarismus ausgerichtete Partei, deshalb unzeitgemäß und – wie das parlamentarische System selbst – zum Untergang verurteilt“ (vgl. Aydt 2004, 109). Reichsbürger sind ideologisch und charakterlich eher auf Obstruktion geeicht als auf Wirkung in den Strukturen eines Staates, dessen Existenz sie bestreiten.

Auch umgekehrt „finden [Reichsbürger] im rechtsextremistischen Spektrum wenig Zustimmung“ (Deutscher Bundestag 2012), da sie bei politisch aktiven Neonazis in entsprechenden Organisationen und Parteien als wahnhafte Wirrköpfe gelten und aufgrund ihres Querulantentums schlecht integrierbar sind.

Typischer als politischer Extremismus im eigentlichen Sinn sind Elemente, die nicht eindeutig in ein Links-Rechts Schema passen: Aussteigerverhalten, esoterische Weltdeutungen, Alternativmedizin, ökologische Lebensweisen, alternative Ökonomieentwürfe (Tauschringe, Alternativwährungen). Attraktiv ist alles, was dem gesellschaftlichen Normalfall widerspricht, offizielle Narrative infrage stellt und was provoziert. Im Jahr 2020 waren Reichsbürger regelmäßig unter den Demonstranten und Demonstrantinnen, die die staatliche Corona-Politik kritisierten – eine ursprünglich eher linksesoterische Bewegung (wie die Uni Basel entgegen ihren Erwartungen herausfand, vgl. Frei u. a. 2020; Funkschmidt 2021), die sich später teilweise weit nach rechts bewegte. Der Kern der Reichsbürgerideologie ist nicht politisch, sondern verschwörungstheoretisch: Alle Obrigkeiten täuschen uns seit Jahrzehnten systematisch über den wahren Charakter unseres gesamten Gemeinwesens. Typischerweise sind daher Reichsbürger auch für andere Verschwörungstheorien anfällig.

Die Behörden hielten Reichsbürger lange für eher ungefährlich. Klar war nur, dass die wahnhafte Ideologie zu radikalisierten Einzelakten führen könnte, ansonsten kamen aber vor allem Straftaten vor, die immer wieder zu Gerichtsverfahren führten und juristisch „im Griff“ waren (Widerstand gegen die Staatsgewalt, Amtsanmaßung usw.). Sie endeten regelmäßig mit Geld- und Gefängnisstrafen sowie Auflösungsverfügungen. Erst später wurde klar, dass sich die Szene jahrelang unbemerkt radikalisierte und Reichsbürger überdurchschnittlich häufig Waffenscheine besaßen, teilweise auch Schusswaffen horteten. Im August 2016 kam es zu einem Schusswechsel mit der Polizei in Zeitz (mehrere Verletzte). Der Hausbesitzer hatte 2014 auf seinem Grundstück den Staat Ur ausgerufen und Zahlungen verweigert, bis sein Haus zwangsversteigert wurde. Der Fall zeigte einerseits das Gewaltrisiko der Reichsbürgerszene, aber auch ihr begrenztes Aktivierungspotenzial: Von den am Vortag noch anwesenden 150 Unterstützern war bei der Räumung letztlich nur ein Dutzend geblieben. Dieser Fall änderte die offizielle Einschätzung zunächst noch nicht wesentlich. Sachsen-Anhalts damaliger Verfassungsschutzchef Jochen Hollmann erklärte noch Wochen später: „Der gemeine ,Reichsbürger‘ ist narzisstisch, mitunter verschroben und überwiegend penetrant“, das Gros verstoße zwar gegen Gesetze, sei aber nicht verfassungsgefährdend. Der Bundestagsbericht 2012 hatte es ähnlich gesehen: Zwar drohen Reichsbürger nicht selten mit „Strafmaßnahmen“ bis hin zum Mord, doch lägen „keine Erkenntnisse darüber vor, dass [solche Drohungen] ursächlich für Gewalttaten waren“ (Deutscher Bundestag 2012).

Erst nachdem im Oktober 2016 ein Reichsbürger in Georgensgmünd (Bayern) einen Polizisten erschossen hatte, als in seinem Haus Waffen beschlagnahmt werden sollten, änderte sich die offizielle Lagebeurteilung. Seitdem werden in allen Ländern Zahlen erhoben und regelmäßig Waffenscheine überprüft und widerrufen. Möglicherweise ist es diesem Druck zu verdanken, dass es bis heute bei diesen beiden Einzelfällen geblieben ist.

Internationale und linksextremistische Parallelen

Auch in anderen Ländern gibt es vergleichbare Erscheinungen. Bekannt geworden sind territoriale „Mikronationen“ wie das Fürstentum Sealand auf einer englischen Fliegerabwehrplattform in der Nordsee (seit 1967), der Staat Avalon als radikal libertäres Gesellschaftsmodell eines Schweizer Unternehmers und das feministische drei Hektar große Other World Kingdom in Tschechien mit eigener Währung, Ausweisen usw. (1996 – 2008). Im angelsächsischen Bereich wirken seit den 1970er Jahren Gruppen wie Freemen on the Land, Guardians of the Free Republics oder die Moorish National Republic schwarzer Muslime. Sie bestreiten die Existenz der USA. Hauptanliegen ist auch hier oft Steuervermeidung. Siewollen aus dem Staat „austreten“ und erkennen für sich allein das „Common Law“ (Naturrecht) an, benutzen oft rechtsextreme und christliche Rhetorik und besetzen gelegentlich Häuser. Die amerikanische Szene ist gewalttätiger als die europäische (mehrere Polizistenmorde) und überschneidet sich mit der „Truther“-Bewegung, gut vernetzten Verschwörungstheoretikern, welche die „offizielle Version“ der Anschläge vom 11.9.2001 bestreiten.

Ebenfalls geistesverwandt, doch politisch gefährlicher als die Reichsbürger sind in Europa linksextremistische und anarchistische Siedlungs- und Wohngemeinschaften, oft als „Autonome“ und „Aktivisten“ verharmlost. Auch sie bestreiten die Legitimität der jeweiligen Staaten, sind oft esoterisch-ökologisch orientiert, bauen parastaatliche Strukturen auf und erobern rechtsfreie Räume. Sie sind weit besser organisiert und gewalttätiger als die Reichsbürger. Ihr Feindbild ist nicht die „Deutschland GmbH“, sondern „der faschistische Staat“ oder schlicht „das System“. Erfolgreich wurde die historische Hausbesetzungsbewegung, die weit in den gesellschaftlichen Mainstream ausstrahlte. Das europaweit langlebigste Projekt ist die 1971 aus der Hausbesetzerszene hervorgegangene, oft als Hippie-Kommune verharmloste, 34 Hektar große anarchistische Freistadt Christiania in Kopenhagen mit ca. 1000 Bewohnern (vgl. Walther 2012). Auch hier sind bereits Polizisten durch Schüsse schwer verletzt worden, was ihrer romantischen Verklärung in „alternativen Kreisen“ bis heute keinen Abbruch tut.

Diesen Projekten kommt im Vergleich mit den Reichsbürgern dreierlei zugute: Sie können an der Basis eine große Zahl extrem gewaltbereiter Unterstützer mobilisieren, oft sogar ausreichend, um erfolgreich der Polizei Paroli zu bieten; Unterstützer mit zum Teil unklarem Verhältnis zum staatlichen Gewaltmonopol sitzen heute gelegentlich sogar in staatlichen Führungspositionen und in Regierungsparteien; die Medien begegnen solchen „links“ konnotierten Projekten einschließlich der mit ihnen verbundenen Gewalt mit mehr Nachsicht bis hin zur offenen Unterstützung (vgl. z. B. Stokowski 2017: „Antifa bleibt Handarbeit“) als den geschichtsrevisionistischen Reichsbürgern.

Einschätzung

Stephen Kent (2013) zeigt plausibel eine Korrelation der Freemen on the Land usw. mit sozialen Verwerfungen, namentlich der Zunahme von Privatinsolvenzen infolge von Wirtschaftskrisen seit den 1980er Jahren. Neben solchen ökonomischen Auslösern wird man aber auch tiefere gesellschaftliche Ursachen in Betracht ziehen müssen. Dazu zählt ein weit verbreiteter relativistischer Hyperindividualismus (wahr ist, was ich fühle), der weithin gesellschaftliche Diskurse beherrscht, Normen und Gewissheiten außer Kraft setzt. Dahinter steht ein radikaler Konstruktivismus, der – als „kritische Grundhaltung“ trivialisiert – zum Mainstream geworden ist (vgl. Latour 2004). Er geriert sich als „kritisches Bewusstsein“, stellt programmatisch alle sozialen (teils auch biologischen) Wirklichkeiten unter Ideologieverdacht, erklärt grundsätzliches Totalmisstrauen zur Tugend und unterhöhlt damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die damit einhergehende Verunsicherung greift tief und ist unabhängig von fluktuierenden ökonomischen Entwicklungen.

Die Frage des Konstruktivismus „cui bono?“ (wem nützt es?) soll allgegenwärtige, aber unsichtbare, weil „strukturelle“ Herrschaftsstrukturen demaskieren. Cui bono ist aber nicht zufällig auch die Maxime jeder Verschwörungstheorie. Wo alle Gesellschaftsanalysen auf verborgene Absichten und Herrschaftsstrukturen hinauslaufen, gibt es letztlich keine gemeinsame vorfindliche Realität mehr. Alles ist von jedem subjektiv konstruiert, weil es jeder anders erlebt („gefühlte Wirklichkeit“) – kein Sehender kann einen Blinden begreifen, kein Mann eine Frau verstehen, kein Weißer erfassen, was Rassismus ist. In diesem Horizont gilt es heute weithin als ausgemacht, dass jede Weltwahrnehmung potenziell gleichrangig sein und ernst genommen werden müsse. In einer solchen Situation ist die Reichsbürgerideologie nur ein Ausdruck von vielen Exzessen des radikalkonstruktivistischen Subjektivismus. Wenn selbst die menschliche Zweigeschlechtlichkeit nur ein „soziales Konstrukt“ sein soll, in dem jeder sich frei definieren kann, müsste das nicht logischerweise erst recht für den Staat gelten, dem einer (nicht) angehört? Immerhin sind Staaten tatsächlich soziale Konstrukte, nicht biologische Gegebenheiten.

Hinzu kommt schließlich eine veränderte Bewertung des Opferstatus. Das Gefühl, zu einer zu kurz gekommenen Gruppe zu gehören, ist heute – ohne Nachweispflicht und unabhängig von der Faktenbasis der entsprechenden Gefühle – häufig positiv besetzt und identitätsstiftend, wird manchmal finanziell honoriert und ist dadurch attraktiv. Verfolgt man die Diskussionen unter Reichsbürgern, erhält man einen lebhaften Eindruck von den Wonnen des Beleidigtseins.

Reichsbürger und Co. sind die extremen und psychopathologischen Auswüchse eines abnehmenden gesellschaftlichen Gemeinsinns und eines schwindenden Vertrauens zu Mitmenschen und Institutionen. Sie sind auch Ausdruck verbreiteter Ohnmachtsgefühle in einer unübersichtlichen Welt. Diese geistig-kulturelle Großwetterlage ist die Ursache, auf der das Symptom der Reichsbürgerideologie wächst. Diese Gesamtsituation ist gefährlicher als die eigentlichen Aktivisten, die zu wirr und zu zersplittert sind, um eine gesellschaftliche Destabilisierung bewirken zu können.

Kai Funkschmidt, August 2021


Literatur

Aydt, Frank (2004): Grenzgänger zwischen Alter und Neuer Rechter. Sprache und Ideologie Horst Mahlers am Beispiel seiner Propaganda im Internet, in: Gessenharter, Wolfgang / Pfeiffer, Thomas (Hg.): Die Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie?, Wiesbaden, 107 – 116.

Bundesministerium des Innern (2021), Verfassungsschutzbericht 2020, Berlin.
Carlhoff, Hans-Werner (2013): Eine neue Art von Sekten? Die „Reichsbürgerbewegung“ und ihre ideologischen / weltanschaulichen Hintergründe, Vortrag bei der European Federation of Centres of Research and Information on Sectarianism (FECRIS), Kopenhagen, 30.5.2013.

Caspar, Christa / Neubauer, Reinhard (2012): Durchs wilde Absurdistan, in: Verwaltungsrechts-Zeitschrift für die Länder Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen 22, 529 – 576.

Deutsche Anwaltauskunft / Magazin (2015): Ist Deutschland eine GmbH?, 29.4.2015, https://tinyurl.com/4bd3pydd (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 2.7.2021).

Deutscher Bundestag (2012): Rechtsextreme Tendenzen in der sogenannten Reichsbürgerbewegung, Drucksache 17/11970 (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage mehrerer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE), 20.12.2012.

Frei, Nadine / Nachtwey, Oliver / Schäfer, Robert (2020): Politische Soziologie der Corona-Proteste, 17.12.2020, https://osf.io/preprints/socarxiv/zyp3f

Fuligni, Bruno (2016): Royaumes d’aventure. Ils ont fondé leur propre état, Paris.
Funkschmidt, Kai (2021): Querdenker weniger rechts und weniger christlich als angenommen, in: ZRW. Materialdienst der EZW 84/2, 96 – 99.

Ginsburg, Tobias (2018): Die Reise ins Reich. Unter Reichsbürgern, Berlin.

Homburg, Heiko / Stahl, Trystan (2018): „Souveräne Bürger“ in den USA und deutsche „Reichsbürger“ – ein Vergleich hinsichtlich Ideologie und Gefahrenpotential, in: Wilking, Dirk (Hg.): Reichsbürger. Ein Handbuch, 3. Aufl., Potsdam, 263 – 284.

Kent, Stephen A. (2013): Freemen, Sovereign Citizens, and the Threat to Public Order in British Heritage Countries, Vortrag bei der European Federation of Centres of Research and Information on Sectarianism (FECRIS), Kopenhagen, 30.5.2013.

Latour, Bruno (2004): Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 30, 225 – 248, http://www.bruno-latour.fr/node/165.

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