Rechtes Christentum

In Deutschland haben „rechte Christen“1 zuletzt in den Corona-Jahren allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So traten bei „Anti-Corona-Demos“ regelmäßig Personen in Erscheinung, die mit ihrem Protest gegen die „totalitären“ Eingriffe des Staates und gegen die mediale „Meinungsdiktatur“ unüberhörbar rechtspopulistische Töne anstimmten und sich dabei unübersehbar auf ihr Christentum beriefen. Die Nähe bestimmter christlicher Kreise zum Rechtspopulismus ist aber schon länger unverkennbar. Nicht wenige Christen sympathisierten von Anfang an mit der 2014 begründeten „Pegida“-Bewegung, und wenig später wurde die Bundesvereinigung „Christen in der AfD“ ins Leben gerufen. Wer indessen ab und an einen Blick in die pietistisch-evangelikale Zeitschrift „idea spektrum“ oder auf das katholische Internetportal „kath.net“ geworfen hat, dem werden auch schon zuvor die thematischen Schnittmengen zwischen AfD oder Pegida auf der einen und rechtsprotestantischen wie rechtskatholischen Milieus auf der anderen Seite nicht entgangen sein.

Welche politisch-religiösen Haltungen kennzeichnen diese „rechtschristliche“ Szene? Welche theologischen Motive werden dort geltend gemacht? Und wie verhält sich das rechte zu einem konservativen Christentum, dem es in mancher Hinsicht ähnelt? Bevor diese Fragen beantwortet werden, soll zunächst eine terminologische Klärung zum Richtungsbegriff erfolgen, der dabei in Anschlag gebracht wird.

Was heißt „rechts“?

So geläufig die politischen Richtungskoordinaten „rechts“ und „links“ sind, so wenig trivial ist es, ihren genaueren Sinn anzugeben. Dasselbe gilt für Ableitungen wie „rechtsextrem“ oder „rechtspopulistisch“. Erschwerend wirkt dabei, dass die Ausdrücke im politischen Meinungsstreit nicht selten in diffamierender Absicht und entsprechend variabel gebraucht werden. Von „links außen“ wird manches als „rechts“ oder gar „rechtsextrem“ bezeichnet, was einer abgewogeneren Einschätzung nach lediglich als „konservativ“ zu gelten hat. Umgekehrt wird von manchen veritablen „Rechten“ das harmlosere Attribut des „Konservativen“ in bewusster Verschleierungsabsicht für die eigene Position in Anspruch genommen.2 Trotz ihrer unabstreifbaren Vagheit und Missbrauchsanfälligkeit sind die fraglichen Richtungsbegriffe zur Grundorientierung im Feld der politischen Positionen wohl unverzichtbar. Aber vorschnelle Zuschreibungen sind zu vermeiden.

Im politikwissenschaftlichen Begriffsgebrauch (der allerdings selbst nicht ganz einheitlich ist) steht der Ausdruck „rechts“ nicht für ein in sich geschlossenes weltanschaulich-ideologisches System, sondern für ein mehr oder weniger eng verknüpftes Bündel politisch-ideologischer Motive, die von Einzelnen selten in Gänze, aber regelmäßig in einer gewissen Häufung geteilt werden. Typisch für eine „rechte“ Gesinnung sind demnach vornehmlich folgende Leitideen: Bewahrt oder wiederhergestellt werden soll ein ethnisch oder wenigstens kulturell möglichst homogenes Nationalvolk (teils verortet innerhalb eines kulturell möglichst homogenen Europas), das dem Einzelnen eine tragende kulturelle Identität verleiht und seinem Leben objektive Ordnungen und Wertorientierungen vorgibt (von der Einzelnen ist meist nicht eigens die Rede); daraus leitet sich eine Ablehnung von Immigration sowie Immigrantinnen und Immigranten ab, die von der Befürwortung eines restriktiven staatlichen Begrenzungsregimes bis zu genereller Ausländerfeindlichkeit reichen kann. Jener Kollektividee des Volkes gegenüber werden die „liberalen“ Ideen der Freiheit des Einzelnen und eines damit einhergehenden Wertepluralismus (mehr oder weniger) radikal zurückgestuft, weil sie die gemeinschaftliche Ordnung in individualistische und relativistische „Beliebigkeit“ aufzulösen drohen. Auch die Ideen universeller Freiheits- und Gleichheitsrechte werden kritisch betrachtet, sofern ihre Realisierung die partikulare Eigenart und Stärke der eigenen Nation oder auch die darin vorherrschenden Ungleichheitsordnungen infrage stellt. Damit einher geht mindestens eine Reserve gegenüber der parlamentarischen Demokratie, weil sie den Wertepluralismus gewissermaßen politisch verkörpert und durch das Prinzip des Mehrheitsentscheids keine Absicherung gegen politische Fehlsteuerungen bietet.

Der Terminus „rechtsextrem“ fügt diesem Ideenkomplex vornehmlich das Merkmal ausgesprochener Verfassungsfeindlichkeit hinzu. „Rechtspopulistisch“ werden rechte Einstellungen und Äußerungen genannt, sofern sie den Gegensatz des breiten „Volkes“ zu einer vermeintlich volksfernen Elite stark machen und selbiges Volk mit stark vereinfachenden, aggressiv zuspitzenden Parolen und apokalyptischen Bedrohungsszenarien zu gewinnen versuchen. Als „Neue Rechte“ (und davon abgeleitet „neurechts“) firmiert eine Strömung innerhalb der in Rede stehenden Sphäre, die sich bewusst vom Nationalsozialismus distanziert und sich stattdessen auf „konservativ-revolutionäre“ Kreise beruft, die sowohl die liberale Weimarer Republik als auch das verbrecherische Naziregime abgelehnt hätten.

Die bunte „Ökumene von rechts“

Wer sind und was wollen nun „rechte Christen“? Allgemein gesprochen handelt es sich um Menschen, bei denen ethisch-politische Einstellungen aus dem Arsenal rechter Ideale eng mit christlich-religiösen Motiven verwoben sind. Das Spektrum der zugehörigen Personen ist divers, konfessionell wie positionell: Lutheraner, die mit Berufung auf die Schöpfungsordnung gegen die multikulturelle Durchmischung des deutschen Volkes protestieren; Evangelikale, die mit dem alttestamentlichen Heiligkeitsgesetz die „Ehe für alle“ verdammen; Pfingstler, die im Namen der Gewissensfreiheit gegen staatliche Hygienemaßnahmen mobilisieren; Katholiken, die mit Mariendogma und tridentinischer Messe gegen die Verderbnisse des modernen Liberalismus fechten – sie alle finden, unbeschadet gravierender Differenzen, in der Opposition gegen den „Mainstream“ in Politik und Kirchen zusammen. Dabei variiert auch die Radikalität der Opposition. Konservative Christen mit einem gewissen Hang zu antiliberaler Rhetorik markieren den linken, Anhängerinnen der Identitären Bewegung mit einer ungehemmten Lust an aggressiver Polemik den rechten Rand des Terrains. Ungeachtet dieser Unterschiede darf der polemische Tonfall, der teils mehr, teils weniger dominant ist, durchaus als ein gemeinsames Stilmerkmal rechtschristlicher Äußerungen gelten: Häufig entsteht beim Hören oder Lesen unwillkürlich das Bild von einem Christentum mit der Faust in der Tasche.

Der polemischen Stiltendenz innerhalb der „Ökumene von rechts“ entspricht der inhaltliche Grundkonsens im Dagegensein. „Rechtes Christentum“ ist ein Gegenprojekt; es versteht sich als notwendige Alternative zu einem „linken“ Christentum, das meist mit den Großkirchen und ihren Leitungsfunktionären identifiziert wird. Ihnen wird vorgeworfen, in beflissener Anpassung an den „Zeitgeist“ das wahre Christentum verraten und das Ende der christlich geprägten Gesellschaft eingeleitet zu haben.

Das rechte Krisenbewusstsein

Die Basis rechtschristlicher Anti-Haltung ist ein umfassendes Krisenbewusstsein. Die Protagonisten leiden an den kulturellen Wandlungen, die sie oftmals mit dem Symboljahr „1968“ verbinden und als allgemeinen „Linksruck“ beschreiben. Sexuelle Revolution, Straffreiheit von Abtreibung, Legalisierung und Akzeptanz der Homosexualität (bis hin zur „Homo-Ehe“), Verflüssigung von Geschlechtszuschreibungen und Geschlechterrollen („Genderismus“) – der Umbruch in diesen sexual- und genderethischen Fragen wird von vielen als „Kulturbruch“ empfunden. Hinzu kommen die ethnisch-kulturellen Verschiebungen durch die „Masseneinwanderung“, gerade aus mehrheitlich muslimischen Ländern, aber auch die Transformationswirkungen von globalisiertem Kapitalismus und technischem Fortschritt, die in der Wahrnehmung vieler eine geistentleerte Kultur der Zerstreuung und des Konsumismus hervorgebracht haben. Die öffentlich und mit Nachdruck erhobenen Forderungen radikalen Umdenkens und Umsteuerns in Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung und Diskriminierungsprävention (Postkolonialismus, „Wokismus“, Gendersprache) sowie des Umwelt- und Klimaschutzes („Ökologismus“) werden schließlich von nicht wenigen als bedrohliche Eingriffe in ihre bewährten Selbstverständnisse und Lebensgewohnheiten erlebt.

Verschärft wird all dies durch den verbreiteten Eindruck, die besagten Entwicklungen würden von maßgeblichen Teilen nicht nur der Gesellschaft, sondern insbesondere auch der Leitmedien und der politischen Eliten bewusst vorangetrieben, zur Zerstörung traditioneller Werte und Ordnungen. Bei manchen erwachsen daraus wiederum antistaatliche oder antidemokratische Affekte, außerdem eine Affinität zu „Alternativmedien“ und „alternativen Wahrheiten“. Dabei nehmen die im Milieu umlaufenden Verschwörungstheorien (wie die einer drohenden Welteinheitsregierung) zum Teil antisemitische Stereotype auf. Ein dezidierter Antisemitismus allerdings ist – im Gegensatz zur dominanten Muslimfeindlichkeit – selten auszumachen.

Nimmt man die mannigfachen Krisenempfindungen zusammen, lässt sich sagen: Wie wohl bei „Rechten“ überhaupt ist die einende Mentalität „rechter Christen“ ein tiefes Dekadenzgefühl angesichts der liberalen und pluralen Gesellschaft von heute. Dieses Gefühl eines umgreifenden Verfalls betrifft bei ihnen nun aber auch und gerade den Bereich der Religion: Man teilt die Diagnose einer allgemeinen Entchristlichung und einer fortgeschrittenen Islamisierung Deutschlands und Europas. Weil aber die Kirchen mit ihrer theologischen Liberalisierung, ihrer linksorientierten Politisierung und ihrer interreligiösen Dialogoffenheit selbst wesentlich zu dieser Misere beitrügen, treten ihnen die „rechten Christen“ mit alternativen Konzepten entgegen. Sie tun dies überwiegend in echter Sorge um die Zukunft des Christentums. Insofern machte man es sich zu leicht, wenn man die ganze Richtung mit dem Vorwurf der politischen Instrumentalisierung des Christlichen abtäte.3

Theologische Grundmotive

Bewahrendes Christentum: Ordnung statt Relativismus

In Äußerungen „rechter Christen“ stößt man regelmäßig auf vier theologische Motivkomplexe. Grundlegend sind ordnungstheologische Figuren. Vor dem Hintergrund der grassierenden „Verunordnung“ der Lebensverhältnisse fungiert die Wiederherstellung gottgegebener Ordnung(en) als restauratives Basismotiv. Vor allem werden eine feste Geschlechterordnung und eine feste Ordnung in sich (d. h. ethnisch und/oder kulturell) homogener Völker („Ethnopluralismus“) behauptet. Je nach konfessioneller Herkunft beruft man sich dabei entweder auf die katholische Naturrechtstradition oder auf das neulutherische Theorem der „Schöpfungsordnungen“. Hier wie dort bildet die Vorstellung einer von Gott eingerichteten Welt mit unveränderlichen Lebensordnungen die Leitidee einer stabilen, absolut gültigen Moral. Damit lassen sich die gegenwärtigen Wandlungen ethischer Maßstäbe wenn nicht korrigieren, so doch wenigstens rundheraus als Abirrungen markieren.

Auf diese Weise findet das Dekadenzgefühl theologische Vertiefung und religiöse Weihe. Zudem sorgt die imaginäre Ordnungsidee für inneren Halt in aller Wirrnis. Und im Glanz dieser Idee verblasst auch die schwierige Frage, welche Ordnungen in welcher Grundsätzlichkeit als gegeben anzusehen sind. Denn etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter, zweifellos eine moderne Abweichung von althergebrachter Ordnung, wird von den ordo-Enthusiasten selten infrage gestellt.

Realistisches Christentum: Verantwortung statt Moralismus

Der zweite Motivkomplex ist die Kritik an der humanitaristischen „Hypermoral“ (Arnold Gehlen) in Politik und Kirche. Dabei steht meist der Umgang mit der Migrationskrise im Fokus. Namentlich die Merkel’sche Flüchtlingspolitik in den Jahren ab 2015 wird als Resultat einer universalistischen Überdehnung christlicher Liebesgesinnung verstanden. Anstelle solchen „Gutmenschentums“ müsse man sich in Wahrnehmung politischer Verantwortung generell an den konkreten Entscheidungsfolgen für die Gemeinschaft orientieren. Dazu wird nicht nur die auf Max Weber zurückgehende Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik angeführt, sondern auch die Luther’sche Unterscheidung zweier „Reiche“ des Handelns. Das Liebesgebot Jesu gelte nur für den sozialen Nahraum des Einzelnen, nicht aber für den politisch-gesellschaftlichen Großraum. Eine weltumfassende „Jedermannsliebe“ (Thomas Wawerka) sei ein Unding.

Überhaupt zielt die programmatische Eingrenzung des Liebesgebots darauf ab, den ethischen Universalismus des Christentums einzudämmen und demgegenüber die „natürlichen“ partikularen Interessen vornehmlich von Völkern bzw. Nationen aufzuwerten. In dieser Blickrichtung sollen Patriotismus und Heimatliebe ethisch rehabilitiert werden, damit auch Christenmenschen eine herkunftsbezogene Identität ausbilden und ungehemmt bejahen können.

Wehrhaftes Christentum: Selbstbehauptung statt Dialogismus

Die Einschränkung des Liebesgebots kommt aber noch auf einem weiteren Gebiet zum Tragen, auf dem sich ebenfalls das nachdrückliche Streben nach religiös-kultureller Identität geltend macht. Damit ist ein besonders prominenter Themenkomplex angesprochen: die Verteidigung des „christlichen Abendlandes“ und die ausgeprägte Muslimfeindschaft vieler „rechter Christen“. Diese Position kümmert sich wenig um die Schwellen zwischen partieller Islamkritik, genereller Islamismuskritik und pauschaler Islamfeindlichkeit und nimmt den Islam als beeindruckend und bedrohlich vitale Konkurrenzreligion wahr, die aufgrund ihrer vermeintlich wesenhaften Aggressivität, aber auch schon aufgrund ihrer morgenländischen Herkunft im christlichen Abendland eigentlich nichts zu suchen hat.

„Rechte Christen“ beschäftigt dementsprechend die Frage, wie die angestammte, aber zu übertriebener Selbstkritik, Nachgiebigkeit und Dialogbereitschaft („Dialogismus“) neigende Religion Europas – das Judentum wird in diesem Zusammenhang meist unterschlagen – zur Selbstbehauptung gegen den „raumfremden“ Islam ertüchtigt werden kann. So schwärmen manche Protagonisten der neurechten Szene unter der Parole „Verteidigung des Eigenen“ (Martin Lichtmesz) von einem „wehrhaften Christentum“, das endlich den Kampf gegen die islamische „Invasion“ in Europa aufnimmt. Das christliche Liebesgebot, außerdem der christliche Hang zu Demut und Sanftmut werden hier primär als Faktoren der „Wehrkraftzersetzung“ (Caroline Sommerfeld) gewertet.

Entschiedenes Christentum: Selbstgewissheit statt Skeptizismus

Der vierte Motivkomplex betrifft schließlich fundamentaltheologische Fragen, die auf eine innere Bedrohung des Christentums Bezug nehmen. Der kritische Geist der Aufklärung, auch das ist Konsens, habe die Fundamente des Glaubens unterhöhlt. Um dem Christentum wieder mehr Selbstgewissheit zu verleihen, müsse gegen alle subjektiven Zweifel die Objektivität der Glaubensfundamente neu hergestellt werden.

Naturgemäß treten an diesem Punkt die konfessionellen Differenzen deutlich zutage. Während die einen das Christentum auf die verbindliche katholische Tradition verpflichten wollen, plädieren die anderen für eine entschiedene Bejahung von Schrift und Bekenntnis. Doch auch diese Differenz wird in der „Ökumene von rechts“ durch eine Gemeinsamkeit überwölbt. Am Ende kommt es vornehmlich darauf an, dass die objektive Geltung des Christentums entschlossen behauptet wird. Aber darin liegt zugleich die Aporie: Die behauptete Objektivität hängt letztlich doch vom Subjekt ab, nämlich von dessen willentlicher Entscheidung, sie zu behaupten. Auch das „rechte Christentum“ erweist sich damit als infiziert vom verhassten Geist des Subjektivismus.

Gesamtcharakteristik

Wie ist die skizzierte Geisteshaltung insgesamt zu charakterisieren? Die Durchsicht der Motive zeigt, dass sie kaum an sich, sondern nur in ihrer besonderen Kombination und Zuspitzung spezifisch „rechtschristlich“ sind. Der theologischen Substanz nach schöpfen die „rechten Christen“ aus dem Reservoir konservativer Theologie (Ordnung, Verantwortung, Stärkung christlicher Prägekraft, Berufung auf objektive Fundamente). Aber sie münzen das Entnommene formal und inhaltlich merklich um. Schon die polemische Schärfe und Einseitigkeit der Argumentation machen dem Hörer oder der Leserin meist schnell deutlich, dass hier die gemäßigte Sphäre des Konservativen verlassen wurde. Angesichts besagter Umprägung lässt sich als Charakteristik formulieren: „Rechtes Christentum“ ist konservatives Christentum in populistischer Verschärfung.

Durch die Verschärfung tritt wiederum eine charakteristische Gemütslage hervor. Der aggressive Grundton, für Christen sonst eher untypisch, erklärt sich mutmaßlich aus dem Bewusstsein der kulturell-religiösen Notlage – und aus dem Bewusstsein, mit den eigenen Überzeugungen innerhalb der weitgehend liberalisierten und säkularisierten Gesellschaft in eine Minderheitsposition geraten zu sein. Zur Empfindung allgemeiner Dekadenz kommt das Gefühl der eigenen Marginalisierung. Diese doppelt depressive Gestimmtheit wird offenkundig in aggressive Entschlossenheit zur religiös-kulturellen Gegenoffensive umgewandelt. Die „rechten Christen“ fühlen sich als die letzten aufrechten Streiter im Kampf gegen die linke Übermacht. Man kann daher auch alternativ formulieren: „Rechtes Christentum“ ist christlicher Konservativismus im Kulturkampfmodus.4

Das Dilemma populistischen Christentums

Fatalerweise führt der Kampfmodus zwangsläufig in ein Dilemma: teils zu einem Glaubwürdigkeitsverlust der Akteurinnen und Akteure, teils zu einer inneren Verzerrung des Christlichen, in der es kaum noch als solches wiedererkennbar ist. Die Berufung auf göttliche Ordnungen etwa ist in ihrer politisch-moralischen Abzweckung meist so durchsichtig, dass das Argument seinen theologischen Eigensinn verliert – konservative Theologie wird zu politisierter Fronttheologie. Die ausgeprägte Aggression, die viele rechtschristliche Äußerungen leitet, führt häufig zu rigoroser Einseitigkeit samt grober Verzeichnung der Angegriffenen, was das Fairnessgebot verletzt und an der integren Gesinnung der „christlichen Streiter“ zweifeln lässt.

Ferner macht es die teils radikale Einschränkung des christlichen Liebesgebots und anderer christlicher Tugenden an vielen Stellen schwer, noch etwas vom Geist Jesu Christi in dem für den Überlebenskampf neuformierten, wehrertüchtigten Christentum zu finden – der Behauptungswille löst die christliche Identität auf, die er behaupten will.

Die Beschwörung objektiver Glaubensfundamente schließlich wird schon in dem Moment in ihrem verzweifelten Subjektivismus offenbar, in dem man bemerkt, dass der rechtsökumenische Mitstreiter ganz andere Unverbrüchlichkeiten im Banner führt – beispielsweise nicht die unfehlbare Schrift, sondern die kirchliche Tradition (die vom lutherischen Schriftprinzip gerade angegriffen wurde). Der Glaubensobjektivismus (gleich welcher konfessionellen Prägung) erscheint vollends als Attitüde, wenn man sich klarmacht, welche Zumutungen aus seiner konsequenten Durchführung jeweils folgen würden – wovon man daher meistens lieber schweigt.

An diesem Punkt rückt noch einmal ein Grundzug rechtschristlicher Haltung in den Blick. Wenn nicht alles täuscht, lebt sie ganz wesentlich von den erhebenden Augenblicken einer gemeinschaftsstiftenden Rhetorik des Anders- und Dagegenseins – darin manchen Formen von „Linkschristentum“ womöglich nicht unähnlich. In einer fremd gewordenen Welt findet man Trost und Stärkung an funkelnden Gegenideen, provokativen Parolen und heroischen Gefühlen, meist ohne an einzelne Konsequenzen allzu viele theologische Gedanken zu vergeuden.

Fazit

Wie ist zu reagieren? Man sollte „rechte Christen“ nicht reflexhaft und pauschal moralisch diffamieren. Das führt nur zu weiterer Polarisierung und zur Stärkung der Extremen. Mit den Gesprächsbereiten sollte man das Gespräch suchen, um zur Deradikalisierung beizutragen. Zugleich muss theologisch und politisch widersprochen werden, wo es angezeigt ist. Denn etwa die in der rechten Sphäre kultivierten antistaatlichen Affekte haben durchaus das Potenzial, zur Destabilisierung der demokratischen Ordnung beizutragen.5

Nicht zuletzt aber sollte man sich als „Linke“ oder „Liberaler“ in den Kirchen darin üben, konservativen Anliegen mit Verständnis und, wo nötig und möglich, mit Toleranz zu begegnen, nachdem sie als einst dominante gesellschaftliche Positionen in den vergangenen Jahrzehnten signifikant an Boden verloren haben. Toleranz ist das Ertragen dessen, was man nicht leicht ertragen kann, des Anderen, Fremden, Befremdlichen, Abgelehnten, und zwar kraft einer fundamentaleren Akzeptanz – und um des Friedens willen. Toleranz schließt Kritik nicht aus, und sie muss auch Grenzen des Tolerierbaren ziehen. Aber es könnte in Zeiten religiös-weltanschaulicher Polarisierung angezeigt sein, die enger gewordenen Grenzen im Geist der gemeinsamen christlichen Hoffnung und Verantwortung neu zu vermessen.


Martin Fritz, Januar 2024

 

Literatur

Bednarz, Liane (2018): Die Angstprediger. Wierechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern, München: Droemer.

Bednarz, Liane (2020): Rechte Christentumsdiskurse. Ein Überblick, in: Einsprüche. Studien zur Vereinnahmung von Theologie durch die extreme Rechte, Bd. 1, hg. von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, Berlin, 8–22, https://tinyurl.com/54sr3tnx.

Claussen, Johann Hinrich/Fritz, Martin/Kubik, Andreas/Leonhardt, Rochus/Scheliha, Arnulf von (2021): Christentum von rechts. Theologische Erkundungen und Kritik, Tübingen: Mohr Siebeck.

Dirsch, Felix/Engels, David (Hg.) (2022): Gebrochene Identität? Christentum, Abendland und Europa im Wandel, Bad Schussenried: GHV.

Dirsch, Felix/Münz, Volker/Wawerka, Thomas (Hg.) (2018): Rechtes Christentum? Der Glaube im Spannungsfeld von nationaler Identität, Populismus und Humanitätsgedanken, Graz: Ares.

Dirsch, Felix/Münz, Volker/Wawerka, Thomas (Hg.) (2019): Nation, Europa, Christenheit. Der Glaube zwischen Tradition, Säkularismus und Populismus, Graz: Ares.

Fritz, Martin (2021a): Im Bann der Dekadenz. Theologische Grundmotive der christlichen Rechten in Deutschland, EZW-Texte 273, Berlin: EZW (Kurzfassung in: Claussen u. a. 2021, 9–63; dort auch weitere Literatur).

Fritz, Martin (2021b): Verbitterte Konservative im Kulturkampf. Die „Neuen Rechten“ und die Religion, Publik-Forum, Nr. 14, 23.7.2021, 38–39.

Hempelmann, Reinhard/Lamprecht, Harald (Hg.) (2018): Rechtspopulismus und christlicher Glaube, EZW-Texte 256, Berlin: EZW.

Lamprecht, Harald (2021): Die göttliche Ordnung. Theologische Analysen einer Selbstdarstellung rechten Christentums, in: Einsprüche. Studien zur Vereinnahmung von Theologie durch die extreme Rechte, Bd. 2, hg. von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, Berlin, 28–45, https://tinyurl.com/2mvnkmtb.

Lühmann, Michael (2016): Meinungskampf von rechts. Über Ideologie, Programmatik und Netzwerke konservativer Christen, neurechter Medien und der AfD, hg. von der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Dresden, https://www.boell.de/sites/default/files/2015-02-meinungskampf_von_rechts.pdf

Rudolphi, Daniel (2023): DerStaatals„Tyrann“KircheundStaatimrechtenChristentum. Eine Netzwerkanalyse, ZRW 86,5, 359–375.

Strube, Sonja Angelika (2014): Rechtsextremismus als Forschungsthema der Theologie? Aktuelle Studien und eine kritische Revision traditionalismusaffiner Theologien und Frömmigkeitsstile, Theologische Revue 110, 179–194.

Strube, Sonja Angelika (Hg.) (2015): Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg i. Br.: Herder.

Strube, Sonja Angelika (2021): Publikationsorgane, Kernthemen und religiöse Stile am rechten Rand der Kirchen, in: Einsprüche. Studien zur Vereinnahmung von Theologie durch die extreme Rechte, Bd. 2, hg. von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, Berlin, 8–26,  https://tinyurl.com/2mvnkmtb.

Virchow, Fabian/Langebach, Martin/Häusler, Alexander (Hg.) (2016): Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden: Springer VS.

 

Anmerkungen

  1. Die Titulierung kann sich auf die Selbstbezeichnung einer Gruppe von einschlägigen Autorinnen und Autoren berufen. Vgl. Dirsch/Munz/Wawerka 2018. Laut der Einleitung bietet das Buch „Positionen ‚rechter Christen‘“ (15) dar. Der vorliegende Artikel ist eine Kurzfassung meiner bisherigen Veröffentlichungen zum Thema. Sie stützen sich wesentlich auf die Publikationen von Dirsch/Munz/Wawerka 2018 und 2019.
  2. Vgl. Bednarz 2020, 11f.
  3. Siehe dazu Fritz 2021a, 55 (Anm. 193).
  4. Diese Deutung des „rechten Christentums“ hält zugleich die Kontinuität wie die Wesensdifferenz zum konservativen Christentum fest und rechnet mit fließenden Übergängen. Liane Bednarz, Hans-Ulrich Probst und andere wollen demgegenüber allein die Heterogenität markieren. Siehe zur Auseinandersetzung Fritz 2021a, 89f. (Anm. 275) und 96–98.
  5. Siehe dazu jüngst Rudolphi 2023.

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