Ortsgemeinden (local churches)

„Ortsgemeinden“ (local churches) ist die Bezeichnung für eine kleine, weltweit verbreitete christliche Bewegung (andere Bezeichnung: Die Gemeinde). Zu ihrem Selbstverständnis gehört das spezifische Anliegen, dass alle wahrhaft Glaubenden und Wiedergeborenen eines Ortes Teil der einen Ortsgemeinde sind, die sich als wiederhergestellte neutestamentliche Gemeinde begreift und den Namen des jeweiligen Ortes trägt. Für dieses Verständnis von Gemeinde beruft man sich in biblizistischer Weise auf Texte der Briefliteratur des Neuen Testaments, in denen situationsbedingt jeweils eine Gemeinde am Ort vorausgesetzt wird (z. B. Korinth, Rom, Ephesus, Philippi, Kolossä).

Ausprägungen in Lehre und Praxis

Die Hervorhebung des formal verstandenen Ortsprinzips ist charakteristisches Merkmal der Ortsgemeinden, gleichzeitig Mittel der Selbstunterscheidung gegenüber anderen christlichen Gemeinschaften. In Lehre und Frömmigkeitspraxis berufen sich die Ortsgemeinden auf den chinesischen Christen und Missionar Watchman Nee (1903-1972), dessen Schriften (u. a. The Spiritual Man / Der geistliche Christ, The Normal Christian Life / Das normale Christenleben) auch in zahlreichen anderen christlichen Gemeinschaften, insbesondere im Kontext des Evangelikalismus, weite Verbreitung fanden.

Ihren organisatorischen Aufbau und ihre frömmigkeitsmäßige Prägung empfingen die Ortsgemeinden durch Witness Lee (1905-1997), einen ehemaligen Mitarbeiter Nees, unter dessen Führung sie sich seit 1962 in den USA und zahlreichen weiteren Ländern, seit 1970 auch in Deutschland ausbreiteten. Lehrfragen werden als nicht zentral angesehen. Als fundamentale Voraussetzung für das christliche Leben gilt die Erfahrung von Bekehrung und Wiedergeburt. Die Taufe, die nicht als Sakrament gilt, wird allein an Bekehrten vollzogen. Nur die Erwachsenentaufe wird anerkannt.

Das Kirchenverständnis ist in seiner antidenominationellen Ausrichtung durch John Nelson Darby (1800-1882) beeinflusst. Es lässt ökumenische Offenheit und Beziehungen zu anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften nur begrenzt zu, obgleich lehrmäßige und frömmigkeitsbezogene Anliegen mit anderen evangelikalen Gruppen geteilt werden. Vom Grundsatz her verstehen sich Ortsgemeinden als unabhängig, ihr Erscheinungsbild differiert jedoch an unterschiedlichen Orten kaum. Der zentralistische und autoritative Leitungsstil Witness Lees führte seit 1987 zur Trennung der meisten europäischen Ortsgemeinden von ihm und seiner Organisation „Living Stream Ministry“ (Anaheim, California). Die Trennung bedeutete jedoch nicht die Abkehr von zentralen Anliegen der religiösen Praxis.

Ortsgemeinden sind mit ca. 150000 Mitgliedern in ca. 2000 Gemeinden in China, Taiwan, in den USA, in Kanada, Mittel- und Südamerika, Afrika, Europa und Australien verbreitet. Die Zahl ihrer Angehörigen in Deutschland beträgt ca. 500 in ca. 15 Städten. In Stuttgart befindet sich eine Publikationseinrichtung der Ortsgemeinden, der Verlag „Der Strom“, der insbesondere Bücher von Watchman Nee, aber auch von John So u. a. publiziert. Unabhängig davon gibt es in Berlin den „Dienst im Lebensstrom / Living Stream Ministry“ (LSM), einen Verlag, der die Richtung der internationalen „Local Church Movement“ repräsentiert und dessen Vertreter die Kontinuität im Wirken Watchman Nees und Witness Lees betonen. LSM gibt deren Werke (u. a. die umfangreiche englische Ausgabe von 62 Bänden der Werke von Watchman Nee) und eine eigene Bibelübersetzung (Recovery Version) heraus. Zahlreiche Schriften Nees und Lees sind im Internet in englischer Sprache zugänglich, ebenso die Bibelübersetzung (www.ministrybooks.org).

Einschätzungen

Im nordamerikanischen Kontext war das Verhältnis zwischen Ortsgemeinden und evangelikalen Gruppen durch verschiedene öffentliche Kontroversen und gerichtliche Auseinandersetzungen bestimmt. Dabei ging es unter anderem auch um Lehrfragen (Trinität, Christologie) und Frömmigkeitspraktiken (Art des Bibellesens und Betens). Im deutschsprachigen Raum treten Ortsgemeinden mit ihren Anliegen öffentlich wenig in Erscheinung. Vereinzelt wird das Gedankengut von Gruppen aufgegriffen, die sich um Einzelpersonen (z. B. Horst Schaffranek) bilden und die Betonung des Ortsprinzips mit aggressiver Infragestellung anderer Gemeinschaften und Kirchen verbinden.

Dialoge zwischen evangelikalen Vertretern (u. a. Fuller Seminary) und Vertretern der Ortsgemeinden führten teilweise zu veränderten Beurteilungen der Schriften von Nee, Lee und LSM. Es wurde darauf hingewiesen, dass ihre lehrmäßigen Orientierungen mit zentralen Aussagen des christlichen Bekenntnisses übereinstimmen, und wahrgenommen, dass unterschiedliche Akzente im Frömmigkeitsvollzug auch kulturelle Gründe haben. 2002 wurde LSM als Mitglied der Evangelical Christian Publishers Association (ECPA) aufgenommen. Auch J. Gordon Melton attestierte der Bewegung eine Konformität mit grundlegenden christlichen Lehren. Gleichzeitig fordern andere, vor allem evangelikal geprägte Leiter, den Verlag LSM auf, sich von häretischen Lehren Witness Lees zur Trinität, zu anderen Kirchen etc. zu distanzieren und seine Texte nicht weiter zu verbreiten.

Das Konzept der Ortsgemeinde ist als Weg zur Überwindung der Spaltung und Trennung der Christen untauglich. Die Verabsolutierung eines äußeren Merkmals ruft faktisch weitere Trennungen hervor.

Reinhard Hempelmann, August 2010


Quellen 

Lee, Witness, Gottes neutestamentliche Ökonomie, Stuttgart 1980 Nee, Watchman, Die Ortsgemeinde, Stuttgart 1987


Zeitschriften

Der Lebensstrom (Living Stream Ministry / Dienst im Lebensstrom)

Die goldenen Leuchter (Verlag „Der Strom“)


Literatur

Melton, J. Gordon, Encyclopedic Handbook of Cults in America, New York / London 1986, 165-170

Melton, J. Gordon, Encyclopedia of American Religions, Detroit (Michigan) u. a. 51996, 500f

Reimer, Ingrid, Nur eine Gemeinde am Ort? – Auseinandersetzungen um die „Ortsgemeinde“, in: MD 9/1987, 261-271

Reimer, Ingrid, „Ortsgemeinden“ trennen sich von Witness Lee, in: MD 7/1990, 202-205