Evangelikale Bewegung

Wenn von den Evangelikalen gesprochen wird, kann sehr Unterschiedliches gemeint sein: unabhängige freikirchliche Bewegungen, die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, das Netzwerk Bibel und Bekenntnis, die vielfältig sich darstellende Pfingstbewegung, die evangelistische Aktion „ProChrist“, die Willow-Creek-Bewegung, die Deutsche Evangelische Allianz, mit der sich ca. 1,3 Millionen Christen in Deutschland verbunden wissen, teils aus den evangelischen Landeskirchen (ca. die Hälfte), teils aus den Freikirchen und evangelistisch ausgerichteten Initiativen. Stellungnahmen zur evangelikalen Bewegung erfordern differenzierende Wahrnehmungen und Urteilsbildungen. In Teilen der Medienöffentlichkeit werden Evangelikale pauschal mit christlichen Fundamentalisten gleichgesetzt, die gegen Homosexualität, gegen Feminismus, mithilfe exorzistischer Praktiken gegen Dämonen und den Teufel kämpfen. Eine solche Wahrnehmung trifft jedoch nur einzelne Ausprägungen des Evangelikalismus. Sie wird der Vielfalt der Bewegung nicht gerecht.

Anliegen evangelikaler Frömmigkeit

Das englische Wort evangelical kann mit evangelisch übersetzt werden. Das deutsche Wort evangelikal hat diese weite Bedeutung nicht. Es bezeichnet eine Frömmigkeitsprägung und bezieht sich auf eine spezifische Ausprägung des Evangelischen.

Die Wurzeln evangelikaler Bewegungen liegen im Pietismus, im Methodismus und in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Vorläufer haben sie in Bibel- und Missionsgesellschaften, in der Bewegung der Christlichen Vereine junger Männer und Frauen, in der Gemeinschaftsbewegung sowie in der 1846 gegründeten Evangelischen Allianz. Bereits die geschichtliche Entwicklung belegt, dass der Evangelikalismus an vorfundamentalistische Strömungen anknüpft und dass innerhalb der Bewegung ein breites Spektrum an Ausprägungen der Frömmigkeit vorliegt. Es reicht von der Heiligungsbewegung, aus der die Pfingstfrömmigkeit erwuchs, bis hin zu sozial aktiven Ausprägungen evangelikaler Frömmigkeit.

Ähnlich weit wird das Spektrum, wenn die gegenwärtige evangelikale Bewegung in ihrer globalen Verbreitung und Verzweigung ins Blickfeld kommt. Sie hat in unterschiedlichen Kontinenten verschiedene Profile. Im deutschsprachigen und europäischen Kontext geht es neben konfessionsübergreifenden missionarischen und evangelistischen Aktivitäten (u. a. Christival, Alpha-Glaubenskurse, Gemeindeaufbaukonzepte) unter anderem auch darum, überschaubare Ergänzungen und Alternativen zu landes- bzw. volkskirchlichen Einrichtungen zu entwickeln. In Afrika und Südamerika gibt es pfingstliche und charismatische Bewegungen, die ein Wohlstands- und Gesundheitsevangelium verkündigen, ebenso jedoch auch evangelikale Kreise, die sich kritisch mit ihrer eigenen Tradition auseinandersetzen und darum bemüht sind, Evangelisation und soziale Verantwortung in einen engen Zusammenhang zu bringen.

Weder die Frömmigkeitsformen noch die theologischen Akzente im Schriftverständnis, in den Zukunftserwartungen und im Verständnis von Kirche und Welt weisen ein einheitliches Bild auf. Gleichwohl lassen sich gemeinsame Anliegen in Theologie und Frömmigkeit benennen. David W. Bebbington hat vier der im Folgenden skizzierten Merkmale in seinem sogenannten „Quadrilateral“ mit den Begriffen „conversionism, activism, biblicism, crucicentrism“ (vgl. Noll / Bebbington / Marsden 2019, 31 – 55) zusammengefasst:

  • Charakteristisch für evangelikale Theologie und Frömmigkeit ist die Betonung der Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung in Buße, Bekehrung / Wiedergeburt und Heiligung sowie die Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit.
  • In Absetzung von der Bibelkritik vor allem liberaler Theologie wird die Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen unterstrichen. Entsprechend der theologischen Hochschätzung der Heiligen Schrift ist eine ausgeprägte Bibelfrömmigkeit kennzeichnend.
  • Als Zentrum der Heiligen Schrift wird vor allem das Heilswerk Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gesehen. Der zweite Glaubensartikel wird im theologischen Verständnis und in der Frömmigkeit akzentuiert. Die Einzigartigkeit Jesu Christi wird pointiert hervorgehoben. Evangelikale Religionstheologie ist exklusivistisch geprägt.
  • Gebet und Zeugendienst stehen im Mittelpunkt der Frömmigkeitspraxis. Gemeinde bzw. Kirche werden vor allem von ihrem Evangelisations- und Missionsauftrag her verstanden.
  • Die Ethik wird vor allem aus den Ordnungen Gottes und der Erwartung der Parusie Jesu Christi und des kommenden Reiches Gottes heraus entwickelt.

Kristallisationspunkt der Sammlung der Evangelikalen ist die Evangelische Allianz, die sich zunehmend in Richtung einer evangelikalen Allianz entwickelt hat. Zentrale Dokumente der Bewegung sind die Allianz-Basis (in Deutschland / Österreich und der Schweiz in unterschiedlichen Fassungen), die Lausanner Verpflichtung von 1974, die durch das Manila-Manifest (1989) bekräftigt und durch den Dritten Lausanner Kongress für Weltevangelisation in Kapstadt weitergeführt wurde, der im Oktober 2010 stattfand. Vor allem mit der Lausanner Verpflichtung bekamen die weit verzweigten evangelikalen Bewegungen ein wichtiges theologisches Konsensdokument, welches zeigt, dass sie sich nicht allein aus einer antiökumenischen und antimodernistischen Perspektive bestimmen lassen, sondern dass in ihnen die großen ökumenischen Themen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen werden (z. B. Verbindung von Evangelisation und sozialer Verantwortung, Engagement der Laien, Mission und Kultur).

Zusammenarbeit auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen

Im Unterschied zur ökumenischen Bewegung, in der Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen und gestalten, steht hinter den evangelikalen Bewegungen das Konzept einer evangelistisch-missionarisch orientierten Gesinnungsökumene, in der ekklesiologische Eigenarten und Themen zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnis der entscheidende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumenischer Verpflichtung gesehen wird. Evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Gruppen geht es weniger um die offizielle Kooperation und Gemeinschaft von Kirchen, wie dies in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) der Fall ist, sondern um eine transkonfessionell orientierte Gemeinschaft auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen.

Mit ihren Akzenten in Theologie und Frömmigkeit wird der personale Aspekt des Glaubens betont, während die Sakramente in ihrer Bedeutung zurücktreten. Das Verhältnis zwischen evangelikaler Bewegung und katholischer Kirche war über lange Zeit entsprechend distanziert. Inzwischen sind von beiden Seiten zahlreiche gemeinsame Anliegen entdeckt worden, unter anderem im pointierten Festhalten an den überlieferten Glaubensinhalten und in ethischen Orientierungen, etwa zu den Themen Ehe und Familie, Homosexualität, Lebensschutz am Anfang und Ende des Lebens. In seiner Modernitäts- und Relativismuskritik sprach Papst Benedikt XVI. vielen Evangelikalen aus dem Herzen, ebenso in seinen religionstheologischen Überlegungen (vgl. Dominus Jesus), seinen hermeneutischen Anliegen und der Christuszentriertheit vieler seiner Predigten. Die Bücher des Papstes Jesus von Nazareth I, II und III riefen in evangelikalen Kreisen ein überaus positives Echo hervor. Dabei wurde u. a. gelobt, mit welcher Entschiedenheit der Papst die Autorität und Glaubwürdigkeit der Heiligen Schrift hervorhebt. Evangelikale und Katholiken sprechen von einer „geistlichen Ökumene“, die in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen sei und die der Konsens- und Konvergenzökumene, die in Kommissionen stattfinde, etwas hinzufüge, was sich aus gemeinsamen Erklärungen nicht zwangsläufig ergebe, „eine Ökumene des gemeinsamen Lesens und betenden Bedenkens der Bibel als Wort Gottes und als Wegweisung Gottes für unser Leben; in der geistlichen Ökumene machen wir uns gemeinsam auf den Weg der Nachfolge Jesu. In dem Maße, in dem wir mit ihm eins sind, werden wir es auch untereinander sein“ (Walter Kardinal Kasper).

Vielfältige Typen innerhalb des evangelikalen Spektrums

Evangelikale Aktivitäten im deutschsprachigen Raum konkretisieren sich in zahlreichen missionarischen Aktionen, Konferenzen, in theologischer Forschung, die in den letzten Jahren einen deutlichen Kompetenzgewinn verzeichnen kann, in publizistischen Aktivitäten (z. B. „idea“) und einer wachsenden medialen Präsenz. Das Profil evangelikaler Bewegungen in Deutschland ist einerseits durch das Gegenüber zur pluralen Volkskirche und durch Kritik an bestimmten kirchlichen Entwicklungen bestimmt, andererseits auch durch konstruktive Kooperation in verschiedenen Initiativen. Erich Geldbach weist darauf hin, dass die evangelikalen Bewegungen in steigendem Maße durch „intellektuelle Offenheit und irenischen Geist“ gekennzeichnet seien (vgl. Geldbach 2005, 338). Diese Einschätzung trifft jedoch nicht gleichermaßen auf alle Ausdrucksformen des Evangelikalismus zu. Es gibt unterschiedliche Typen evangelikaler Bewegungen, die sich berühren, überschneiden, teilweise auch deutlich unterscheiden:

  • Der klassische Typ, der sich in der Evangelischen Allianz, der Gemeinschaftsbewegung und der Lausanner Bewegung konkretisiert. Dieser Strang knüpft an die „vorfundamentalistische“ Allianzbewegung an und stellt den Hauptstrom der evangelikalen Bewegung dar.
  • Der fundamentalistische Typ, für den ein Bibelverständnis charakteristisch ist, das von der absoluten Irrtumslosigkeit (inerrancy) und Unfehlbarkeit (infallibility) der „ganzen Heiligen Schrift in jeder Hinsicht“ ausgeht (vgl. Chicago-Erklärung). Kennzeichnend ist ebenso sein stark auf Abwehr und Abgrenzung gerichteter Charakter im Verhältnis zur historisch-kritischen Bibelforschung, zur Evolutionslehre, in ethischen Fragen (Abtreibung, Pornografie, Feminismus etc.).
  • Der bekenntnisorientierte Typ, der an die konfessionell orientierte Theologie, die altkirchlichen und die reformatorischen Bekenntnisse anknüpfen möchte und sich in der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ und der Konferenz Bekennender Gemeinschaften konkretisiert.
  • Der missionarisch-diakonisch orientierte Typ, der die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Evangelisation hervorhebt, in der Evangelisation und soziale Verantwortung in ihrer engen Zusammengehörigkeit akzentuiert werden. Dieser Typ ist unter anderem in der „Dritten Welt“ bei den „social concerned evangelicals“ verbreitet. Er findet seinen Ausdruck z. B. in Projekten, die an einer Kontextualisierung von Evangelisation und Mission interessiert sind.
  • Der Emerging-Church-Typ, der auf Herausforderungen der sogenannten Postmoderne reagiert, sich vielfältig in seinen Anliegen darstellt und in Theologie und Frömmigkeit auch evangelikale und charismatische Orientierungen durchbricht. Stichworte sind Kontextualität, Pluralität, Partizipation, narrative Theologie, Universalität des Heils bzw. Heilsinklusivismus. Von konservativen Evangelikalen wird dieser Typ als zu modernitätskonform kritisiert.
  • Der pfingstlich-charismatische Typ, dessen Merkmal über die evangelikale Orientierung hinaus eine auf den Heiligen Geist und die Gnadengaben (v. a. Zungenrede, Prophetie, Heilung) bezogene Frömmigkeit ist. Er hat sich seinerseits nochmals vielfältig ausdifferenziert und mindestens drei verschiedene Richtungen ausgebildet: innerkirchliche Erneuerungsgruppen, pfingstkirchliche Bewegungen, neocharismatische Zentren und Missionswerke, die sich als konfessionsunabhängig verstehen und die theologisch und in der Frömmigkeitspraxis eine große Nähe zur Pfingstbewegung aufweisen.

Zu allen Typen gibt es entsprechende Gruppenbildungen und Grundlagentexte (vgl. u. a. Hempelmann 1997, 349 – 382; zum bekenntnisorientierten Typ des Evangelikalismus siehe: Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ 1998). Auch im deutschsprachigen Raum ist inzwischen das breite Spektrum evangelikaler Bewegungen offensichtlich geworden, u. a. durch die Annäherung zwischen Evangelikalen und Charismatikern, die sich 1996 in einem gemeinsamen Dokument artikulierte und von zahlreichen Pfingstlern und Charismatikern als Jahrhundertereignis bewertet wurde (vgl. Hempelmann 1997, 380 – 382). Zur ökumenischen Bewegung, wie sie durch den Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) vertreten wird, haben der missionarisch-diakonisch orientierte Typ und der Emerging-Church-Typ die größte Affinität, während der fundamentalistische Typ die größte Distanz zu ihr hat. Eine deutlich skeptische Haltung gegenüber der Ökumene nehmen auch der bekenntnisorientierte Typ und der pfingstlich-charismatische Typ ein, vor allem der nicht konfessionsgebundene Teil der charismatischen Bewegung und große Bereiche der Pfingstbewegung.

Die Vielfalt und Diversität evangelikaler Bewegungen weist auf interne Spannungen und Kontroversen hin. Auch im evangelikalen Spektrum wird mit der Bibel in der Hand die Frauenordination begründet und abgelehnt. Mit Bezugnahme auf die Heilige Schrift wird eine bestimmte Verfassung von Gemeinschaft, Gemeinde und Kirche gefordert und als „unbiblisch“ beurteilt. Mit Berufung auf die Bibel werden unterschiedliche Plädoyers zur Homosexualitätsthematik und zur gleichgeschlechtlichen Ehe abgegeben. Der Kanon der Bibel lässt auch im evangelikalen Spektrum eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten zu. Die Bibel ist insofern nicht nur gemeinsames Fundament evangelikaler Bewegungen. Sie verbindet evangelikale Christinnen und Christen und trennt sie.

Europäischer und nordamerikanischer Evangelikalismus

Geschichtliche Wurzeln haben evangelikale Bewegungen nicht allein in Europa, sondern auch in den USA. Die Präsenz erwecklicher Bewegungen aus dem nordamerikanischen Bereich im europäischen Kontext wird oft von kulturellen Differenzerfahrungen begleitet. Historisch gesehen kehren die einst aus Europa verdrängten spiritualistischen und „wiedertäuferischen“ Strömungen zurück. Die Gestalt des Christentums, das sich im nordamerikanischen Kontext entwickelte, wird in seiner globalen Bedeutung oft unterschätzt.

Im Blick auf erweckliche Strömungen Nordamerikas können folgende Charakteristika beobachtet werden: das Auftreten plötzlicher Bekehrungen, nicht selten unter intensiven psychischen und leiblichen Begleiterscheinungen, ein der Bekehrung folgender intensiver Vollzug eines „heiligen“ christlichen Lebens (kein Alkohol, kein Drogenkonsum etc.), Gemeinschaftsbildungen von hoher Bindekraft, gottesdienstliche Versammlungen mit elementaren Predigten und großen Zuhörerschaften, heute auch in sogenannten Megachurches, Betonung eines Laienchristentums und Verwurzelung im Volk (finanzielle Eigenverantwortung der Gemeinden und Gruppen), starke Zersplitterung in zahlreiche Denominationen, zugleich Wettbewerb in gegenseitiger Hochachtung (vgl. Küng 1994, 722f).

Der voluntaristisch geprägten nordamerikanischen Religionskultur, die bis in den politischen Bereich ihre Wirkungsgeschichte hat („Yes, we can“), gaben Erweckungsbewegungen ein eigenes Gepräge. Zwar gibt es im Kontext religiöser Globalisierungsprozesse vielfältige Beziehungen, gleichzeitig allerdings signifikante Unterschiede, etwa zum Pietismus, der wichtigsten protestantischen Frömmigkeitsbewegung im kontinentalen Europa nach der Reformation. Der Pietismus blieb weitgehend im Umfeld kirchlicher Organisationen und im Bereich der evangelischen Landeskirchen und behielt vielerorts bis heute den Charakter einer innerkichlichen Erneuerungsbewegung. Erweckungsbewegungen aus dem angloamerikanischen Bereich sind jedoch transkonfessionell geprägt. Sie überschreiten Konfessions- und Ländergrenzen.

In den historischen Kirchen werden erweckliche Erneuerungsgruppen teils als Hoffnungszeichen, teils als Störung empfunden. Für ein christliches Selbstverständnis, das sich eng mit der säkularen Kultur verbunden hat, sind evangelikal geprägte Gemeinden und Gruppen ein Thema, das in direkten Zusammenhang mit der Fundamentalismusdiskussion gestellt und als Bedrohung für ein modernes, aufgeklärtes Christentum empfunden wird. Die Berichterstattung von Teilen der säkularen Medien zielte in den letzten Jahren immer wieder darauf ab, die Evangelikalen als Gefahr darzustellen. Kritik, die gegenüber Einzelgruppen berechtigt und plausibel ist, wurde pauschal auf die Bewegung als ganze übertragen. Wenn amerikanische Soziologinnen und Soziologen etwa argumentieren, dass es auch in den USA nicht bei allen Evangelikalen enge Verbindungen zum Neokonservatismus und zur religiösen Rechten gibt, ist dies fraglos zutreffend. Das politische Engagement Einzelner beschränkt sich keineswegs auf den Kampf gegen Abtreibung, Pornografie und die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften. Vielmehr haben sie auch die Bekämpfung von Armut, den Umweltschutz und das Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden auf die Agenda ihrer Aktivitäten gesetzt. Es ist jedoch im Blick auf die USA übertrieben, von einem Trend zur Distanzierung zahlreicher Evangelikaler von der religiösen Rechten zu sprechen. Vielmehr wurden im Zusammenhang der Präsidentschaft von Donald Trump die engen Verbindungen, Zusammenhänge und Übergange zwischen Evangelikalismus und der religiösen Rechten unverkennbar deutlich, sodass eine Reihe der sozial engagierten Evangelikalen inzwischen darüber nachdenken, ob sie sich noch länger als „evangelicals“ bezeichnen und verstehen wollen. Anders als in den USA stellen politisierte Formen des Evangelikalismus in Deutschland keinen hoch organisierten und politisch einflussreichen Faktor dar.

Einschätzungen

Wenn christliche Religion in intensiven Ausdrucksformen gelebt wird, ruft dies nicht nur Bewunderung und Zustimmung, sondern auch Distanzierung und Ablehnung hervor. Wo christlicher Glaube eine deutliche Gestalt gewinnt und mit großem persönlichem Einsatz gelebt wird, treten auch Gefährdungen und Schattenseiten auf. Die Ausbreitung des erwecklichen Christentums ist in den letzten Jahrzehnten von diesen Schatten begleitet worden. Es wäre jedoch falsch und verzerrend, die Wahrnehmung der Bewegungen auf ihre Schattenseiten zu konzentrieren. Allerdings kann eine Urteilsbildung auch nicht daran vorbeigehen, dass beispielsweise einzelne pfingstlich-charismatische Gruppen als konfliktträchtige religiöse Bewegungen in Erscheinung treten oder dass bestimmte Ausformungen evangelikaler Endzeiterwartungen politische Implikationen enthalten, die konfliktverschärfende politische Optionen beinhalten. Eine kritische Auseinandersetzung mit erwecklichen Frömmigkeitsformen ist insofern nötig. Sie kann an Kontroversen anknüpfen, die innerhalb dieser Bewegungen selbst sichtbar werden. Vor allem ist zu betonen, dass die vielfältigen Ausdrucksformen evangelikaler Bewegungen zu differenzierten Beurteilungen nötigen. Frömmigkeitsbewegungen brauchen solidarische und kritische Begleitung.

Die Stärke und Herausforderung der evangelikalen Bewegung besteht darin, angesichts einer oft unverbindlichen Christlichkeit die Notwendigkeit persönlicher Entscheidung und Verpflichtung hervorzuheben, auf Gestaltwerdung des gemeinschaftlichen christlichen Lebens zu drängen, Raum zu geben für den unmittelbaren Zugang jedes Christen zur Bibel und den missionarischen Auftrag in den Mittelpunkt der Glaubenspraxis zu stellen. Ihre Schwäche liegt in der Vernachlässigung historisch-kritischer Bibelinterpretation, einer verengenden Erfahrungsorientierung (Wiedergeburt als konkret datierbares Erlebnis) mit strenger Unterscheidung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden und der Tendenz der Konzentration auf die eigene Frömmigkeitsform, die die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von authentischen christlichen Lebens- und Frömmigkeitsformen zu wenig wahrnimmt.

Reinhard Hempelmann, August 2021


Literatur

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Geldbach, Erich (2005): Art. Evangelikale Bewegung, in: Baer, Harald (Hg.): Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Freiburg i. Br., 338 – 344.

Geldbach, Erich (1986): Art. Evangelikale Bewegungen, in: EKL3, Bd. 1, 1186 – 1191.

Hemminger, Hansjörg (2016): Evangelikal. Von Gotteskindern und Rechthabern, Gießen.

Hemminger, Hansjörg (2018): Die evangelikale Bewegung in Deutschland, in: Materialdienst der EZW 81/11, 403 – 411.

Hempelmann, Reinhard (Hg., 1997): Handbuch der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, Stuttgart.

Hempelmann, Reinhard (2009): Evangelikale Bewegungen, EZW-Texte 206, Berlin.

Holthaus, Stephan (2007): Die Evangelikalen. Fakten und Perspektiven, Lahr.

Jung, Friedhelm (1992): Die deutsche Evangelikale Bewegung, Frankfurt a. M.

Küng, Hans (1994): Christentum. Die religiöse Situation der Zeit, München.

Laubach, Fritz (1972): Der Aufbruch der Evangelikalen, Wuppertal.

McGrath, Alister (1993): Evangelicalism and the Future of Christianity, London.

Noll, Mark A. / Bebbington, David W. / Marsden, George M. (Hg., 2019): Evangelicals. Who they have been, are now and could be, Grand Rapids, MI.

Pally, Marcia (2010): Die neuen Evangelikalen in den USA, Berlin.

Tidball, Derek (1999): Reizwort Evangelikal, Stuttgart.