Apologetik

Apologetik ist Bezeichnung für die methodisch reflektierte Verteidigung (Apologie) des christlichen Glaubens, für die Auseinandersetzung mit den das Evangelium bestreitenden Überzeugungen und Gemeinschaftsbildungen der jeweiligen Gegenwart. Christliche Apologetik begreift sich im Spannungsfeld der Frage nach dem eigenen und dem fremden Glauben. Die Frage „Was glauben die anderen?“ ist dabei die Ausgangsfrage apologetischer Praxis, nicht aber ihre einzige. Die Beschäftigung mit dem fremden Glauben wirft die Frage nach dem eigenen auf: „Was ist christlich, was macht christliche Identität aus?“ Apologetik ist „die Antwort des Glaubens“, das Rechenschaftgeben vom christlichen Glauben (vgl. 1. Petr 3,15f), die „Kunst des Antwortens“.1  Ihre Grundsituation ist das Gefragtwerden. Die – aus welchen Gründen auch immer – Gefragten (vielleicht aus oberflächlicher Neugier, privatem oder öffentlichem Interesse oder aus Kritik und Feindschaft) sind zur Antwort herausgefordert. Dabei geht es nicht einfach um Reproduktion der kirchlichen Lehre, sondern um ein kreatives Geschehen: die Artikulation christlicher Identität unter Einbeziehung ihres Gegenübers.2

Zur Geschichte

Bereits im Neuen Testament deuten sich Grundmodelle der Apologetik an. Der Unterschied zwischen dem eigenem und dem fremden Glauben kann erst im Zusammenhang eines sorgfältigen Klärungsprozesses zutage treten. Alles zu prüfen und das Gute zu behalten (vgl. 1. Thess 5,21) „ist eine apologetische Faustregel“3. Zur Apologetik gehört freilich auch „ein Element der Konfrontation“4. Was wird hervorgehoben in der Auseinandersetzung: die Betonung der Andersartigkeit bzw. die Abgrenzung, oder geht es darum, Brücken zu bauen und Verbindungen aufzuzeigen? Bereits im Neuen Testament stehen eine stärker dialogisch orientierte Apologetik und eine traditionsorientierte Abgrenzungsapologetik nebeneinander.5  Das frühe Christentum musste sich mit zahlreichen Gefährdungen christlicher Identität auseinandersetzen: Doketismus, Gnosis, religiös-politischer Messianismus, ethischer Rigorismus und Gesetzeschristentum, apokalyptisch orientierter Enthusiasmus. Eine ganze Reihe dieser Themen gewinnt im Laufe der Geschichte der Kirche immer wieder Aktualität. Apologetische Auseinandersetzungen reagieren auch auf religiöse und gesellschaftliche Zusammenhänge. Insofern hat jeder geschichtliche und geografische Kontext spezielle Strömungen, Bewegungen und Gemeinschaftsbildungen hervorgebracht, die für die christlichen Gemeinden existenzielle Gefährdungen darstellten und zur Selbstunterscheidung herausforderten. In der Auseinandersetzung mit Ketzern und dissidierenden Minderheiten beschränkte sich die nachkonstantinische Kirche nicht auf geistliche Mittel und verleugnete damit, dass sich das Evangelium, die Botschaft von der freien Gnade Gottes, ohne menschliche Gewalt, allein durch das Wort des Evangeliums (sine vi humana sed verbo) vermittelt.

Apologetik als kirchliches Handlungsfeld

Apologetik kann als „Sprachschule des Glaubens“ bezeichnet werden. Der Apologet bzw. die Apologetin können mit Menschen an der Schwelle des Hauses verglichen werden. Sie hören die Argumente beider: „derer, die im Hause sind wie auch derer, die außerhalb des Hauses sind“6. Der Theologe Paul Tillich hat die Notwendigkeit dieser grenzüberschreitenden Kommunikation mit dem Hinweis unterstrichen, dass Argumente als Form christlichen Zeugnisses wichtig werden können, um „die intellektuellen Mauern des Skeptizismus und des Dogmatismus zu durchbrechen ... Und da solche Mauern ständig in uns allen erbaut werden und große Massen in allen sozialen Schichten von den Kirchen getrennt haben, müssen die Kirchen Apologetik treiben. Sonst können sie nicht wachsen, sondern nehmen ab und werden schließlich zu einer kleinen, unwirksamen Gruppe innerhalb einer dynamischen Kultur.“7  Auseinandersetzung mit und über konkurrierende Wahrheitsansprüche sowie die Bereitschaft, öffentlich auszusprechen, was den christlichen Glauben begründet und was ihn ausmacht, das ist Sache der Apologetik. Darin hat sie eine bleibende Bedeutung für die heutige Sendung der Kirche. Der Versuch dürfte aussichtslos sein, das Apologetische durchgehend durch das Dialogische ersetzen zu wollen. Beides gehört zusammen. Wo immer das christliche Welt- und Gottesverständnis bestritten wird, gibt es die Aufgabe der „Verteidigung, der Inschutznahme des christlichen Lebens und seiner Fundamente“.8  Evangelische Orientierungsperspektiven dafür sind: die das christliche Verständnis von Gott, Mensch und Welt zum Ausdruck bringende Rechtfertigungsbotschaft (1), das trinitarische Bekenntnis (2), das universale Ethos der Nächstenliebe (3), die Betonung des Zusammenhangs von Glaube und Vernunft (4), das Wissen um die Gebrochenheit menschlichen und christlichen Lebens (5), die Einsicht, dass biblisch inspirierter Gottesglaube die Zweideutigkeit von Religiosität und Religion wahrnimmt und religionskritische Impulse enthält (6).

Zugleich ist Apologetik Bezeichnung für ein übergemeindliches kirchliches Handlungsfeld und einen Praxisbereich, in dem es um Information, Deutung, Aufklärung über religiös-weltanschauliche Gruppierungen und Strömungen geht. Zu diesem Praxisbereich gehören Informations- und Beratungsangebote, die der Gesamtkirche, Gemeinden, Einzelpersonen, darüber hinaus auch kommunalen Einrichtungen und einer breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Zur Informationsbeschaffung gehören geregelte Verfahren: zum Beispiel der Versuch, die Innenperspektive einer religiösen Gemeinschaft zur Kenntnis zu nehmen, ihre inneren Plausibilitätsstrukturen zu verstehen, aber auch Außenperspektiven einzubeziehen und auf Erfahrungen zu hören, die beispielsweise ehemalige Mitglieder mit einer Gruppe gemacht haben. Die Kommunikationsrichtung geht dabei gleichsam in zwei Richtungen. Sie geht einmal in die Richtung der religiös-weltanschaulichen Gruppen und Strömungen; zum andern geht sie in Richtung von gemeindlicher, kirchlicher, aber auch politischer und gesellschaftlicher Öffentlichkeit. Wenn es um die Erhellung der Innenperspektive einer Gruppe geht, finden in der apologetischen Arbeit Methoden und Vorgehensweisen Anwendung, die auch sonst im Bereich sozialwissenschaftlicher Forschung und religionswissenschaftlicher und theologischer Hermeneutik angewandt werden. Das in den Selbstaussagen zum Ausdruck kommende Wahrheitsverständnis einer Gemeinschaft oder Strömung ist in seinen Ausdrucksformen, Plausibilitätsstrukturen und Begrifflichkeiten zu ermitteln. Was den Bereich von Beratung und Begleitung von Betroffenen betrifft, sind Methoden der Gesprächsführung und der Seelsorgepraxis zu berücksichtigen.

Themen

Der Bezug auf Prozesse fortschreitender Säkularisierung und religiöser Pluralisierung schwingt in allen Themenbereichen mit, auf die sich apologetische Reflexionen heute beziehen müssen:

  • In pluralistischen Gesellschaften stehen Religionsfaszination, Religionsdistanz und Religionsfundamentalismus gleichzeitig nebeneinander. Beides ist da: vielfältige Ausprägungen von Religion und eine nicht weniger vielgestaltige Religionskritik. Humanistische und atheistische Weltdeutungen haben in den letzten Jahren eine zunehmende öffentliche Resonanz erfahren. Vertreterinnen und Vertreter atheistischer Bewegungen nehmen für sich in Anspruch, die Interessen der zahlreichen religionsdistanzierten Menschen zu vertreten und ihnen eine Stimme zu geben.
  • Religiöse Themen und religionsartige Erscheinungen kommen nicht nur in institutionalisierten Religionsgemeinschaften vor, sondern in Werbung, Fernsehen, Kino, Kunst und Wissenschaft. Eine entspiritualisierte Kultur verstärkt die Sehnsucht nach dem Überschreiten der alltäglichen Lebenswelt. Das Profane wird sakralisiert.
  • Esoterische Praktiken haben weite Verbreitung gefunden und sich im Hauptstrom unserer Kultur etabliert. Sie artikulieren sich innerhalb der westlichen Welt „antimodernistisch“ und greifen bewusst auf vormoderne Traditionen zurück, bleiben freilich in ihrem Protest an die Determinanten der Moderne gebunden oder artikulieren sich als charakteristischer Ausdruck postmodernen Lebensgefühls. Esoterisch geprägte Religiosität greift religiöse Traditionen selektiv auf und antwortet auf Ermüdungserscheinungen rationaler Weltbewältigung. Sie ist Teil des heutigen religiösen Pluralismus.
  • Religiöse Sondergemeinschaften (z. B. Jehovas Zeugen), sofern sie im Umfeld des Protestantismus entstanden sind, kritisieren dessen modernitätsverträgliche Auslegungen des Christlichen, insbesondere auf dem Felde der Eschatologie. Neuoffenbarungsgruppen lösen sich aus dem Umfeld ihrer „Herkunftsreligion“ und suchen religiöse Autorität durch Berufung auf unmittelbare Kundgaben des Göttlichen neu aufzurichten. Sie sind im Anschluss an den amerikanischen Soziologen Rodney Stark gesprochen keine „neue(n) Organisationen (bzw. Organisationsformen) eines alten Glaubens“ (sect movements), sondern unterstützen Entwicklungen, die in Richtung neuer Religionsbildungen verlaufen (cult movements).9
  • Pfingstler, Charismatiker und Evangelikale verstehen sich im Kontext eines dezidiert christlichen Selbstverständnisses und protestieren gegen die Bündnisse, die Kirche und Theologie mit der säkularen Kultur geschlossen haben. Sie forcieren innerchristliche Pluralisierungsprozesse und werden in öffentlichen Diskursen oft pauschal unter Fundamentalismusverdacht gestellt.
  • Mit einer gewissen Gleichzeitigkeit zu innerchristlichen Pluralisierungsprozessen hat sich in den letzten Jahrzehnten eine nicht zu übersehende religiöse Vielfalt in Europa entwickelt. Die zunehmende jüdische, buddhistische und vor allem islamische Präsenz in europäischen Gesellschaften wirft zahlreiche Fragen des praktischen Zusammenlebens auf und verstärkt religionstheologische Grundfragen. Dem interreligiösen Dialog wird heute im politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext ein besonderer Stellenwert gegeben.

Weil die „religiöse und weltanschauliche Situation der gegenwärtigen Gesellschaft ... vielfältig und undurchsichtig geworden ist, ... hat es Apologetik heute mit einer fast unüberschaubaren Gemengelage zu tun“.10  Neben die klassischen Themen apologetischer Praxis sind zahlreiche weitere Aufgaben getreten. In einem beachtenswerten Buch des Soziologen Hans Joas werden vier „intellektuelle Herausforderungen“11  genannt, die für das Christentum in Europa und seine Zukunftsmöglichkeiten bedeutsam sind. Zu diesen Herausforderungen zählt er die Infragestellung des universalistischen christlichen Liebesethos durch einen expressiven oder utilitaristisch geprägten Individualismus (1), die durch einen reduktionistischen Naturalismus bestimmte Verständnislosigkeit gegenüber dem christlichen Personverständnis (2), die pointiert individuell bestimmte Rezeption spiritueller Traditionen und die fundamentale Infragestellung der Gemeinschaftlichkeit des Religionsvollzuges (3) und schließlich die Skepsis gegenüber der Konzentration der Spiritualität auf die Gottesoffenbarung in Jesus Christus (4). Mit Recht sagt Joas, dass das Christentum gegenüber allen vier Herausforderungen gut gerüstet sein könnte. „Es muss aber aus seiner Defensive heraus, in die es seit Jahrzehnten fortschreitender Säkularisierung vornehmlich in Europa geraten ist oder sich selbst zurückgezogen hat, und zeigen, dass es seine Botschaft im Angesicht dieser Herausforderungen neu und überzeugend artikulieren kann.“12

Einschätzungen

Es ist eine Grundfrage der Apologetik, in welcher Weise das christlich-theologische Nachdenken die Verhältnisbestimmung zu den weltanschaulichen und geistigen Herausforderungen des Säkularismus und des religiösen Pluralismus vollziehen soll. Die Extreme lauten hier: entschlossener Gegenkurs, deutliche Antithese, autoritatives Geltendmachen der christlichen Wahrheit; oder aber: Annäherung bzw. Anpassung an das säkulare Wirklichkeitsverständnis, Suche nach Dialogchancen bzw. nach neuen Inkulturationen des Christlichen unter den Bedingungen der multireligiösen Moderne. Zwischenpositionen führen zwangsläufig dazu, im kritischen Dialog mit zwei Seiten zu stehen. Auf dieses Zwischenfeld muss sich apologetische Arbeit heute jedoch begeben, so sehr sich Wahrheit und Liebe nicht voneinander trennen lassen. Sie darf sich weder auf die bloße Inschutznahme der Kulte, Religionsgemeinschaften, weltanschaulichen Gemeinschaften, Anbieter auf dem Psychomarkt konzentrieren, noch auf einen Abwehrkampf gegen alles religiös Fremde und Andersartige reduzieren. Es kommt darauf an, beides zusammenzuhalten: dialogische Offenheit und Standfestigkeit, Gesprächsbereitschaft und den Mut zur Unterscheidung, gegebenenfalls auch den Protest und Widerspruch gegenüber krankmachender und verletzender Religiosität.

Wo christlicher Glaube negiert, bestritten oder als wahnhaftes Gebilde abgetan wird, sind die Kirchen zur Artikulation christlicher Identität herausgefordert. Sie können dabei nicht darauf verzichten, wertend mit anderen religiösen und nichtreligiösen Wahrheitsansprüchen umzugehen und beispielsweise etwas über die Nähe oder Ferne einer Christlichkeit beanspruchenden Gruppe zur ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen auszusagen.

Es ist begrüßenswert, wenn der wissenschaftliche Diskurs über nichtchristliche Religionen, esoterische Religiosität und atheistische Religionskritik im europäischen Kontext verstärkt geführt wird und die Religions- und Spiritualitätsthematik in sozialwissenschaftlicher, psychologischer, religionssoziologischer, religionspolitischer und religionsrechtlicher Hinsicht erforscht wird. Die christlichen Kirchen verbinden ihr eigenes Bekenntnis mit der Achtung fremder religiös-weltanschaulicher Orientierungen und treten für eine aktive Toleranz ein, die freilich die Unterscheidung der Geister einschließt. Harmonisierungsstrategien sind als Antwort auf die Situation einer nicht aufhebbaren weltanschaulichen Vielfalt ebenso untauglich wie fundamentalistische Abwehrreaktionen. Zur aktiven Toleranz gehört die Anerkennung widerstreitender Überzeugungen. Religiöse Aufklärung muss angesichts der Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Orientierungen die Wahrnehmung für den fremden und den eigenen Glauben gleichermaßen schärfen.

Reinhard Hempelmann, August 2013


Literatur

Badewien, Jan, Aufgaben und Themen heutiger Apologetik, in: MD 6/2009, 205-213

Hempelmann, Reinhard/Dehn, Ulrich (Hg.), Dialog und Unterscheidung. Religionen und religiöse Bewegungen im Gespräch, EZW-Texte 151, Berlin 2000

Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005

Hummel, Reinhart, Apologetische Modelle, in: Begegnung und Auseinandersetzung. Apologetik in der Arbeit der EZW, EZW-Impulse 39, Stuttgart 1994, 3-13

Joas, Hans, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br. u. a. 2012

Krech, Hans/Kleiminger, Matthias (Hg.), Handbuch Religiö­se Gemeinschaften und Weltanschauungen, hg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Gütersloh 62006

Werbick, Jürgen, Das unterscheidend Christliche und der religiöse Pluralismus, in: MD 9/2010, 323-332


Anmerkungen

1  Vgl. Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. III, Stuttgart 21978, 266f.

2  In diesem Sinne wird Apologetik auch bei Reinhart Hummel verstanden; vgl. Reinhart Hummel, Apologetische Modelle, in: Begegnung und Auseinandersetzung, EZW-Impulse 39, Stuttgart 1994, 9.

3  Ebd., 5.

4  Ebd., 6.

5  Vgl. ebd., 7f.

6  Hans Waldenfels, Kontextuelle Fundamentaltheologie, Paderborn 1985, 87.

7  Paul Tillich, Systematische Theologie Bd. III, a.a.O., 226f.

8  Eilert Herms, Art. Apologetik VI. Fundamentaltheologisch, in: RGG4, 623-626, hier 624.

9  Rodney Stark/William S. Bainbridge, The Future of Religion. Secularization, Revival and Cult Formation, Berkeley 1985, 24ff. Vgl. dazu auch Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland, Darmstadt 1994, 71ff.

10  Jan Badewien, Aufgaben und Themen heutiger Apologetik, in: MD 6/2009, 208.

11  Hans Joas, Glaube als Option, Freiburg i. Br. u. a. 2012, 202.12 Ebd., 218.