Martin Anlauf

Zwischen Theologie und Psychologie

Das Phänomen Anselm Grün

1 Ein therapeutischer Vortrag

„Christliche Psychologie“ – mit diesem Schlagwort bewirbt ein Aushang eine Veranstaltung mit Anselm Grün, dem „international meistgelesenen christlichen Autor der Gegenwart“, wie es weiter heißt. Eine Lesung aus dem Buch „Wege der Verwandlung. Emotionen als Kraftquelle entdecken und seelische Verletzungen heilen“ mit anschließender offener Aussprache soll es geben, und zwar in der Berliner Gedenkkirche Maria Regina Martyrum am 24. September 2018 um 20 Uhr.

Am besagten Termin ist der Saal mit 325 Plätzen offiziell ausverkauft, einzelne Plätze bleiben aber frei, ebenso die (möglicherweise spontane) Zusatzbestuhlung. Zwischen 20 und 70 Jahren sind alle Altersgruppen vertreten, besonders stark allerdings die 40- bis 60-Jährigen. Etwa drei Viertel der Anwesenden sind Frauen. Eine Ordensschwester der Karmelitinnen, die das mit der Kirche verbundene Kloster bewohnen, äußert in ein paar einleitenden Worten ihre Freude darüber, Pater Anselm begrüßen zu dürfen. Sie betont, dass er extra aus dem Kloster nahe Würzburg angereist sei, noch am selben Abend dorthin zurückfahren und am nächsten Tag nach Hongkong fliegen werde. Als sie augenzwinkernd fragt, ob das Thema oder der Referent der Grund für den Besuch der Lesung sei, geht ein Schmunzeln durch die Reihen. Dass es nun doch gar keine Lesung, sondern ein Vortrag werden soll und Fragen im Anschluss nur bei der Signierstunde im angrenzenden Buchladen möglich sein werden, fällt also vielleicht nicht so sehr ins Gewicht, solange Anselm Grün tatsächlich anwesend ist.

Als dieser schließlich ans Rednerpult tritt – ein nicht sehr großer 73-Jähriger mit schwarzer Mönchskutte, ausladendem ergrautem Vollbart und freundlichem Blick – steigt er gleich ohne Umschweife mitten ins Thema ein: Es geht um die Notwendigkeit, die eigenen Emotionen zu kennen und zu verwandeln, statt sie verändern und loswerden zu wollen, und um die Weisheit der alten Mönche, die bis heute auf diesem Weg hilfreich sein könne. Wer schon etwas von Grün gelesen oder gehört hat, dem sind diese Gedanken wohl vertraut. Nach dem allgemeinen Teil nimmt Grün sich einzelne Emotionen vor, die jeder kenne, die gemeinhin als problematisch empfunden werden, aber einen Sinn haben und in konstruktive Energie umgewandelt werden können: Ärger, Jähzorn, Hass, Neid, Eifersucht, Angst, Traurigkeit, Depression und Scham. Ärger signalisiere möglicherweise, dass jemand mir zu nahe getreten sei und ich mich folglich besser abgrenzen müsse; Jähzorn trete dort am stärksten auf, wo unser größter Schatz angetastet werde, und könne daher helfen, diesen Schatz bewusst zu machen und zu schützen; Traurigkeit lade dazu ein, von Illusionen Abschied zu nehmen, und könne darüber hinaus zur Quelle von Kreativität werden. Grün redet realistisch über alltägliche Nöte und beschönigt nicht, doch er macht Hoffnung, dass alles einen Sinn bekommen und „alle Wunden in Perlen verwandelt werden können“. Vor dem abschließenden Abendgebet leitet er noch ein gemeinsames Ritual an: Mit vor der Brust gekreuzten Armen umarmt man erst das verletzte Kind und anschließend das göttliche, unverletzliche und heilende Kind in seinem Innern.

Grün redet ohne Manuskript und trotzdem fast durchgängig flüssig und gut strukturiert, man merkt ihm die Routine an. Sein gut einstündiger Vortrag ist dicht, ohne rhetorische Kniffe, die Stimmlage könnte man sogar als monoton empfinden. Dass er das Publikum fesselt, liegt entscheidend daran, dass er als Seelsorger den richtigen Ton trifft: nie moralisierend, immer tröstend, ermutigend und dabei so ganz authentisch und vertrauenswürdig. Und er spricht nicht über abstrakte Theologie, sondern schlicht über das, was Menschen unmittelbar in ihrem Alltag beschäftigt. „Alles, wovon er geredet hat, habe ich erlebt“, sagt eine Frau beim Hinausgehen.

2 Zur Person

Anselm Grün, geb. 1945, lebt seit 1964 als Mönch in der Abtei Münsterschwarzach bei Würzburg, die dem missionarischen Zweig des Benediktinerordens angehört. Nach seinem Theologiestudium, der Priesterweihe, der Promotion und einem kurzen Studium der Betriebswirtschaftslehre wurde er 1977 Cellerar seiner Abtei. In diesem Amt, das er bis 2013 innehatte, war er für alle wirtschaftlichen Belange des Klosters mit seinen 20 Betrieben und rund 300 Mitarbeitern verantwortlich. Bekannt wurde er aber durch sein Wirken neben dieser Tätigkeit, besonders durch seine über 300 Bücher, die inzwischen weltweit eine Gesamtauflage von ca. 20 Millionen erreicht haben und in 35 Sprachen übersetzt wurden. Außerdem ist er bis heute als international gefragter Vortragsredner, in der seelsorgerlichen Begleitung und in Führungskursen für Firmen aktiv.1

Seine Mission sieht er in Deutschland darin, „die christliche Botschaft so zu verkünden, dass die Menschen sich davon angesprochen fühlen und dass sie erkennen: Die christliche Botschaft ist eine menschenfreundliche, heilsame Botschaft, die hilft, hier in dieser Welt angemessen zu leben.“ Die Manager, denen er Vorträge hält, möchte er „erreichen mit [seiner] Botschaft eines christlichen Menschenbildes und eines christlichen Umgangs miteinander“2. In der nicht zu unterschätzenden internationalen Wirksamkeit kommt zu seiner Mission noch ein versöhnendes Element hinzu.3

Die nun folgenden Ausführungen stützen sich auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Publikationen aus unterschiedlichen Zeiten seines nunmehr 40-jährigen literarischen Schaffens. Im Ergebnis soll dennoch eine zusammenhängende und synchrone Darstellung geboten werden. Da mag die Frage aufkommen, ob ein synchroner Blick nicht Wandlungen und Entwicklungen verdunkelt, zumal Grün selbst sein Leben als eine beständige Suche nach dem Geheimnis Gottes auffasst. Doch alle entscheidenden Weichen scheinen schon vor Beginn seiner Schreibtätigkeit gestellt worden zu sein; Grün bleibt seitdem, soweit ich sehe und seiner Biografie entnehme, im Grundsatz in den gleichen Bahnen und Strukturen.4 Die Erhellung dieser Strukturen, der theologischen und weltanschaulichen Hintergründe und Prinzipien von Anselm Grün, ist das Anliegen der folgenden Seiten.

3 Theologe und Psychologe

Aus evangelischer Perspektive ist es wichtig, Anselm Grün zunächst ganz als katholischen Theologen wahrzunehmen. Er studierte mit Hingabe in St. Ottilien und Rom, promovierte über Karl Rahner und verfügt bis heute über eine breite Bildung in katholischer Dogmatik und Philosophie. Nach eigener Aussage ist er wegen seiner Lehre niemals mit der Kirche in Konflikt gekommen;5 anders als sein bekannter Mitbruder und Zen-Meister Willigis Jäger6 pflegt er einen sehr behutsamen Umgang mit der Tradition. Doch auch er ist weit davon entfernt, die überlieferten Glaubenssätze einfach zu übernehmen: Ein Dogma sei „kein Schlusspunkt, sondern als Herausforderung zu verstehen, das Unbegreifliche in immer neuen Worten begreiflich zu machen“7. Fundamentalismus, im Sinne des kompromisslosen Beharrens auf einer unhinterfragbaren Position, sei dagegen meist ein pathologisches Phänomen.8 Man müsse die traditionellen Inhalte neu durchdenken, um sie für das kritische Denken der modernen Menschen neu formulieren und öffnen zu können.

Bei dieser Revision des Glaubensgutes lässt Grün sich von einer tiefen Rationalität leiten. Die ganze Wirklichkeit der Schöpfung und des Menschen gibt er in typisch katholischer Art für den Verstand und die empirische Forschung frei. In diesem Sinne bedient er sich der säkularen Philosophie und Psychologie, um das Wesen des Menschen zu beschreiben. Bibel und Dogma erfahren eine entmythologisierende und psychologisch einleuchtende Deutung: Von C. G. Jung und Eugen Drewermann hat Grün sich zu einer tiefenpsychologischen Schriftauslegung inspirieren lassen, weil sie helfe, die biblischen Berichte als Bilder für die (eigentlich relevanten) zugrunde liegenden Erfahrungen zu verstehen und die „archetypische[n] Bilder“ darin zu erkennen, „die in der Seele des Menschen bereit liegen“9. Die unreinen Geister der biblischen Exorzismusgeschichten sind für ihn krankmachende Selbst-, Welt- oder Gottesbilder.10 Bei der Eucharistie gehe es nicht vorrangig um die Verwandlung von Brot und Wein, sondern der eigenen Brüchigkeit, Bitterkeit und unvollkommenen Liebe.11 Überhaupt versteht Grün Dogmen nicht als ontologische, wörtlich zu nehmende Aussagen, sondern als therapeutische Bilder und heilsame Symbole, die eine bestimmte Erfahrung zur Geltung bringen. Auf diese Weise kann er alle dogmatischen und biblischen Aussagen als wahr akzeptieren; alle traditionellen oder aktuellen Auslegungen derselben, die nicht seinem Gottes- und Menschenbild entsprechen, lehnt er dagegen ab.12

Der Grundsatz der Rationalität erfährt eine Begrenzung in Gott selbst, den Grün von allen Gottesbildern der Menschen unterscheidet. Letztere hängen ihm zufolge eng mit entsprechenden Selbstbildern zusammen und lassen sich aus innerpsychischen Faktoren erklären.13 Gott selbst allerdings wird von Grün jenseits aller Bilder verortet und dem menschlichen Verstand entzogen, man dürfe ihn nicht auf ein bestimmtes Verständnis festlegen, sondern müsse sein „Geheimnis offenhalten“14. Auch Menschwerdung, Eucharistie und anderes dürfen nicht rationalistisch vereinnahmt, sondern müssen in ihrer Vieldeutigkeit offengehalten werden. Dennoch geht die Deutung dieser Topoi und auch Gottes selbst, die Grün als fruchtbar empfindet und an seine Leser- und Hörerschaft weitergibt, stets durch den Filter der psychologischen und philosophischen Plausibilität. Grün warnt zwar vor einer Verniedlichung und Banalisierung Gottes und legt Wert auf Demut und Ehrfurcht ihm gegenüber,15 spricht ihm aber jegliche Eigenschaften ab, die aus seiner Sicht einer psychologisch einleuchtenden Spiritualität widersprechen.16

Den hohen Stellenwert der Psychologie begründet Grün folgendermaßen: Bei der Gottesbegegnung komme es zu einer Begegnung zwischen dem transzendenten Gott und der psychischen Wirklichkeit des Menschen; die Psyche sei gewissermaßen der Schauplatz dieses Geschehens und präge dessen Form darum entscheidend mit. Daraus ergibt sich nach Grün die Notwendigkeit, die menschlichen Voraussetzungen dieses Geschehens zu klären und jede Spiritualität kritisch zu prüfen – daraufhin, ob sie auf Selbsterkenntnis oder Selbstflucht, auf krankmachende oder gesundmachende Gottesbilder aufbaue; ob sie demzufolge krank oder gesund mache, ob sie Realitätsflucht sei oder zum konstruktiven Umgang mit der eigenen Wirklichkeit befähige.17 Eine Theologie und Spiritualität, die Letzteres bewirkt, meint er nun nicht neu entwerfen zu müssen, er findet sie vielmehr bereits „bei den Wüstenvätern, bei den Kirchenvätern, bei den Mystikern und in allen bewährten Traditionen“18 – wobei er auch diese Quellen von vornherein durch die Brille der modernen Psychologie liest.

4 Erlösung

Der beschriebene Ansatz bestimmt auch Grüns Verständnis der Erlösung. Diese bildet so etwas wie sein Lebensthema; sie beschäftigt ihn seit Kindertagen, wurde schließlich Gegenstand seiner Lizenziats- und auch seiner Doktorarbeit.19 Noch Jahrzehnte später gibt er an, das Geheimnis der Erlösung noch nicht erfasst zu haben.20 Die Schwierigkeit ergibt sich für ihn einerseits daraus, dass Gott als der Handelnde letztlich unverfügbar bleibt, andererseits daraus, dass die Erlösung jeden Bereich des menschlichen Lebens durchzieht und darum nur verstanden wird, indem sie im Lebensvollzug immer neu am eigenen Leib erfahren wird.

Den christlichen Grundsatz, dass die Erlösung durch Jesu Christi Leben und Sterben ermöglicht worden ist, interpretiert Grün so: In Jesus sei die grenzenlose Liebe Gottes sichtbar geworden. Diese Liebe sei schon immer da gewesen, auch im Alten Testament habe Gott schließlich barmherzig gehandelt und Sünden vergeben. Schon darum sei die Ansicht, Gott hätte ohne den Tod seines Sohnes keine Sünde vergeben können, nicht haltbar; darüber hinaus zeuge sie von einem „blutrünstigen“ und „grausamen“21 Gottesbild. Gottes Liebe braucht nach Grün kein Opfer, um Sünden zu vergeben, aber die Menschen brauchen eine geschichtliche Manifestation dieser Liebe – nicht nur eine Lehre, sondern ein wirkliches, unhintergehbares Ereignis, das das Bewusstsein (und auch das Unbewusste) verändert, in der Kultur und der ganzen Weltgeschichte seine Spuren hinterlässt und an das sich die Menschen auch nach 2000 Jahren noch zurückerinnern können.22 Die Erinnerung an die Lebensweisheit Jesu, vor allem aber an die in ihm sichtbar gewordene bedingungslose Liebe sei nun entscheidend für den Prozess der Erlösung: Sie befreie die Gläubigen von einem strafenden Gottesbild, Schuldgefühlen, Selbstverurteilung und der Gefangenschaft im eigenen Ego, versöhne sie dadurch mit sich selbst und ihren Mitmenschen und befähige sie neu zur Liebe.23

Grüns Verständnis der Erlösung erweist sich hier als stark diesseitsbezogen – wobei er aber auch am Leben nach dem Tod festhält24 – und als entgrenzt auf wirklich jeden Lebensbereich. Erlösung ist für ihn nicht nur geistliches, sondern immer auch umfassendes psychisches Heilwerden. So könne eine schwierige Lebensgeschichte geheilt werden, wenn sie Gott hingehalten werde. Gegenwärtiges Leid könne durch die Liebe Christi von innen heraus verwandelt werden. Zwänge können durch die Meditation des Kreuzes oder biblischer Geschichten gelöst werden.25 Auch auf die vier Grundnöte des heutigen Menschen, wie sie der Psychologe Irvin D. Yalom formuliert – Angst vor dem Tod, der Freiheit, der Isolation und Leiden an der Sinnlosigkeit –, habe die christliche Botschaft eine Antwort.26

5 Das Menschenbild

Um zu verdeutlichen, wie Grün den Prozess der Erlösung konkret entfaltet, ist nun sein Menschenbild zu beleuchten. Unter den Psychologen, auf die sich Grün bezieht, nimmt Carl Gustav Jung eine herausragende Stellung ein. Er bezeichnet sich selbst in psychologischer Sicht als Jung-Schüler27 und gibt an, in Jungs Schriften den Ausweg aus einer schweren persönlichen Krise im Umfeld der 68er-Revolution gefunden zu haben: „Auf dieser Grundlage konnte ich meinen persönlichen Glauben und Religion an sich psychologisch neu begründen. Und eine Entscheidung treffen: Ich bin in meiner Klosterzelle geblieben. Ich werde immer bleiben.“28

Jung ist für Grün interessant, weil er den Menschen als seinem Wesen nach religiös zeichnet und ausführlich darauf eingeht, welche Rolle christliche Glaubensinhalte und Liturgie, ja Spiritualität allgemein für die psychische Gesundheit spielen. Nach Jung besitzen sie heilende Kraft, weil sie einen Zugang zum Unbewussten öffnen und dem Menschen dadurch helfen, sein Selbst, sein inneres Wesen, zu verwirklichen. Grün will nun nicht den kirchlichen Traditionen durch die Verbindung mit Jungs Einsichten zu neuer Wirksamkeit verhelfen. Er meint vielmehr durch Jungs Analyse zu erkennen, dass sie diese Wirksamkeit faktisch immer schon besitzen. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass Grüns Interpretation dieser Traditionen maßgeblich durch Jung vorgegeben wird; so gibt er beispielsweise an, das alte Mönchtum von Anfang an „durch die Brille der Jungschen Psychologie betrachtet“29 zu haben.

Nach Jung enthält das Selbst des Menschen viele „Archetypen“, Persönlichkeitsteile, die danach streben, ausgelebt zu werden. Auch Gott bzw. Christus selbst sei solch ein Archetyp, und zwar der stärkste, ohne dessen Verwirklichung – oder bei dessen krankhafter Verwirklichung in einem destruktiven Gottesbild – der Mensch nicht gesund sein könne. Darum finde der Mensch nur über das in ihm bereits angelegte Gottesbild zu seinem innersten Wesen.30 So sind auch die folgenden Worte zu verstehen: „Dieser Christus ist mein innerer Arzt, der mich mit den Selbstheilungskräften in mir in Berührung bringt. Er ist der innere Meister, der mich an die Weisheit meiner Seele erinnert. Er bringt mich in Berührung mit meinem ursprünglichen Selbst, mit dem unverfälschten Bild, das Gott sich von mir gemacht hat.“31 Dabei ist aber sogleich daran zu erinnern, dass Grün damit nicht Gottes Realität auf eine psychische Repräsentation reduzieren, sondern lediglich die Wirkungsweise Gottes im Menschen veranschaulichen will. In diesem Sinne ist für Grün beispielsweise das Kirchenjahr ein „therapeutisches System“ voll psychologischer Weisheit, weil es „die wichtigsten Themen der menschlichen Seele und der Selbstwerdung“ darstelle.32

Bei der Selbstwerdung geht es nach Grün entscheidend darum, die verschiedenen Pole der eigenen Persönlichkeit anzunehmen und zu integrieren. Verdrängte Persönlichkeitsanteile werden zum „Schatten“ – auch dies ist ein jungianischer Begriff – und üben im Verborgenen eine unheilvolle Macht auf die Seele aus. Indem der Mensch sich seine als destruktiv und gottlos empfundenen Seiten bewusst mache und sich mit ihnen aussöhne (ohne sie allerdings unkontrolliert auszuleben), könne er Heilung von der inneren Zerrissenheit erfahren, ganz werden und er selbst sein, wie Gott ihn geschaffen habe.33 Diese Selbstwerdung charakterisiert Grün, wieder im Anschluss an Jung, als „Kreuztragen“: Indem die inneren Spannungen bewusst durchlitten werden, werden die Gegensätze (gleichsam im Mittelpunkt des Kreuzes) miteinander verbunden und so zur inneren Ganzheit vereinigt.34 Die dunklen Seiten werden dadurch nicht aufgelöst. Sie können aber, indem sie in einem weiteren Schritt bewusst Gott und seiner Liebe hingehalten werden, in Konstruktives verwandelt werden, wie im vorigen Kapitel beschrieben wurde.35

Ein weiteres Grunddatum der Grün‘schen Anthropologie ist das Motiv des „inneren Raumes“. Grün postuliert einen Ort in der Seele jedes (!) Menschen, an dem Gott wohne und sein Reich gegenwärtig sei; ein Ort, an dem man von allen Ansprüchen anderer Menschen frei sei, unverwundbar, authentisch und schuldlos.36 Jeder Mensch könne durch Kontemplation an diesen Ort hinabsteigen, Kraft und Weisheit daraus schöpfen und in Kontakt mit seinem wahren Selbst, dem „einmalige[n] Bild …, das Gott sich von mir gemacht hat“37, und dadurch mit Gott kommen.

6 Hintergründe des „inneren Raumes“

Es gilt nun genau hinzuschauen, auf welche geistigen Einflüsse die Vorstellung des „inneren Raumes“ zurückgeht. Da ist zunächst wieder C. G. Jung, der durch die Qualifikation Jesu als Archetyp des Selbst eine Art göttliche Region in der menschlichen Seele verortet.38 In Verbindung mit ihm ist der Psychotherapeut und Zen-Lehrer Karlfried Graf Dürckheim zu nennen, den Grün in den 1970er Jahren dreimal besuchte. Dürckheim übte damals, so Helmut Zander, auf viele Christinnen und Christen eine starke Anziehungskraft aus und wurde besonders im Ordenswesen stark rezipiert.39 Auch Grün verdankt ihm nach eigener Aussage viel, wurde durch ihn auch überhaupt erst zur Beschäftigung mit Jung angeregt. Beiden, Jung und Dürckheim, wird häufig eine „esoterische“ Anthropologie zugeschrieben, da sie mindestens die Tendenz zeigen, den Menschen zu vergöttlichen und den Unterschied zwischen Gott und Mensch aufzuheben.40 Von dieser Einstellung distanziert sich Grün allerdings: Gott sei nicht (wie in der Esoterik) „wie ein Besitz … im Menschen“, sondern auch der „unverfügbare Gott“, über dessen Wirklichkeit im Menschen man „nur in Bildern sprechen“41 könne. Überhaupt sei das Konzept vom inneren Raum „keine ontologische Aussage“, sondern „ein höchst therapeutisches Bild“42 (vgl. Kapitel 3); bei der Zusammenstellung seiner therapeutischen Bilder sei er „eher so ein Eklektiker und keiner, der da systematisch dran arbeitet“43.

Als weiterer Einfluss ist die Transpersonale Psychologie zu nennen, u. a. Roberto Assagioli. Grün greift dessen Theorie eines „spirituellen Bewusstseins“, das jedem Menschen innewohne, und die Vorstellung eines „unbeobachteten Beobachters“ auf, den er mit dem besagten inneren Raum und dem spirituellen Selbst identifiziert. Grün beschreibt diesen „Beobachter“ im Anschluss an Assagioli als die Instanz im Innern des Menschen, die alle Vorgänge der Psyche, alle Gefühle wahrnehme, ohne selbst von ihnen infiziert zu sein.44

Diese psychologischen Theorien verknüpft Grün unmittelbar mit Erkenntnissen aus der christlichen Mystik. Der antike Mönch Evagrius Ponticus ist ihm zufolge „in seiner Psychologie den Einsichten der heutigen sehr nahe“45 gekommen. Auch die deutschen Mystiker, wie Meister Eckhart mit seiner Lehre des göttlichen Seelenfunkens in jedem Menschen, stehen für ihn in dieser Linie.46 In der Kategorie der christlichen Hintergründe ist auch die Bibel zu erwähnen, denn Grün gibt in einem Gespräch mit Ulrich Luz an, die Anschauung vom guten Kern des Menschen aus Eph 1,4 entwickelt zu haben.47

Zu diesen allgemein christlichen kommen noch dezidiert katholische Impulse: Zum Ersten darf nicht vergessen werden, dass der gefallene Mensch aus katholischer Sicht nicht (wie nach den Reformatoren) völlig verdorben ist, sondern weiterhin die Gottebenbildlichkeit und damit einen göttlichen Wesenszug in sich trägt, wenn auch verwundet.48 Zum Zweiten ist für Grün eine mariologische Begründung wichtig geworden, die auf Karl Rahner zurückgeht: Dieser hatte das Dogma der unbefleckten Empfängnis „als typologische Aussage für jeden erlösten Menschen verstanden“49. Für Rahner und Grün folgt daraus (über einige zusätzliche Argumentationsschritte), dass sich in jedem Menschen ein Bereich befinde, in dem Christus wohne und zu dem die Sünde keinen Zugang habe. Darin sieht Grün sich auch im Einklang mit Paulus und der Bibel.50

Die Antwort auf die Frage, aus welchen Quellen sich Anselm Grüns Anthropologie speist, erweist sich also als komplex – zumal er selbst angibt, nicht genau zu wissen, ob er sie „C. G. Jung oder Dürckheim verdanke, eigentlich frag ich dann gar nicht so danach, eigentlich denk ich, dass meine Anthropologie von der katholischen Dogmatik her ist“51. Zander konstatiert, dass von esoterischen Wurzeln bei Grüns Dogmatik nicht die Rede sein könne, dass er vielmehr eine „eigenständige Synthese aus traditionell katholischen Vorstellungen entwickelt [habe], in deren Kontext es gleichwohl alternativreligiöse Vorstellungen gibt“52. Darin finden sich nach Zander Ähnlichkeiten mit esoterischen Denkmustern, doch in deren Herkunft, Begründung und Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch gebe es Unterschiede.

Letztlich ist Grüns Vorgehen ein Paradebeispiel des katholischen Inklusivismus, der es ermöglicht, höchst unterschiedliche geistige Einflüsse zu integrieren, ohne dabei den Boden der katholischen Dogmatik zu verlassen. Davon zeugt auch Grüns Umgang mit anderen Religionen und Weltanschauungen, der nun im Folgenden zu thematisieren ist.

7 Andere Religionen

„Jesus erfüllt die Sehnsucht aller Religionen“53 – mit diesem Satz unterstreicht Grün die Absolutheit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, die allerdings nicht einfach mit dem Bild gleichzusetzen sei, das das heutige Christentum bzw. die Kirche von Jesus habe. Die Kirche dürfe und müsse vielmehr ihr Bild von Christus stets weiter vervollkommnen, und zwar mit allem, „was unsere Liebe zu Gott vertieft und was unsere Beziehung zu Jesus bereichert“54, gegebenenfalls auch mit der Weisheit anderer Religionen. In seiner Begründung, dass Gott auch in anderen Religionen gesprochen und seine Weisheit eingestreut habe, befindet sich Grün im Einklang mit der Erklärung des Zweiten Vaticanums „Nostra aetate“. Er plädiert für einen interreligiösen Dialog, der nicht von der Absicht getragen ist, den anderen zu überzeugen, sondern den anderen und durch ihn auch sich selbst besser zu verstehen. Dabei sei es hilfreich, die eigene Lehre so niedrigschwellig wie möglich zu vermitteln, also beispielsweise im Gespräch mit dem Judentum über Jesus auf die griechischen Dogmen zugunsten alttestamentlicher Bilder zu verzichten. Gleichwohl müsse auch das spezifisch Christliche herausgestellt und eine Vermischung oder Nivellierung der Religionen vermieden werden, damit das jeweilige Profil gewahrt bleibe.55 Jeder müsse von seiner eigenen Religion überzeugt sein, so wie auch Grün für sich selbst den Weg des christlichen Glaubens als den einzig richtigen empfindet.

Worin die Eigenart dieses Glaubens für ihn besteht, macht er beispielsweise an einem Vergleich mit buddhistischen Glaubenselementen deutlich. Er betont den Vorzug der christlichen Geschichtsbezogenheit, die besser als der buddhistische Weltflucht-Impuls zu konstruktiver Wirksamkeit in der Welt anrege. Außerdem sei das christliche Erlösungsverständnis psychologisch stimmiger, da es nicht den Weg der Distanzierung, sondern der Annahme und Verwandlung der eigenen Schwächen und Leiden weise und da der Mensch von Schuldvorwürfen befreit werde. Auch das personale Gottesbild ist nach Grün heilsamer als die buddhistische Vorstellung einer apersonalen Energie, weil es dem Menschen eine Beziehung und damit das Gefühl von Liebe und Geborgenheit eröffne.56 Wenn Grün also die Vorrangstellung des Christentums betont, folgt er darin zwar der katholischen Dogmatik, doch er gibt eine subjektiv-rationale und psychologisch plausible Begründung, wie es seinem oben dargestellten theologischen Vorgehen entspricht.

In bestimmten Bereichen könne das Christentum aber gerade vom Buddhismus lernen, z. B. von der Zen-Meditation. „Der Buddhismus hat die Ruhe in unser Denken gebracht, die Leere hat uns gutgetan.“57 Diese Aussage ist bei Grün, der selbst eine Zeit lang Zen-Meditation geübt und nach eigener Aussage von Karlfried Graf Dürckheim wichtige Impulse besonders zur Körperwahrnehmung empfangen hat, mit Erfahrung gesättigt. Er sieht in der Meditation schlicht eine psychologische Methode, in den inneren Raum der Stille (s. o.) zu gelangen, die sich grundsätzlich in jeder Religion finden und mit jeder religiösen Deutung verbinden könne.58 Das spezifisch Christliche oder Buddhistische ergebe sich erst aus der Deutung, die die Meditationserfahrung anreichere und in eine bestimmte Richtung lenke; hier legt Grün nun Wert auf die christliche Sicht: Leere sei wichtig, doch „es geht dort letztlich nicht um Leere, sondern um Fülle. Es geht nicht um Freiheit von allen Gedanken und Gefühlen, sondern um die Liebe Jesu Christi, die unser Herz erfüllen soll und die wir dann mit unserem ganzen Sein ausstrahlen können“59. Folgerichtig hat auch Grün selbst sich nach sechs bis sieben Jahren Zen-Meditation dem Jesus-Gebet der Ostkirche zugewandt und die christlichen Meditationstraditionen entdeckt, vor allem im antiken Mönchtum und der Mystik.60 Auf diese bezieht er sich auch, wenn er seiner Leserschaft heute die Meditation ans Herz legt.61

„Jesus erfüllt die Sehnsucht aller Religionen“ – diese Aussage weist nicht nur auf die Absolutheit Jesu, sondern auch auf ein wichtiges hermeneutisches Prinzip hin. „Manchmal bekümmert es mich, dass viele spirituelle Menschen in der Esoterik oder in fernöstlichen Religionen ihr Heil suchen. Für mich liegt die Herausforderung darin, ihre Sehnsucht zu achten, aber eine christliche Antwort zu geben.“62 Grün möchte sich von den religiösen Anliegen besonders der sogenannten Esoterik63 nicht abgrenzen, sondern sie integrieren; und er sieht hier Themen, die das Christentum zu lange vernachlässigt habe und darum aufgreifen und integrieren sollte.

Dies erklärt, warum seine Schriften mitunter eine große Nähe zu esoterischem Gedankengut zeigen und in den einschlägigen Kreisen auch stark rezipiert werden. Im „Engelmagazin“ (www.engelmagazin.de ) sind regelmäßig Texte von ihm zu lesen. In dem überaus erfolgreichen Buch „50 Engel für das Jahr“ geht die Integration so weit, dass Grün in der Einleitung ohne ein Wort der Abgrenzung, vielmehr in zustimmendem Ton, auf die New-Age-Community in Findhorn Bezug nehmen kann.64 Und doch sind die Unterschiede deutlich. Das Wort „Engel“ ist für Grün lediglich ein Bild für den Beistand Gottes, durch den Menschen Schutz erfahren und zu konstruktiven Haltungen und Tugenden im Alltag befähigt werden;65 hier greift das oben beschriebene Prinzip, theologische Begriffe stets als therapeutische Bilder auszulegen. Mit dem Vorwurf der Esoterik konfrontiert, nennt er noch weitere Differenzen: die Tendenz, sich Gott oder die Engel verfügbar machen und für sich benutzen zu wollen; die Gefahr der „Flucht in die Grandiosität“ vor den unbewältigten Problemen des Alltags oder der eigenen Persönlichkeit; die Formulierung immer neuer, auf aggressiver Veränderung basierender Methoden und Heilswege.66

8 Fazit

Es ist deutlich geworden, dass Anselm Grün in seiner umfassenden Reinterpretation des christlichen Glaubens höchst unterschiedliche Einflüsse zu einer großen Synthese verschmelzen lässt. Dabei fällt allerdings auf, dass das so entstandene System unabgeschlossen und deutungsoffen, im Grunde gar kein eigentliches System ist. Grün geht eklektisch und assoziativ vor und verwendet bewusst eine bildhafte, offene, nicht immer exakte Sprache.67 Dies entspricht seiner Absicht, statt einer genauen wesensmäßigen Beschreibung des Göttlichen und Menschlichen therapeutische Bilder zu bieten. Der Vorteil dieses Grundsatzes, dass Grün sich und seine Leserschaft dadurch nicht gänzlich auf eine psychologische oder religiöse Theorie festlegen muss, ist zugleich sein Nachteil: Denn ein Stück weit erlaubt er damit auch Kreisen beispielsweise aus dem esoterischen Bereich, seine Gedanken auf ihre Weise zu deuten und für sich zu reklamieren.

Es ist sehr zu begrüßen, dass in Grüns Synthese Theologie und Psychologie intensiv miteinander ins Gespräch kommen; dass die psychischen Voraussetzungen des Glaubensvollzuges bedacht und krankmachende oder heilsame Auswirkungen bestimmter Theologien aufgedeckt werden. Es ist nur zu fragen, ob die Elemente des christlichen Glaubens hier nicht zu stark durch die Brille einer v. a. an C. G. Jung orientierten Anschauung von Mensch und Religion interpretiert und dadurch, trotz der Offenheit des Systems, vereinseitigt werden. Grün zeigt, dass er sich dieser Gefahr durchaus bewusst ist, wenn er schreibt: „Sich eine Theorie über Jesus zu machen, ist immer ein beliebter Weg, sich nicht auf ihn einzulassen. Statt Jesus zu begegnen, halte ich eine Theorie dazwischen. Wenn Jesus Gottes Sohn ist, dann muss ich mich immer wieder von neuem auf das Geheimnis seiner Person, auf das Geheimnis seiner Worte und Handlungen einlassen.“68 Es ist aber zu fragen, ob Grün mit seiner jungianisch-therapeutischen Brille dieser Gefahr nicht zum Teil selbst erliegt. Insbesondere das Konzept des göttlichen inneren Raumes scheint mir nicht nur aus reformatorischer, sondern auch aus neutestamentlicher Sicht unhaltbar, obwohl Grün sich hier u. a. auf Eph 1,4 und Gal 2,20 berufen zu können meint.69

Der Psychoanalytiker Gerd Rudolf hat sich mit der Frage befasst, ob Grün seinem therapeutischen Anspruch gerecht wird. Rudolf erkennt an, dass Grün „mit anderen Mitteln ähnliche Ziele“ verfolge wie ein „weltlicher Psychotherapeut“70, hat aber einige Anfragen. Die Zweigleisigkeit, mit der Grün mal als Psychologe und mal als Theologe rede, führe mitunter zu Inkonsequenzen; seine Definition der Seele sei unscharf und damit unwissenschaftlich. Überhaupt solle Grün besser auf aktuelle Konzepte zurückgreifen als auf die 100 Jahre alten Lehren C. G. Jungs – selbst Jungianer seien heute zurückhaltend gegenüber der These, dass die Verwirklichung des Gottesbildes die wichtigste Entwicklungsaufgabe sei – oder gleich ganz auf psychotherapeutische Modelle verzichten und sich allein auf seine Menschenkenntnis verlassen, die Rudolf ihm durchaus zuerkennt. Weiter wendet der Therapeut ein, dass die Überwindung innerer Spaltung schwierig und es nicht damit getan sei, dass sie Gott hingehalten werde. Positiv bewertet Rudolf neben Grüns Menschenkenntnis dessen zugewandte und ermutigende therapeutische Haltung, die „fast wichtiger ist als der [Aspekt] des richtigen Wortes“71. Hilfreich sei, dass Grün den Menschen in seinen guten Eigenschaften bestärke, ihm ein „intrapsychische[s] gute[s] Objekt“72 (d. h. den inneren Raum) aufzeige, das den Aufbau der Persönlichkeit unterstützen könne, und auf die Bedeutung der Integration der eigenen Geschichte und der inneren Gegensätze hinweise.

Grün ist vorgeworfen worden, allzu optimistisch zu schreiben und unrealistische Hoffnungen zu schüren.73 Es fällt in der Tat auf, dass – obwohl er immer auch die bleibende Bruchstückhaftigkeit des Lebens betont und eindringlich davor warnt, über Leid und Persönlichkeitsprobleme leichtfertig hinwegzugehen74 – die Hoffnung auf Heilwerden wie ein starker Grundton alle seine Schriften durchzieht. Dieser Grundton ist sicher entscheidend für die enorme Resonanz, die er bei so vielen Menschen findet.

Mit dem genannten Vorwurf kann sich nun ein weiterer verbinden, nämlich der, die christliche Botschaft für das Wohlergehen der Menschen zu instrumentalisieren und somit letztlich dem Egozentrismus das Wort zu reden. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass Grün aus seiner Sicht Gott nicht instrumentalisiert, sondern in der Heilung des Menschen Gottes ureigenstem Anliegen Geltung verschafft, was m. E. plausibel ist. Diese Heilung geschehe nun durch eine gesunde Entwicklung des Selbst und damit der Gottebenbildlichkeit (vgl. den Abschnitt zum Menschenbild), nicht aber des selbstsüchtigen Egos (des „Ich“). Dieses werde vielmehr in dem Maße kleiner, in dem das Selbst zur Ganzheit gelange. Ein Mensch habe erst dann Reife erlangt, wenn er, statt um sich selbst zu kreisen, ein Segen für andere sein könne.75 Mitunter schreibt er auch, dass nicht das Heilwerden, sondern die Begegnung mit Gott das Ziel des spirituellen Weges sei, während die Heilung diesen Prozess nur als eine Art Nebenprodukt begleite.76 Und manches auf dem Büchermarkt, wie beispielsweise das bereits in 28. Auflage erscheinende „Kleine Buch vom wahren Glück“, geht weniger auf Grüns Initiative als auf das Drängen eines bedürftigen Verlages zurück: „Über Glücksbücher bin ich überhaupt nicht glücklich. Ich habe kein Glücksbuch geschrieben. Die denkt sich der Verlag aus.“77 Da die Marke Anselm Grün also längst nicht allein durch ihn selbst geprägt wird, sondern ebenso durch Verlage und nicht zuletzt die Leserinnen und Leser, die in Rosinenpicker-Mentalität nicht immer bereit sind, das Komplettprogramm ernst zu nehmen, treffen die beiden genannten Einwände ihn nur begrenzt. Dies gilt auch für den Vorwurf der „Wellness-Spiritualität“, zumal er selbst als Mönch einen asketischen und durchaus anspruchsvollen Lebensstil pflegt. Nichtsdestotrotz weisen die Einwände darauf hin, dass Grüns ausgeprägter Optimismus, sein therapeutischer Anspruch sowie sein Grundsatz, bei der Vermittlung christlichen Glaubens so weit wie möglich auf die Bedürfnisse der nach Heilung und Spiritualität suchenden heutigen Menschen einzugehen, auch Schwierigkeiten mit sich bringen.


Martin Anlauf
 

Zitierte Literatur von Anselm Grün

50 Engel für das Jahr. Ein Inspirationsbuch, Freiburg i. Br. 91997

Das Buch der Antworten. Antworten auf die Königsfragen des Lebens, Freiburg i. Br. 2007

Das Geheimnis jenseits aller Wege. Was uns eint, was uns trennt, Münsterschwarzach 2013 (mit Willigis Jäger)

Das Kreuz. Bild des erlösten Menschen, Münsterschwarzach 42005

Der Glaube der Christen, Münsterschwarzach 2006

Erlösung. Ihre Bedeutung in unserem Leben, Münsterschwarzach 2017 (Neuausgabe)

Fünf Bücher, die Anselm Grün nicht loslassen, www.welt.de/kultur/literarischewelt/article171894334/Biografie-in-Buechern-Benediktinermoench-Anselm-Gruen.html?wtrid=onsite.onsitesearch  (Abruf: 29.10.2018)

Heute das Neue Testament verstehen. Ein Gespräch, in: Thomas Philipp u. a. (Hg.): Theologie und Sprache bei Anselm Grün, Freiburg i. Br. 2014, 39-62 (mit Ulrich Luz)

Mystik. Den inneren Raum entdecken, Freiburg i. Br. 2010

Schwierige Bibelstellen – spirituell erschlossen, Freiburg i. Br. 2014

Spiritualität. Ein ganzer Mensch sein, Freiburg i. Br. 2011

Stationen meines Lebens. Was mich bewegt – was mich berührt, Freiburg i. Br. 2009

Tiefenpsychologische Schriftauslegung, Münsterschwarzach 1992

„Trost ist nie banal!“ (Interview mit Anselm Grün), www.zeit.de/2017/16/anselm-gruen-moench-theologe-therapeut-interview/komplettansicht  (Abruf: 29.10.2018)

Wegstationen meiner theologischen Sprache, in: Thomas Philipp u. a. (Hg.): Theologie und Sprache bei Anselm Grün, Freiburg i. Br. 2014, 24-38

Zerrissenheit. Vom Zwiespalt zur Ganzheit, Münsterschwarzach 21999
 

Anmerkungen

  1. Vgl. den Lebenslauf in Thomas Philipp u. a. (Hg.): Theologie und Sprache bei Anselm Grün, Freiburg i. Br. 2014, 232, sowie die entsprechenden Abschnitte in der Biografie von Freddy Derwahl: Anselm Grün. Sein Leben, Münsterschwarzach 2009, und in Grüns Autobiografie: Stationen meines Lebens (vollständige Angaben zu den zitierten Büchern von Anselm Grün im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags).
  2. Grün/Jäger: Das Geheimnis, 108.
  3. Vgl. ebd., 106-108.
  4. Derwahl merkt zu Grüns erster Veröffentlichung aus dem Jahr 1978 an: „Vieles von dem, was hier erst in Andeutungen angeboten wurde, tauchte in der Folge in immer neuen Variationen auf.“ Derwahl: Grün (s. Fußnote 1), 131.
  5. Vgl. Grün: Stationen meines Lebens, 157.
  6. Vgl. dazu Grün/Jäger: Das Geheimnis.
  7. Grün, Stationen meines Lebens, 157.
  8. Vgl. ebd., 153f.
  9. Ebd., 133. Vgl. dazu Grün: Tiefenpsychologische Schriftauslegung.
  10. Vgl. Grün: Zerrissenheit, 19.
  11. Vgl. Grün: Stationen meines Lebens, 164f.
  12. Vgl. ebd., 157f.
  13. Vgl. Grün: Spiritualität, 35-38.
  14. Grün: Stationen meines Lebens, 157. Wenn Grün davor warnt, den Glauben zu „psychologisieren“, meint er damit offenbar, auch Gott selbst als psychisches Phänomen zu erklären.
  15. Vgl. das Interview mit Grün: „Trost ist nie banal!“
  16. Vgl. z. B. Grün: Schwierige Bibelstellen, 32.56f. Eine Kritik vom Alttestamentler Thomas Krüger findet sich unter www.ref.ch/news/mit-anselm-gruen-die-bibel-weichspuelen  (Abruf: 29.10.2018).
  17. Vgl. Grün: Mystik, 81-84; ders.: Stationen meines Lebens, 135f.
  18. Ebd., 176f.
  19. Vgl. Derwahl: Grün (s. Fußnote 1), 22.81f.
  20. Vgl. Grün: Erlösung, 197.
  21. Ebd., 9.
  22. Vgl. Grün: Der Glaube der Christen, 89-100.112f.
  23. Vgl. ebd., 103-116.
  24. Vgl. Grün: Das Buch der Antworten, 251-255.
  25. Vgl. Grün: Der Glaube der Christen, 99-116.
  26. Vgl. Grün: Erlösung, 27.
  27. Vgl. Grün: „Trost ist nie banal!“
  28. Grün: Fünf Bücher.
  29. Grün: Stationen meines Lebens, 74.
  30. Vgl. ebd., 127.133.
  31. Grün/Jäger: Das Geheimnis, 97.
  32. Ebd.
  33. Vgl. Grün: Zerrissenheit, 55-78.
  34. Vgl. Grün: Stationen meines Lebens , 165f; ders.: Zerrissenheit, 57.
  35. Vgl. Grün: Schwierige Bibelstellen, 78.
  36. Vgl. Grün: Wegstationen meiner theologischen Sprache, 33.
  37. Grün: Spiritualität, 7.
  38. Vgl. Grün/Jäger: Das Geheimnis, 97.
  39. Vgl. Helmut Zander: Esoterische Elemente im Menschenbild Anselm Grüns? Wurzeln seiner Anthropologie zwischen Karlfried Graf Dürckheim und der katholischen Mariologie, in: Philipp u. a., (Hg.): Theologie und Sprache bei Anselm Grün (s. Fußnote 1), 91-105, 96-98.
  40. Vgl. ebd., 91.
  41. Grün zit. ebd., 104.
  42. Grün: Wegstationen meiner theologischen Sprache, 33.
  43. Grün zit. in Zander: Esoterische Elemente (s. Fußnote 39), 101.
  44. Vgl. Grün: Mystik, 85f.
  45. Ebd., 98. Grün beruft sich bei dieser Aussage auf den Trappisten John Eudes Bamberger.
  46. Vgl. ebd., 84-86.
  47. Eph 1,4: „Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott“ (Einheitsübersetzung). Vgl. Grün/Luz: Heute das Neue Testament verstehen, 44.
  48. Vgl. dazu Otto Weber: Grundlagen der Dogmatik. Erster Band, Neukirchen/Moers 1959, 615-639.
  49. Zander: Esoterische Elemente (s. Fußnote 39), 102.
  50. Vgl. ebd., 102f.
  51. Grün zit. ebd., 102.
  52. Ebd., 105.
  53. Grün: Der Glaube der Christen, 178.
  54. Ebd., 179.
  55. Vgl. ebd., 153-156.
  56. Vgl. ebd., 91.107-110.164-171.
  57. Grün: „Trost ist nie banal!“
  58. Vgl. Grün: Stationen meines Lebens, 140-142; Grün/Jäger: Das Geheimnis, 113; Grün: Mystik, 109f.
  59. Vgl. Grün: Der Glaube der Christen, 167f.
  60. Vgl. Grün: Stationen meines Lebens, 139f.
  61. Vgl. Grün: Mystik.
  62. Grün/Jäger: Das Geheimnis, 107.
  63. Vgl. dazu den Flyer der EZW unter ezw-berlin.de/downloads/Flyer_Kompakt-Information_Esoterik.pdf.
  64. Vgl. Grün: 50 Engel, 9f.
  65. Vgl. ebd., 7-10; Grün: Stationen meines Lebens, 81f.
  66. Vgl. Grün: „Trost ist nie banal!“
  67. Vgl. dazu die Beobachtungen von Ruth Fehling: Der christliche Glaubensweg als Heilungsweg. Zum spirituellen Konzept Anselm Grüns, in: Philipp u. a. (Hg.): Theologie und Sprache bei Anselm Grün (s. Fußnote 1), 188-202, 191, und Gerd Rudolf: Zwischen Theologie und Psychotherapie. Ein psychoanalytischer Blick auf die Sprache Anselm Grüns, in: Philipp u. a. (Hg.): Theologie und Sprache bei Anselm Grün (s. Fußnote 1), 106-122, 111f.118.
  68. Grün: Wegstationen meiner theologischen Sprache, 31.
  69. Beide Stellen zielen m. E. nicht auf den Menschen an sich, sondern auf eine spezifische Identität und Existenz „in Christus“. Vgl. zu Eph 1,4 z. B. Rudolf Schnackenburg: Der Brief an die Epheser, Neukirchen-Vluyn u. a. 22003, 50-52.
  70. Rudolf: Zwischen Theologie und Psychotherapie (s. Fußnote 67), 118.
  71. Ebd., 121.
  72. Ebd., 112.
  73. So z. B. vorsichtig Fehling: Der christliche Glaubensweg (s. Fußnote 67), 197.200.
  74. Vgl. Grün: Zerrissenheit, 58-62; ders.: Das Kreuz, 119-122.
  75. Vgl. Grün: Spiritualität, 61-65.
  76. Vgl. Grün: Mystik, 99.
  77. Grün: „Trost ist nie banal!“