Ingo Wiwjorra

Zwischen Spurensuche und Fiktion

Was wissen wir über die Religionen „unserer Ahnen“?

Zur Überlieferung der Ureinwohner Australiens gehören Felszeichnungen, die zum Teil bis zu 40 000 Jahre alt sein sollen. Die Sitte, mythologische Bilder auf Felswänden festzuhalten, wird in Australien stellenweise noch bis in unsere Zeit geübt. Es heißt, dass die Bildwerke sowie eine lange Kette mündlicher Überlieferung eine für heutige Vorstellungen kaum zu begreifende Kulturkontinuität widerspiegeln. Die „Aborigines“ begreifen diese Zeitspanne als „Traumzeit“, in der sie sich in einer ewigen Verbindung zwischen den Ahnen und den zukünftigen Geschlechtern eingereiht sehen.2

Auch das Beispiel der Juden verweist auf eine ungebrochene Weitergabe von Religion und Kultur über immerhin etwa 3000 Jahre. Allerdings ist die historische Verifizierung der mythischen Entstehung des jüdischen Volkes und seines Glaubens vor dem Hintergrund neuerer archäologischer Studien nicht unproblematisch.3

Derartig lange Wege der Religions- und Kulturweitergabe haben eine große Anziehungskraft für viele Menschen unserer Zeit, die teils Bewunderung, teils Neid erkennen lassen. Die Anteilnahme bezieht sich weniger auf die Religionsinhalte, sondern schlicht auf die Attraktion des Alters und die Faszination der langen Kontinuität, die im Kontrast zur Kurzlebigkeit und Bindungslosigkeit unserer Gegenwart steht. Dass die Überlieferungen ethnisch bzw. an strenge Zugehörigkeitsregeln gebunden sind, verstärkt die Faszination eher noch, wirken sie in diesen Gruppen doch in erheblichem Maße identitätsprägend. Zwar hat bei den australischen Ureinwohnern der erzwungene und nahezu vollständige Traditionsabriss deren Existenz massiv in Frage gestellt, dennoch sehen manche von ihnen im Aufgreifen der Überlieferungen die essentielle Voraussetzung ihres ethnischen und kulturellen Fortbestehens. Auch für die Juden war das Wissen um die uralte religiöse und kulturelle Überlieferung stets ein Anlass zur Selbstvergewisserung als Schicksalsgemeinschaft oder sogar als Nation und half, antisemitischen Ressentiments zu widerstehen.

Anders als die Juden und ähnlich wie die australischen Ureinwohner mussten die christianisierten Völker Europas (und der übrigen Welt) einen Glaubenswechsel verkraften. Die klischeehafte Vorstellung von der abrupten und nur gewaltsamen Missionierung „mit Feuer und Schwert“ verstellt jedoch den Blick auf die vielschichtigen historischen Prozesse, die in Mittel- und Nordeuropa etwa zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert mit der Christianisierung verbunden waren.4 Aufgrund ihres Universalitätsanspruchs sieht sich die christliche Weltreligion nicht dazu berufen, das Bewusstsein ethnischer Identität hervorzukehren. Andererseits ist zu konstatieren, dass sich die europäischen Nationsvorstellungen gerade im Anschluss an das christliche Mittelalter herausbildeten.5 Die Frage, ob dies so auch ohne den Glaubenswechsel geschehen wäre, bleibt fiktional. Aber ebenso konstruiert und vor allem politisch motiviert ist die von radikalen Anhängern einer neuheidnischen Glaubensrenaissance unterstellte Behauptung, die Christianisierung hätte bewusst auf eine Identitätsabschneidung hingearbeitet.

Mit der unter antiklerikalen Vorzeichen stehenden Diskreditierung der Christianisierung zu einem moralisch nicht zu rechtfertigenden Gewaltakt wurde häufig die Annahme verknüpft, das Heidentum habe sich in bestimmten gesellschaftlichen Nischen über Jahrhunderte zumindest bruchstückhaft erhalten. Denkbar ist wohl, dass zum Teil Generationen vergingen, bis sich der christliche Glaube nicht nur in den Eliten, sondern auch in den unteren Volksschichten festigte, zumal die lateinische Liturgie einem individuellen Verständnis der Glaubensinhalte über Jahrhunderte hinderlich war. Dies mag zur Bildung synkretistischer Traditionen beigetragen haben. Inwieweit christliche Glaubensinhalte und noch gegenwärtiges heidnisches Brauchtum miteinander verschmolzen, war und ist eine von christlichen Theologen wie neuheidnischen Autoren leidenschaftlich diskutierte Frage. Bis heute wird darüber gestritten, ob Weihnachten und Ostern originär christlich sind6 oder ob die Bräuche dieser Jahresfeste auch Relikte heidnischer Glaubensformen enthalten.7

Dispute um den Stellenwert der heidnischen Vergangenheit standen regelmäßig unter dem Eindruck bestimmter Erwartungen und gerieten dabei selbst häufig in die Nähe eines Bekenntnisaktes, der eine distanzierte historische Beschreibung des Glaubensumbruchs erschwerte. Vor allem im 19. Jahrhundert wurde der vorchristliche Glaube zunehmend positiv rezipiert und als „Deutsche Mythologie“ zum nationalen Erbe erhoben.8 Stellte diese Identifikation mit dem heidnischen Altertum das christliche Selbstverständnis der Gegenwart zunächst noch nicht grundsätzlich in Frage, ist seit der Wende zum 20. Jahrhundert eine Radikalisierung dieser produktiven Aneignung vorchristlicher Glaubensformen zu beobachten, die bis zu Bestrebungen einer Renaissance bzw. eines Neuentwurfs heidnischer Religionsvorstellungen reicht.

Das hier unter dem Begriff des Neuheidentums zusammengefasste Spektrum einer rückwärtsgewandten Religionssuche ist von den gleichzeitig spürbar werdenden Krisenerscheinungen der Moderne nicht zu trennen. Diese vor allem milieubedingt und dort vorwiegend subjektiv empfundene „Krise der Moderne“ lässt sich mit drei Beispielen illustrieren: Erstens sind soziale Verwerfungen zu verzeichnen, die Folgen der mit der Industrialisierung verbundenen Umbrüche sind. Die sichtbare Veränderung insbesondere der ländlichen Räume durch Industriebetriebe, Verstädterung, Verkehr und Migrationen in vorher kaum gekanntem Ausmaß hinterließ ein Gefühl der Entwurzelung, das als Reaktion eine facettenreiche Reformkultur hervorbrachte. Zweitens lassen die Konzepte zur Bewältigung der gesellschaftlichen Konflikte eine Radikalisierung des politischen Denkens erkennen: Sozialrevolutionärer Umsturz oder völkische Wiedergeburt sind Eckpfeiler des Argumentationsspektrums, gegenüber denen demokratische Liberalität als fauler Kompromiss erschien. Drittens lässt sich die Zuspitzung einer Glaubenskrise konstatieren, die aus der Unvereinbarkeit von moderner Naturwissenschaft und Bibel resultierte. Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie traten in einen unversöhnlichen Gegensatz, der Formen eines massenmedial ausgetragenen Kulturkampfes annahm.9 Einzelne Inhalte und Formen der Krisenphänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben noch immer Aktualität. Das in dieser Zeit aufkommende Neuheidentum existiert bis heute und spiegelt die Identitäts- und Modernitätskrise in besonderem Maße wider.10 Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten „Was wissen wir über die Religionen ‚unserer Ahnen’?“11, müssen die aus der umrissenen Modernitätskrise handlungsleitenden Motivationen berücksichtigt werden, weil diese die im 19. und 20. Jahrhundert gegebenen Antworten maßgeblich mitprägten und zum Teil noch heute relevant sind. Die mit der Frage verbundenen Erwartungshaltungen und Erkenntnisinteressen zwingen aber zu einer Präzisierung der Aufgabenstellung: Was meinen Neuheiden heute über die Religionen „unserer Ahnen“ zu wissen, und welchen methodischen Problemen und wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten stehen sie gegenüber?

Welches Heidentum?

Wenn Neuheiden heute den Versuch unternehmen, an das vorchristliche religiöse Erbe anzuknüpfen, beziehen sie sich häufig auf eine vermeintlich authentische regionale Volksüberlieferung, in der sich Relikte des Heidentums in Form von Sagen und Bräuchen erhalten hätten. Ferner werden schriftliche Quellen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft rezipiert und interpretiert, in denen von heidnischen Kulten die Rede ist. Schließlich werden archäologische Funde als gegenständliche Überreste heidnischer Religion herangezogen und gedeutet. Es stellt sich hier zunächst die Frage: Auf welches Heidentum nimmt diese Religionssuche überhaupt Bezug?

Die eingangs erwähnte kulturreligiöse Kontinuität der australischen Ureinwohner und der Juden bietet keine widerspruchslosen Vorbilder, denn die Annahme der ungebrochenen Weitergabe religiöser Inhalte und Praktiken unterschlägt den in jeder menschlichen Gesellschaft unvermeidlichen Wandel von Anschauungen, die ihrerseits Reaktionen auf sich stetig oder abrupt ändernde Lebensumstände sind. Selbst das Festhalten an kodifizierten Traditionskernen kann dies nicht verhindern, weshalb auch das moderne Judentum mit seinen verschiedenen Strömungen nicht einfach mit den Verhältnissen in Palästina von vor 2000 oder 3000 Jahren gleichgesetzt werden kann.

Auf der Suche nach den vorchristlichen Glaubensvorstellungen Mitteleuropas begegnen wir mindestens fünf verschiedenen epochalen Überlieferungshorizonten, die auf einen mehrmaligen religiösen Wandel hindeuten. Diese Tatsache hindert uns daran, von dem Heidentum zu sprechen. Zur Illustrierung dieses Wandels werden nachfolgend jeweils Zeugnisse vorchristlicher Religionsausübung aus dem Jungpaläolithikum (jüngere Altsteinzeit), aus der Zeit des Neolithikums (Jungsteinzeit), der Bronzezeit, aus der römischen Überlieferung und schließlich aus dem Frühmittelalter exemplarisch vorgestellt. Diese epochenspezifischen und aus methodischen Gründen sehr engen Grenzen unterworfenen Interpretationen werden dann anhand einzelner Beispiele mit neuheidnischen Positionen konfrontiert.

Bereits für das Jungpaläolithikum sind zahlreiche Höhlenmalereien bezeugt. Diese etwa zwischen 10 000 und 35 000 Jahre alten erstaunlichen Bildwerke werden sehr häufig in einen kultisch-magischen Zusammenhang gestellt. Die Deutung der Malereien als Mittel schamanistischer Beschwörungen oder eines Jagdzaubers erscheint der Forschung heute plausibel, weil einzelne Motive diese Assoziation nahelegen und weil sich diese Deutung am ehesten mit ethnologischen Parallelen außereuropäischer Regionen verbinden lässt.12 Ähnlich verhält es sich mit der auch aus Mitteleuropa bekannten jungpaläolithischen Kleinplastik. Menschtier- und Phantasiewesen, so etwa ein in Süddeutschland gefundener „Löwenmensch“, lassen wie einige Höhlenbilder an Schamanismus denken.13 Eine Vielzahl überwiegend dickleibiger Frauenfiguren, sogenannte Venusstatuetten, wird häufig für einen das Weibliche überhöhenden Fruchtbarkeitskult in Anspruch genommen.14 Ferner sind aus dem Jungpaläolithikum bereits Körperbestattungen mit Beigaben nachweisbar, was auf komplexe Jenseitsvorstellungen hindeutet.15 Aufgrund der Nichtsesshaftigkeit der jungpaläolithischen Jäger und Sammler existieren allerdings insgesamt nur sehr wenige Zufallsfunde. Bei allen Interpretationen handelt es sich lediglich um Erklärungsmodelle.16

Die Zeugnisse jungpaläolithischer Religionspraxis werden im neuheidnischen bzw. außerchristlichen Spektrum relativ selten und sehr selektiv wahrgenommen. Von Vertreterinnen eines modernen Hexenkults oder des Feminismus werden „Venusstatuetten“ sowie angebliche Vulvendarstellungen als Hinweis auf eine spezifisch weibliche Spiritualität oder auch als Signum matriarchaler Gesellschaftsstrukturen interpretiert.17 Im Überschneidungsbereich des politisch rechts gerichteten Neuheidentums mit der völkischen Ideologie ist das Jungpaläolithikum als eine Epoche rassischer Hochzucht Gegenstand der Identifikation. Der klimatisch prekäre Norden des Eiszeitalters gilt dort als Ursache geistiger Überlegenheit über andere Rassen wie auch als Quelle frühester Spiritualität, die sich in der Schöpfung ältester Symbol- und Schriftsysteme manifestiert habe. Diese Spekulationen folgen jenseits wissenschaftlich diskutabler Interpretationen vor allem ideologischen Prämissen.

Mit der Sesshaftwerdung des Menschen muss ein tiefgreifender kultureller Wandel eingesetzt haben, der in Mitteleuropa etwa ab 6000 v. Chr. und weiter nördlich etwas später zu datieren ist.18 War die Existenz in der Zeit der herumstreifenden Jäger und Sammler vom Jagdglück abhängig, so spielte nun die Bodenfruchtbarkeit des eigenen Ackerlandes eine wichtige Rolle. Diese veränderte Lebensweise dürfte das religiöse Denken entscheidend verändert haben. Unweit der Siedlungsbefunde lassen sich systematisch angelegte Bestattungen finden, die auf kodifizierte Riten schließen lassen.19 Auf zum Teil sehr großen neolithischen Gräberfeldern ist zumeist eine seitliche Hockstellung der Bestatteten zu beobachten. Teilweise überwiegen bestimmte Himmelsrichtungen bei der Orientierung der Toten. Zu vielen Siedlungen sind jedoch keine Gräber nachweisbar. Dies deutet auf Bestattungsriten hin, die keine Spuren im Boden hinterlassen. Ferner finden sich aufwendige Grabhügel und Großsteingräber verschiedener Bauart, die zum Teil als auffällige Landmarken gestaltet sind. Da diese Kollektivgräber und/oder Kultbauten ein hohes Maß an Arbeitsteilung und Organisation erfordern, muss ein gesellschaftlicher Konsens über einen auch sozialen Status oder Hierarchien abbildenden Grabritus und damit über religiöse Vorstellungen existiert haben, von denen in den auffindbaren Bestattungen häufig auch geschlechtsdifferenzierte Grabbeigaben zeugen.

Die genannten Bestattungsformen sind in der Regel nicht regions- oder epochenspezifisch, sondern kommen in verschiedenen, teils ungleichzeitigen, teils gleichzeitigen lokalen Varianten vor. Da die den Umgang mit dem Tod widerspiegelnden Bestattungsbräuche zentraler Bestandteil religiöser Praxis sind, können dementsprechend sich zeitlich ablösende und regional abweichende und wahrscheinlich sogar sozial differenzierte Religionsvorstellungen angenommen werden. Über spezielle Religionsinhalte ließe sich fast beliebig spekulieren. Alle diesbezüglichen Aussagen beruhen auf theoretischen Annahmen und assoziativen Befundinterpretationen.

Unter den archäologischen Zeugnissen des Neolithikums mit möglichem Religionsbezug schenken die Vertreter des Neuheidentums insbesondere den Großsteingräbern und anderen megalithischen Anlagen große Aufmerksamkeit. In ihrer fiktiven Bedeutung als Ahnentempel, Gerichtsstätte oder geomantischer Ort haben sie für das Neuheidentum Symbolcharakter. Die aus naturbelassenem und Ewigkeit assoziierendem Felsgestein gestalteten monumentalen Denkmäler gelten als Mahnmale zum Ausdruck einer Verbundenheit mit den vorchristlichen Ahnen, was einige Neuheiden sogar dazu bewegte, sich unter Findlingen auf eigens dazu gegründeten heidnischen „Ahnenstätten“ bestatten zu lassen.20 Diese modernen Bedürfnissen folgende Imitation des neolithischen Totenbrauchs liegt aber in unergründlicher Weite von den religiösen Anschauungen entfernt, die vor 3500 bis etwa 5500 Jahren zur Errichtung megalithischer Bauwerke führten. Das Neuheidentum in seiner Eigenschaft als eine dezidiert antimoderne, archaistische Konstruktion wird auch in der auf eine Rassenreligion zielenden „Artgemeinschaft“ greifbar, die für ihre vierteljährlich erscheinende „Nordische Zeitung“ seit 1991 nicht mehr die christliche Zeitrechnung verwendet, sondern unter Hinzuzählung von 1800 Jahren hier das Jahr „3791 n. St.“ (n. St. = nach Stonehenge) angibt. Der auf das Alter von 3800 Jahren datierte berühmte südenglische Steinkreis sei anstelle des „angeblichen Geburtjahr [s eines] jüdischen ‚Gottessohnes’“ das für die zu schaffende „Nordische Nation“ angemessene Richtmaß, was in dieser Formulierung zugleich eine antisemitische Anspielung enthält.21

Während der Bronzezeit (ab etwa 2300 v. Chr.) ist ein Wechsel der Bestattungssitten feststellbar, der möglicherweise mit einem religiösen Wandel einhergeht. Dominiert zunächst noch die Sitte der Körperbestattung, so ist ab etwa 1200 v. Chr. die zum Teil ebenfalls beigabenreiche Brandbestattung vorherrschend, weshalb dieser bronzezeitliche Abschnitt auch als Urnenfelderzeit bezeichnet wird. Für die gesamte Bronzezeit werden zahlreiche archäologische Funde als Zeugnisse der Religionsausübung diskutiert.22 Hierzu gehören absichtsvoll und irreversibel in Seen und Mooren versenkte wertvolle Bronzegegenstände, die auf Opferrituale hindeuten.23 Die Aussagefähigkeit der möglicherweise mythologische Vorstellungen widerspiegelnden Felsbilder Skandinaviens für die etwa 1500 Jahre jüngeren Verhältnisse in Nord- und Mitteleuropa beruht auf der problematischen Rückprojektion des Konstrukts einer gemeingermanischen Religion in die Bronzezeit. Gleichwohl reflektieren die schwer zu datierenden Felsbilder und „Schalensteine“ des Alpenraums vielleicht ebenfalls religiöse Praktiken. Jedoch lässt sich nicht verifizieren, ob und inwieweit diese mit denen des Nordens vergleichbar sind.

In neuheidnischen Publikationen erfährt in den letzten Jahren vor allem die aus der Bronzezeit stammende sogenannte Himmelsscheibe von Nebra eine besondere Aufmerksamkeit.24 Die bei diesem Objekt auch von wissenschaftlicher Seite vertretenen und nicht unproblematischen archäoastronomischen Interpretationen gelten den Neuheiden als Bestätigung für eine gerade auch die spirituelle Dimension betreffende „Kulturhöhe“ der mitteleuropäischen Vorfahren.25 Mit dem Nachweis einer sich zwischen kosmischer Erkenntnis und Kult bewegenden „Sonnenreligion“ bereits in der Bronzezeit oder sogar schon im Neolithikum wäre der in kulturhistorischen Darstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts häufig zu lesende Barbarenvorwurf nun umso nachdrücklicher zu widerlegen. „Hochkultur“ sei damit nicht erst mit dem Christentum in Wiederholung eines sich durch die Kulturgeschichte ziehenden „ex oriente lux“ in den Norden gekommen, sondern seit ältester Zeit einheimisch. Neuheidnische Christentumskritik steht hier in engem Zusammenhang mit der tendenziösen These einer mit dem Germanenmythos verbundenen nordischen Kulturüberlegenheit.26

Neben den archäologischen Funden stehen für die römische Zeit erstmals Schriftquellen zur Verfügung, die auch Aussagen über die religiöse Praxis in den Gebieten nördlich der Alpen enthalten. Es handelt sich hierbei u. a. um die unter dem Kurztitel „Germania“ bekannt gewordene ethnographische Darstellung des römischen Schriftstellers Tacitus, die seit ihrer Entdeckung durch italienische Humanisten im 15. Jahrhundert und im Zuge ihrer nachfolgenden Rezeption eine unvergleichliche Wirkung vor allem auf die deutsche Geschichtsschreibung ausgeübt hat.27 Es heißt dort in Bezug auf die Religion der Germanen, dass es ihnen „mit der Hohheit des Himmlischen unvereinbar [sei], Götter in Wände einzuschließen und sie irgendwie menschlichem Gesichtsausdruck anzunähern: sie weihen Lichtungen und Haine und geben die Namen von Göttern jener weltentrückten Macht, die sie allein in frommem Erschauern erleben“.28 Die Unterstellung gewissermaßen naturreligiöser Anschauungen bei den Germanen ging in das Repertoire deutscher Nationalstereotype ein und mündete in das mythische Bild eines heiligen „deutschen Waldes“.29 Das Tacituszitat nahm zudem die Funktion einer Antithese zum Christentum ein, wonach die germanische Frömmigkeit keinen Tempelbau kannte und ihr der Glaube an einen personifizierten Gott widerstrebte. Die Vorstellung eines Kultes in heiligen Hainen sowie Tacitus’ Annahme, die Germanen hätten nicht in Städten gelebt, sondern vielmehr die vereinzelte Siedlung bevorzugt30, kam modernekritischen Einstellungen wie insbesondere der Großstadtfeindschaft der Völkischen entgegen. Diese selektive Lesart der „Germania“ blendete bewusst Textpassagen aus, in denen von Menschenopfern, Glücksspiel, Faulheit und Trunksucht der Germanen die Rede ist.31 Schließlich handelt es sich bei der „Germania“ des Tacitus selbst bereits um einen politischen Text, der absichtsvoll mit der dekadenten römischen Zivilisation kontrastierte. Daher sind alle seine Aussagen, so auch die zur Religion der Germanen, quellenkritisch zu hinterfragen.32

Die für die Rekonstruktion der vorchristlichen Religion umfangreichsten textlichen Quellenbestände stammen aus dem Mittelalter und gehören damit selbst in eine Zeit, in der das Christentum stellenweise bereits etabliert oder zumindest präsent war. Die Kennzeichnung des originär Heidnischen in diesen Schriftquellen gestaltet sich nicht nur aufgrund der Überlieferungszusammenhänge schwierig. Sie wird zusätzlich von zu hoch gesteckten Erwartungshaltungen behindert, die aus der unkritischen Lektüre einer bis heute präsenten älteren Tendenzforschung des 19. und 20. Jahrhunderts resultiert. Zudem stammt die für die (Re-)Konstruktion neuheidnischer Religionsentwürfe regelmäßig herangezogene „Edda“ aus Island. Die zu diesem Textcorpus gehörenden Handschriften wurden dort erst im 13. Jahrhundert, also in christlicher Zeit, aufgezeichnet. Ihr Inhalt hätte nur einen Aussagewert für die Verhältnisse in Mitteleuropa, sofern er verallgemeinerungsfähige Aspekte des „germanischen“ Heidentums enthielte.33

Schließlich müssen Texte aus noch späterer Zeit oder volkskundliche Quellen, die angeblich Relikte eines noch lebendigen heidnischen Brauchtums überliefern, sehr kritisch gelesen werden. Die unterstellte Überlieferungskontinuität erweist sich häufig als eine über die Sekundärliteratur ungeprüft weitergereichte Mutmaßung aus der Frühen Neuzeit, die im Zuge ihrer Romantisierung seit dem 19. Jahrhundert ein neues Eigenleben entfaltete. Der Nachweis des vermeintlichen „Volksglaubens“ als ein vergleichsweise junges Konstrukt bzw. die Verifizierung nicht grundsätzlich auszuschließender vor- oder außerchristlicher Traditionen bedarf in jedem Einzelfall einer aufwendigen und noch zu leistenden Forschung.

Die vorgestellten Beispiele zu Quellen aus dem Jungpaläolithikum, dem Neolithikum, der Bronzezeit, der Römerzeit und dem Mittelalter repräsentieren unterschiedlichste Spuren vorchristlicher Religionsvorstellungen, die kaum etwas miteinander zu tun haben bzw. deren Zusammenhänge sich einer wissenschaftlich verifizierbaren Interpretation weitgehend entziehen. Über den mehrfachen Wandel religiöser Anschauungen hinaus dürfte eine mit Sprachvielfalt einhergehende regionale Pluralität bestanden haben. Eine einzige, in sich geschlossene heidnische Religion erweist sich auch vor diesem Hintergrund als ein Wunschbild ohne historische Entsprechung.

Welche Ahnen?

Im Anschluss an die Frage „Welches Heidentum?“ ist zu fragen, welchen „Ahnen“ diese angenommene Vielfalt vorchristlicher Glaubensformen zuzuordnen ist. Für den mitteleuropäischen Raum ist uns erst von antiken Autoren eine Fülle von Völker- und Stammesnamen überliefert, die sich in der Geschichtsschreibung mit unterschiedlichem Gewicht niedergeschlagen hat.

Eine Konzentration auf Kelten, Slawen und Germanen ist hier sinnvoll, nicht weil diese Bezeichnungen die ethnohistorische Wirklichkeit abbilden, sondern weil sie in der Geschichtsschreibung dominieren und damit eine zumindest sekundäre historische Wirklichkeit erhielten. Mit diesen ethnischen Bezeichnungen wird z. T. sehr Unterschiedliches verbunden. So sind die Germanen primär ein kleiner niederrheinischer Stamm. In der römischen Literatur, insbesondere bei Tacitus, wird dieser Stammesname als pars pro toto auf die gesamte Bevölkerung nordwestlich und östlich des Rheins übertragen. Ferner verbindet sich mit dem Germanennamen eine Sprachfamilie, die die sprachverwandten „germanischen“ Völker Nordwesteuropas zusammenfasst.34 Schließlich begegnet uns in der Kulturgeschichtsschreibung ein Germanenstereotyp, das mit Bezug auf eine häufig zitierte Tacitusstelle auf ein bestimmtes äußeres Erscheinungsbild, insbesondere auf rotblonde Haare und blaue Augen abhebt.35 Diese verschiedenen Germanenbegriffe sind jeweils das Ergebnis ganz unterschiedlicher Rezeptionsprozesse. Wird nach der „germanischen“ Religion gefragt, so wäre demnach zunächst einzugrenzen, auf welchen Germanenbegriff sich diese Religion denn beziehen soll.

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Kelten“. Er ist nach griechischen Schriftquellen zunächst eine Sammelbezeichnung für die Völker der europäischen Nordhälfte und wird dann in römischen Texten bevorzugt für bestimmte Völker im Westen und Nordwesten des Kontinents verwendet, so etwa für die Gallier. Darüber hinaus bezeichnet das Keltische eine Sprachengruppe vor allem im Nordwesten Europas. Hinzu tritt ein archäologischer Keltenbegriff, der sich auf die eisenzeitlichen Formenkreise der Hallstatt- und Latène-Kultur (um 800 bis etwa 50 v. Chr.) besonders in Süddeutschland und im Alpenraum bezieht. Schließlich begegnen wir einem Keltenstereotyp, das sich einerseits mit dem Germanenstereotyp überschneidet, andererseits mediterrane Charakterstereotype einschließt.36

Die Slawen sind in erster Linie eine Sprachgruppe, deren westliche Ausläufer sich seit dem Frühmittelalter teilweise mit deutsch- bzw. germanischsprachigen Territorien überkreuzten.37 Die Benennung von Vorgängerbevölkerungen der Slawen ist aufgrund der dürftigen Überlieferungssituation weitgehend spekulativ und daher strittig. Die geographischen Überschneidungen von „Germanen“ und „Slawen“ werden in der Geschichtsschreibung überwiegend konfliktreich interpretiert, was sich in der Konstruktion eines negativen Slawenstereotyps niederschlug.

Bei dem Versuch, „unsere Ahnen“ namentlich zu benennen, ist man also mit einer begrifflichen bzw. begriffsgeschichtlichen Mehrdimensionalität konfrontiert. Die Festlegung auf einen ethnischen Begriff führt immer zu einem illegitimen Einschluss von geographisch von Mitteleuropa womöglich fernstehenden Verhältnissen und andererseits zu einem ebenso illegitimen Ausschluss bestimmter „Ahnen“. Konkret heißt das: Wenn das Germanische für Mitteleuropa als maßgebend erachtet wird – wie dies in weiten Teilen der deutschen Kulturgeschichtsschreibung entsprechend der apodiktischen Forderung einer Gleichung „germanisch = deutsch“ die Regel ist38 –, so wird die vorchristliche Religion Mitteleuropas unter Umständen über eine gemeingermanisch klassifizierte isländische Edda, aber unter Ausschluss keltischer und slawischer Überlieferungen beschrieben. Dies ist daher in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Die Unzulänglichkeiten bei der ethnischen Identifikation der vorchristlichen Religionsspuren führten zu der Annahme einer die Differenzierungen aufhebenden Religion der „Indogermanen“, die infolge rätselhafter makrohistorischer Prozesse weite Teile Europas und asiatische Räume bis nach Indien geistig zusammengeschlossen haben soll.39 Zu einem Identitätssubjekt wurden jene Indogermanen, Indoeuropäer oder Arier im völkischen bzw. neuheidnischen Kontext vor allem dann, wenn sie zugleich mit rassentheoretischen Zuweisungen belegt wurden, die Germanen, Kelten und (Alt-)Slawen sowie auch Eliten der Römer und Griechen unter dem Signum des „Nordischen“ vereinten.40

Fazit

Trotz einer inzwischen Bibliotheken füllenden Literatur lassen sich angesichts vielfältiger methodischer und begrifflicher Probleme kaum Aussagen über die „Religionen ‚unserer Ahnen’“ treffen, die über unspezifische und schlaglichtartige Deutungen hinausgehen. Die sich insbesondere auf Mitteleuropa beziehenden schriftlichen Quellen sind von zu geringer Aussagekraft, und die Interpretationsspielräume der archäologischen Befunde sind zu groß. Die in der älteren Literatur und in vielen populären Darstellungen häufig zu lesenden Verallgemeinerungen ignorieren epochale Traditionsbrüche und räumliche Differenzierungen.

Zu diesen unspezifischen Aussagen gehören etwa das Vorhandensein des Opfers, die ehrfürchtige Verehrung von Naturgeistern und -göttern, die Praxis von Zauber und Magie sowie die Einbindung des Einzelnen in enge und für das Individuum ausweglose gesellschaftliche Hierarchien und Gefolgschaften. Die in verschiedenen Überlieferungen genannten Götternamen und deren Attribute verweisen auf Naturbeseelung oder auch auf Tugenden und Sünden.41 Allerdings sind die beschriebenen Eigenschaften häufig keine Nachrichten aus erster Hand, sondern enthalten Vorkenntnisse und Erwartungen des Betrachters. So folgt etwa Tacitus – obwohl er den Norden selbst nie bereist hat – einer interpretatio romana, wenn er bei den Germanen eine Verehrung der römischen Götter Merkur, Herkules und Mars annimmt. Erst die religionswissenschaftliche Interpretation hat aufgrund einer ähnlichen Attributierung dieser Götter auf eine Anbetung von Wodan/Odin, Donar/Thor und Ziu/Týr geschlossen, die namentlich erst aus deutlich späteren Quellen bekannt sind.42

Obwohl also eine reiche Fülle von Quellen und Interpretationen über die vorchristlichen Religionen vorliegt, fehlt trotz aller Kenntnis vieler mehr oder weniger spekulativer Einzelbefunde der verschiedenen Orte und Zeiten eine Vorstellung davon, was man als „heidnische Theologie“ bezeichnen könnte. Man stelle sich die fiktive Situation vor, es würden in 1000 Jahren für die Erschließung der christlichen Religion des 20. Jahrhunderts nur archäologische Fragmente zur kirchlichen Liturgie aus Türkisch-Armenien, einige Reste von Kirchenbauten aus Deutschland aus den 1970er Jahren sowie Beschreibungen einiger Heiligenfiguren und von deren Attributen aus der Sicht eines nordamerikanischen Agnostikers des 22. Jahrhunderts zur Verfügung stehen: Aufgrund dieser fragmentarischen und inhaltlich vollkommen inkonsistenten Quellen wäre es kaum möglich, auf die christliche Theologie zu schließen, geschweige denn einstige konfessionelle Varianten wie Protestantismus, Katholizismus oder gar christliche Sondergemeinschaften festzustellen. Wenn die Menschen zu Beginn des 4. Jahrtausends dann aber dennoch die Sehnsucht nach einer Renaissance der Religion verspüren und diese Religion als Neuchristentum betiteln wollen, werden sie wohl auf die über die Zeit geretteten Fragmente zurückgreifen, und einige werden behaupten, sie hätten das alte Christentum verstanden. Deren Kritiker werden aber darauf hinweisen, dass jene „Neuchristen“ nur moderne Bedürfnisse mit Äußerlichkeiten des Alten verkleiden.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Neuheidentum: Auch hier begegnen wir einer selektiven und tendenziösen Interpretation der verschiedensten Quellentexte und archäologischen Funde, der Neukombination dieser Fragmente zu einem vermeintlich Ganzen und dem anschließenden Versuch, dieses neureligiöse Potpourri zu historisieren. Alle auf eine Rekonstruktion vorchristlicher Glaubensformen gerichteten neuheidnischen Entwürfe sind daher ahistorisch und modern. Der Hinweis darauf, dass das Neuheidentum außer dem äußeren Schein keine substantiellen inhaltlichen Bezüge zur vorchristlichen Religion hat, ist für einige seiner gegenwärtigen Vertreter ein inakzeptabler Affront43, jedoch für manche durchaus kein unüberbrückbares Manko und mündet in Konzeptionen, die über eine rein rückwärtsgewandte Rückschau in germanische Mythen hinausgehen. Das Bekenntnis zu den eigenen „Ahnen“ und ihrer Religion ist dann eher ein symbolischer Akt, der eine Abgrenzung von dem als bedrohlich stigmatisierten „Fremden“ und von nicht akzeptierten Entwicklungen der Gegenwart zum Ausdruck bringen soll. Bei diesem Bekenntnis werden bestimmte Lebens- und Ausdrucksformen einer alternativen Moderne gewissermaßen mit bestimmten Zeichen des Archaischen markiert. Eine historische Authentizität ist bei dem symbolischen Bekenntnisakt überhaupt nicht erforderlich. Dieses Neuheidentum verlangt lediglich einen Konsens darüber, dass die kulturelle Überlieferung dem im weitesten Sinne „Einheimischen“ angehört. Diese Anforderung erfüllen europäische Eiszeitkunst, megalithische Monumente, Tacitus’ „Germania“ und die Edda gleichermaßen, sofern sie über die Annahme einer kulturellen und/oder rassischen Kontinuität konstruiert ist. Eine seriöse Forschung kann aufgrund methodischer Grenzen und unzureichender Quellen die gewünschten Belege für eine epochenüberspannende Kontinuität in der Regel aber nicht erbringen. Die Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeiten unterlaufen Anhänger des Neuheidentums durch eine extrem selektive Wahrnehmung neuerer Publikationen zur Ur- und Frühgeschichte sowie mithilfe einer Laienforschung, zu der neuheidnische Vereinigungen intensive Kontakte unterhalten.

Die Erkenntnis, dass das heute in den unterschiedlichsten Varianten vertretene Neuheidentum mit den „Religionen unserer Ahnen“ nichts gemein hat, ist nicht unbedingt Teil einer Problemlösung. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die Präsenz von Neuheiden oder auch die sehr viel populärere Sinnsuche im esoterischen Supermarkt reale Bedürfnisse spiegeln und eine authentische Facette der Zeit sind, in der wir leben. Diese Bedürfnisse erwachsen durchweg aus den Krisenwahrnehmungen der Gegenwart, von denen eingangs die Rede war. Die zur Überwindung der Krise beschworenen Begriffe wie Naturverbundenheit, Heimatverbundenheit und Ahnenverbundenheit gelten im politischen Diskurs der Gegenwart als antiquiert oder lösen als Reaktion auf die Folgen des Nationalsozialismus eine ängstliche Abwehr aus. Indessen existiert kein Konsens darüber, wie viel Tradition

Die Erkenntnis, dass das heute in den unterschiedlichsten Varianten vertretene Neuheidentum mit den „Religionen unserer Ahnen“ nichts gemein hat, ist nicht unbedingt Teil einer Problemlösung. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die Präsenz von Neuheiden oder auch die sehr viel populärere Sinnsuche im esoterischen Supermarkt reale Bedürfnisse spiegeln und eine authentische Facette der Zeit sind, in der wir leben. Diese Bedürfnisse erwachsen durchweg aus den Krisenwahrnehmungen der Gegenwart, von denen eingangs die Rede war. Die zur Überwindung der Krise beschworenen Begriffe wie Naturverbundenheit, Heimatverbundenheit und Ahnenverbundenheit gelten im politischen Diskurs der Gegenwart als antiquiert oder lösen als Reaktion auf die Folgen des Nationalsozialismus eine ängstliche Abwehr aus. Indessen existiert kein Konsens darüber, wie viel Tradition oder Traditionalistisches unsere Gesellschaft sich leisten darf oder sollte und wie viel Wandel sie verträgt, ohne daran zu zerbrechen.


Ingo Wiwjorra, Wolfenbüttel


Anmerkungen

1 Eine inhaltlich erweiterte und durch weiterführende Literaturverweise ergänzte Fassung dieses Beitrages erscheint demnächst in: G. Ulrich Großmann / Uwe Puschner (Hg.), „Völkisch“. Denktraditionen und Mythenbildung im 21. Jahrhundert, Darmstadt.

2 Gerhard Leitner, Die Aborigines Australiens, München 2006.

3 Zum Problem der historischen Fassbarkeit frühester jüdischer Religionsbildung siehe Hans Küng, Das Judentum. Wesen und Geschichte, München / Zürich 2007, 47-53. Zu den Widersprüchen zwischen mythischer Überlieferung und archäologischem Befund siehe Israel Finkelstein / Neil A. Silberman, Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München 2004.

4 Lutz E. v. Padberg, Die Christianisierung Europas im Mittelalter, Stuttgart 1998.

5 Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005.

6 Thomas Gandow, Weihnachten. Glaube, Brauch und Entstehung des Christfestes, München 21994; Jens Herzer, Die Ursprünge der kirchlichen Feste. Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Weihnachten und ihre biblischen Grundlagen (= Brennpunkt Bibel 2), Stuttgart 2006.

7 Aus neuheidnischer Sicht z. B. Géza v. Neményi, Die Wurzeln von Weihnacht und Ostern. Heidnische Feste und Bräuche, Holdenstedt 2006.

8 Wolf-Daniel Hartwich, „Deutsche Mythologie“. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion (= Kulturwissenschaftliche Studien 3), Berlin / Wien 2000.

9 Horst Groschopp, Dissidenten. Freidenkerei und Kultur in Deutschland, Berlin 1997.

10 Stefanie v. Schnurbein / Justus H. Ulbricht, Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe „arteigener“ Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001.

11 Dieser Beitrag geht auf das Angebot zurück, anlässlich des 13. Ostelbischen Fortbildungsseminars zum Thema „Renaissance germanischer Kulte im Rechtsextremismus?“ zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Das Seminar wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Dialog Zentrum Berlin und dem kirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen vom 5. bis 7.11.2007 im Bildungszentrum Schloss Wendgräben durchgeführt.

12 Jean Clottes / David Lewis-Williams, Schamanen. Trance und Magie in der Höhlenkunst der Steinzeit, Sigmaringen 1997.

13 Joachim Hahn, Menschtier- und Phantasiewesen, in: Ulmer Museum (Hg.), Der Löwenmensch. Tier und Mensch in der Kunst der Eiszeit, Sigmaringen 1994, 100-115.

14 Gerhard Bosinski, Menschendarstellungen der Altsteinzeit, in: Ulmer Museum (Hg.), Der Löwenmensch, a.a.O., 77-99, hier 79-83.

15 So die etwa auf ein Alter von über 20 000 Jahren datierte Bestattung aus Sungir (200 km östlich von Moskau), die u. a. Reste von aufwendigem Schmuck und Bekleidungsreste enthielt. Siehe André Leroi-Gourhan, Dictionnaire de la Préhistoire, Paris 1988, 1049.

16 Zu den engen Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung jungpaläolithischer Religion siehe André Leroi-Gourhan, Die Religionen der Vorgeschichte, Frankfurt a. M. 1981.

17 Zum Gesamtphänomen der ideologisch sehr weit gespannten Hexenvorstellungen: Felix Wiedemann, Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007.

18 Ina Mahlstedt, Die religiöse Welt der Jungsteinzeit, Darmstadt 2004.

19 Fritz Horst / Horst Keiling (Hg.), Bestattungswesen und Totenkult in ur- und frühgeschichtlicher Zeit. Beiträge zu Grabbrauch, Bestattungssitten, Beigabenausstattung und Totenkult, Berlin 1991.

20 Ahnenstättenverein Conneforde (Hg.), Ahnenstätte Conneforde. Gedenkschrift, Bassum 1998.

21 Wielant Hopfner, 1996, 8, 1374, 5756, 2539, 1987 n. T., 3796 n. St. – in welchem Jahr leben wir eigentlich?, in: Nordische Zeitung 64, Nr. 4, Hamburg 3796 n. St. [d. i. 1996], 61-69.

22 Hänsel, Bernhard u. Alix (Hg.), Gaben an die Götter. Schätze der Bronzezeit Europas (= Bestandskataloge / Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin 4), Berlin 1997; Germanisches Nationalmuseum (Hg.), Gold und Kult der Bronzezeit [Ausstellungskatalog], Nürnberg 2003.

23 Ralf Busch (Hg.), Opferplatz und Heiligtum. Kult der Vorzeit in Norddeutschland (= Veröffentlichungen des Helms-Museums. Hamburger Museum für Archäologie und die Geschichte Hamburgs, Nr. 86), Neumünster 2000.

24 In folgenden neuheidnischen Zeitschriften erschien die „Himmelsscheibe von Nebra“ auf dem Titelblatt: Huginn und Muninn 13, Nr. 4, Berlin 2002; Nordische Zeitung 70, Nr. 4, Hamburg 2002; Germanen-Glaube, Nr. 1, Berlin 2003. Auch das Titelblatt des Reprints der 1936 zuerst gedruckten Studie des Deutschgläubigen Otto Sigfrid Reuter, Der Himmel über den Germanen, Bremen 2005, bildet die Scheibe ab.

25 Harald Meller (Hg.), Der geschmiedete Himmel. Die weite Welt im Herzen Europas vor 3600 Jahren, Stuttgart 2004.

26 Ingo Wiwjorra, Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006.

27 Hans Kloft, Die Germania des Tacitus und das Problem eines deutschen Nationalbewußtseins, in: Archiv für Kulturgeschichte 72, Köln / Wien 1990, 93-114.

28 Tacitus, Germania, Kap. 9. Hier zitiert nach der Übersetzung von Arno Mauersberger, Wiesbaden 1990, 43.

29 Johannes Zechner, „Ewiger Wald und ewiges Volk“. Die Ideologisierung des deutschen Waldes im Nationalsozialismus (= Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur 15), Freising 2006.

30 Tacitus, Germania, Kap. 16.

31 Jene germanischen „Untugenden“ beziehen sich auf Tacitus, Germania, Kap. 9, 14, 15, 23 und 24.

32 Zur Interpretation der „Germania“ siehe Dieter Timpe, Romano-Germanica. Gesammelte Studien zur Germania des Tacitus, Stuttgart / Leipzig 1995.

33 Zu den Rezeptionstraditionen der Edda siehe Klaus Böldl, Der Mythos der Edda. Nordische Mythologie zwischen europäischer Aufklärung und nationaler Romantik, Tübingen / Basel 2000.

34 Heinrich Beck / Heiko Steuer / Dieter Timpe (Hg.), Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Studienausgabe: Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde, Berlin 1998, 96-102.

35 Tacitus, Germania, Kap. 4.

36 Artikel „Kelten“ und „Keltische Religion“ im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 16, Berlin / New York 2000, 364-392 u. 413-420.

37 Artikel „Slawen“, „Slawische Keramik“ u. „Slawische Religion“ im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 29, Berlin / New York 2005, 44-59 u. 79-106.

38 Heinrich Beck / Dieter Geuenich / Heiko Steuer / Dietrich Hakelberg (Hg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen (= Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 34), Berlin / New York 2004.

39 Anton Scherer (Hg.), Die Urheimat der Indogermanen (= Wege der Forschung 166), Darmstadt 1968.

40 I. Wiwjorra, Germanenmythos, a.a.O., 280ff.

41 Hans-Peter Hasenfratz, Die religiöse Welt der Germanen. Ritual, Magie, Kult, Mythus, Freiburg / Basel / Wien 1992; Rudolf Simek, Götter und Kulte der Germanen, München 2004.

42 Tacitus, Germania, Kap. 3 u. 9. Vgl. R. Simek, Götter und Kulte der Germanen, a.a.O., 57.

43 So für den „Allsherjargoden“ der Germanischen Glaubensgemeinschaft Géza v. Neményi, der für eine historische Authentizität der von ihm vertretenen „altheidnischen Religion“ eintritt. Siehe Géza v. Neményi, Heidnische Naturreligion. Altüberlieferte Glaubensvorstellungen, Riten und Bräuche, Bergen / Dumme 1993, hier Vorwort 9-14.