Joachim Kahl

Zwischen Reduktionismus und Heilshoffnungen

Michael Schmidt-Salomon unterwegs zu einer neuen Religion?!

Durch sein Buch „Das Elend des Christentums“ wurde Joachim Kahl 1968 bekannt: als ehemaliger Theologe, als Philosoph und Christentumskritiker. Gegenstand seiner kritischen Einwendungen wurden in den letzten Jahren allerdings zunehmend auch atheistische Positionen. In der nachfolgend abgedruckten Rezension (erschienen am 11.3.2014 auf www.diesseits.de) artikuliert sich der Religionskritiker als Atheismuskritiker. Geistreich setzt er sich mit einer neuen Publikation von Michael Schmidt-Salomon auseinander und weist auf deren innere Widersprüchlichkeit und fehlende Überzeugungskraft hin.

Sein gerade erschienenes Buch1 „Hoffnung Mensch. Eine bessere Welt ist möglich“ mündet in ein „alternatives Glaubensbekenntnis“, das in der bombastischen Verheißung gipfelt: „Ich glaube an den Menschen / Der die Hoffnung der Erde ist / Nicht in alle Ewigkeit / Doch für Jahrmillionen.“

Damit der religiöse Anspruch auch dem Zögerlichsten klar wird, lautet das letzte Wort des Buches vor der Danksagung „Amen“ (330). Freilich wird diese jüdische, christliche und muslimische Akklamationsformel in Klammern gesetzt. Sie erschien dem Autor wohl nicht ganz geheuer, nachdem Freunde, die den Text vorab gelesen hatten, davon abrieten. Aber das Amen steht gleichwohl da, wenn auch etwas verschämt: (Amen). Wer sich trittsicher auf dem Boden einer entzauberten Welt bewegt und wer sich instinktsicher in den Koordinaten einer säkularen Geistesverfassung auskennt, drückt sich anders aus. Ein Autor, der sich innerlich gedrängt sieht, ein derartiges Glaubensbekenntnis öffentlich abzulegen, hat die Nabelschnur zur Religion seiner Herkunft noch nicht völlig durchtrennt. Es hilft nichts, dass er gleichzeitig – gut postmodern und relativistisch – beteuert, „selbstverständlich“ beanspruche sein Credo nicht, „für irgendjemand verbindlich zu sein“ (329f). Weshalb dann der Aufwand von über dreihundert Seiten, um es plakativ zu verbreiten? Die Kombination von rhetorisch aufgeschäumtem Bekenntnis und dem gleichzeitigen Einräumen seiner Unverbindlichkeit gehört zu den Merkmalen heutiger Distinktionskämpfe im religiös-weltanschaulichen Basar.

Mit der Perspektive eines Reiches der Menschlichkeit, das Jahrmillionen währen soll, überbietet Schmidt-Salomon die christliche Heilsbotschaft um ein Vielfaches. In der Apokalypse des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testamentes, wird ein nur tausendjähriges Reich erwartet, in dem der Messias seine gerechte Herrschaft errichten und Teufel und Satan bändigen soll. Unser Autor glaubt „an den Sieg / Der Wahrheit über die Lüge ... / Und des Mitleids über die Gewalt“ (330). Eine fortschrittsgläubige teleologische Denkweise behält er damit bei. Die Menschheit wird zum kollektiven Messias emporstilisiert, berufen, das irdische Leben aus der ökologischen Krise zu retten (308), unseren Planeten vor dem Einschlag von Asteroiden mit rechtzeitig abgefeuerten Atomraketen zu bewahren (312) und notfalls auch die Evakuierung auf andere Himmelskörper zu bewerkstelligen (309).

Dieses kosmisch weit ausgreifende Szenario wird unterfüttert und begleitet von einer Reihe respektabler Eigenschaften, die er dem Menschen zuschreibt und superlativisch in höchsten Tönen rühmt: „Von seiner Veranlagung her ist der Mensch das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste, humorvollste Tier auf dem gesamten Planeten. Die Natur hat uns ganz besondere Talente in die Wiege gelegt“ (8f). Abgesehen von der Frage, an welche anderen humorvollen Tiere Schmidt-Salomon denkt, fällt auf, dass er hier unfreiwillig eine Position einnimmt, die er sonst stets heftig bekämpft. Bis in die Wortwahl hinein schreibt er dem Menschen eine „Sonderstellung“ im Reich des Lebendigen zu: „Die Natur hat uns ganz besondere Talente in die Wiege gelegt.“ So ist es. Im Menschen ist es der Natur gelungen, „ein Wesen hervorzubringen, das in der Lage ist, den evolutionären Prozess zu durchschauen“ (9). In der Tat. Im Menschen gelangt die Natur zum Bewusstsein ihrer selbst. Das komplexeste Naturgebilde im Weltall, das Nervenbündel menschliches Gehirn, geborgen in einer knöchernen Kapsel, ist nach einem langen, unabgeschlossenen und unabschließbaren Lernprozess fähig, die Welt bis in ihre Eingeweide zu erforschen, zu durchschauen, auch die ganz großen Zusammenhänge zu denken und begrenzt zu gestalten.

Eben damit ist der Mensch aus dem Tierreich herausgewachsen, mit dem er allerdings stets als seiner Herkunft bis in feinste Verästelungen verbunden bleibt. Deshalb geht auch das zweite Kapitel mit der boulevardesken Überschrift „Humanismus reloaded: Das neue Bild vom Menschen“ (53) als Schuss nach rückwärts los. Dort heißt es: „Es ist nämlich nicht bloß so, dass unsere Vorfahren Affen waren, im biologischen Sinn sind wir Affen geblieben“ (55). Schmidt-Salomons Rede vom Menschen ist also unzutreffend, zumindest irreführend. Bei Licht betrachtet, vertritt er keinen Humanismus, sondern einen Animalismus und verstrickt sich damit in begriffliche Ungereimtheiten. Sein vermeintlich „neues Bild vom Menschen“ ist das alte, reduktionistische, pseudodarwinistische Bild vom Menschen. Es verrät einen philosophischen Mangel an Dialektik. Aus den Debatten der letzten Jahrzehnte über Emergenz in der Evolution hätte er mitnehmen können, dass kleine quantitative Veränderungen, wenn sie sich mit der Zeit summieren, schließlich in neue Qualitäten umschlagen können und sich dann Kontinuität und Diskontinuität verschränken. Es ist also keine „hochnäsige Abgrenzung“ (55), wenn zwischen Mensch und Tier genau unterschieden wird. Denn eine Unterscheidung ist eine Unterscheidung, keine „Trennung“, wie er wiederholt unterstellt (z. B. 55).

Zu einem Humanismus auf der Höhe der Zeit gehört, dass er empirisch fundiert und theoretisch reflektiert ist: dass also der Mensch im Stufengang der Evolution als deren höchste Komplexitätsausgabe erkannt und zugleich das Doppelgesicht, die Ambivalenz alles Menschlichen, begriffen werden. Wir Menschen haben gleichursprünglich und gleichrangig in uns, von Natur aus, als anthropologische Konstanten: gute und böse Anlagen. Je nach den gesellschaftlichen Umständen und je nach erfolgreicher oder missglückter Erziehung werden sie wirksam. Ein endgültiger „Sieg“ der einen über die andere, den Schmidt-Salomon in seinem Glaubensbekenntnis erhofft – etwa als Sieg der Wahrheit über die Lüge oder des Mitleids über die Gewalt –, wäre ein naturwidriges eschatologisches Wunder.

Deshalb muss er auch auf das „Prinzip Hoffnung“ zurückgreifen, ohne das sein evolutionärer Humanismus eingeräumtermaßen nicht auskommt (93). Aber Hoffnung zum Prinzip aufzuladen, war schon der religiöse Grundirrtum Ernst Blochs, der es als erster programmatisch formulierte. Mit Recht hat Hans Jonas dagegen ein „Prinzip Verantwortung“ gestellt. Es gibt immer wieder hoffnungslose, trostlose, ausweglose, sinnlose Konstellationen und Vorgänge im Leben, Sackgassen und Abgründe, mit denen wir uns freilich mental irgendwie arrangieren müssen. Daher gehört eine melancholische Dimension unverzichtbar zu einer humanistischen Spiritualität dazu: stille Trauer über die unaufhebbare Tragik im menschlichen Dasein. Hoffnung ist immer nur von Fall zu Fall berechtigt, niemals als Prinzip. Das teleologische Wunschdenken, das das ganze Buch durchzieht, ist realitätsfern und hilft nicht weiter.

Natürlich ist der Mensch der einzige Hoffnungsträger im Reich des Lebendigen. Und natürlich ist eine bessere Welt möglich. Aber diese altbackenen Wahrheiten müssen, um theoretisch triftig zu werden, zusammengedacht werden mit einer geschichtsgesättigten anthropologischen Skepsis. Friedrich Schiller hat sie im „Lied von der Glocke“ einmal so formuliert: „Jedoch der schrecklichste der Schrecken, Das ist der Mensch in seinem Wahn.“ Woraufhin sollte sich daran je etwas prinzipiell ändern lassen? Was einmal geschehen ist, kann wieder geschehen. Das gilt im Bösen wie im Guten, im Großen wie im Kleinen. Die Geschichte ist keine Einbahnstraße. Jeder Fortschritt, jede Errungenschaft muss verteidigt werden. Rückschritte und Rückfälle sind nie ausgeschlossen. Denn der Mensch ist nicht nur das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste und humorvollste Lebewesen. Er ist auch, und zwar gleichzeitig, das grausamste, hinterhältigste, niederträchtigste Wesen unter der Sonne, wobei seine Klugheit diese Anlagen eiskalt zum blutigen Exzess steigern kann. Statt einem Prinzip Hoffnung das Wort zu reden und von einem luftigen Reich der Menschlichkeit zu schwärmen, das Jahrmillionen währen soll, gilt es, hier und heute das Gewaltmonopol eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates zu sichern und die wohltätigen und kooperativen Anlagen im Menschen durch eine kluge humanistische Erziehung zu fördern.

Aus der Fülle der im Buch aufgeworfenen Fragen sei abschließend nur noch der offenkundige Wandel in Schmidt-Salomons Religionsverständnis herausgegriffen. Aus dem hämischen Religionsverächter, der einst liebend gerne sogenannte religionsfreie Zonen organisierte und mit gedankenarmen Kraftsprüchen wie „Denkst du schon oder glaubst du noch?“ den Bürgerschreck gab, ist ein Lobredner von Religion und Religiosität geworden. Auf der Linie Giordano Bruno, Baruch Spinoza und Albert Einstein empfiehlt er heute eine kosmische „Religiosität“ (320f). Diese pantheisierende Position ist theoriegeschichtlich nicht neu und keineswegs plausibel. Denn im Erhabenen des Weltalls und Grandiosen der Evolution scheint immer auch sofort das Monströse und Sinnleere auf, das schon Blaise Pascal erschreckte. Bescheiden wir uns damit, Weltall und Evolution – gut naturalistisch und gut philosophisch – ehrfürchtig zu bestaunen statt religiös zu verklären, so wie es Bertrand Russell vorbildlich tat.

Schwerwiegender ist die Behauptung, die sich im Buch, aber auch schon vorher, bei ihm findet, die Religionen seien „kulturelle Schatzkammern der Menschheit“ (90 und 329), die nun endlich geöffnet und fruchtbar gemacht werden sollten. Ach, wie rasch sind doch seine Hymnen auf Deschner und Dawkins verhallt, die uns die Welt der Religionen, zumal den christlichen Glauben, im Stile von Schreckenskabinetten darstellen! Zwar räumt er im gleichen Zusammenhang ein, „das wahre Ausmaß des kulturellen Zusammenbruchs der Religionen“ sei den meisten Zeitgenossen nicht bewusst (91), aber dann sollte er tunlichst nicht von „Schatzkammern“ sprechen. Die Religionen sind ein Hauptbestandteil des menschlichen Kulturerbes, das in Museen einen angemessenen Platz findet. Dort werden Dokumente der Vergangenheit in all ihren Ambivalenzen ausgestellt. Eine geschickte Museumspädagogik zeigt produktive Anknüpfungspunkte und hoffnungslos Veraltetes auf.

In seinem neuen Buch schwankt Schmidt-Salomon widersprüchlich hin und her zwischen naturalistischem Reduktionismus (der Mensch ist Affe geblieben) und hehren Heilshoffnungen (Jahrmillionen Jahre Menschlichkeit warten auf uns). Ein richtungweisender und tragfähiger Theorieentwurf sieht anders aus.


Joachim Kahl, Marburg


Anmerkungen

  1. Erschienen im März 2014 im Piper Verlag (Anm. d. Red.).