Gerdien Jonker

Zwischen muslimischer Moderne und deutscher Lebensreform

Zur Entdeckung des Archivs der Berliner Ahmadiyya-Moschee

1924 eröffnete die islamische Reform- und Missionsbewegung Ahmadiyya mit Sitz im pakistanischen Lahore (im Folgenden: Ahmadiyya-Lahore) eine Moschee in Berlin-Wilmersdorf. Die Ahmadiyya war um 1900 aus dem Bestreben heraus entstanden, den Islam gegen die Angriffe britischer Missionare zu verteidigen. Der Gründer, Mirza Ghulam Ahmad (1838 – 1908), präsentierte sich als Erneuerer des Jahrhunderts (Mujaddid). Wie der historische Jesus empfange auch er göttliche Eingebungen (Wahy). Er sei der Messiah, der am Ende der Zeit wiederkehre, um die Muslime aus ihrer bedrängten Lage zu retten. Ahmad betrachtete sich als Prophet im Schatten des Propheten (Zilli Nabi), der der muslimischen Welt ihr Selbstvertrauen wiedergeben und die islamische Tradition für die neue Zeit tauglich machen sollte. Für orthodoxe Muslime war das inakzeptabel. Dabei blieb oft unberücksichtigt, dass Mirza Ghulam Ahmad seine Argumente vor dem Horizont einer beschleunigten Globalisierung entwickelte. Diese brachte nicht nur die mission civilisatrice der europäischen Großmächte vor die eigene Haustür, sondern auch neue Möglichkeiten der Kommunikation. Damit wurde ein Wissen zugänglich, das vieles infrage stellte, was bis dahin als unverrückbar gegolten hatte. Mirza Ghulam Ahmad war zwar der englischen Sprache nicht mächtig, er verstand es aber auch so, die Angriffe der christlichen Missionare auf den Islam systematisch zu sammeln und zu widerlegen. Zudem prangerte er öffentlich die Schwächen des Christentums an. Man könnte sagen: Er gab sich als Konkurrent auf Weltebene (Jonker 2016).

Die Geschichte der Moschee

Mit dem Bau einer Moschee in Berlin ermöglichte die Ahmadiyya-Lahore in der Zwischenkriegszeit einen intensiven Austausch zwischen Europäern und Muslimen aus Britisch-Indien. Aber diese Zeit war kurz. 1923 kam der erste Missionar am Bahnhof Zoo an, 1939 wurde der letzte des Landes verwiesen. Erst 1947 nahm das Mutterhaus in Lahore wieder Kontakt mit Berlin auf. Die drei Ahmadiyya-Missionare der Zwischenkriegszeit, Maulvi Sadruddin (1923 – 1926), Abdul Fazlul Khan Durrani (1926 – 1928) und Sheikh M. Abdullah (1929 – 1939), hatten rege Kontakte zum religiösen Experimentierfeld der deutschen „Lebensreform“ unterhalten, vor allem zur Theosophie, zu buddhistischen Kreisen und zur jüdischen Reformgemeinde. Die Konvertitengemeinde, die sich unter ihrer Ägide formierte und erst 1940 auflöste, rekrutierte sich daraus.

Zwischen 1939 und 1947 hielt Alexandrina Amina Mosler-Beine, die Frau eines Berliner Zahnarztes, die 1937 zum Islam konvertiert war, die Berliner Moschee offen. Amina Mosler verstand sich als „Preußin und Muslimin“, und nach dieser Maxime handelte sie. In den ersten Kriegsjahren fand sie immer wieder Wege, um mit dem Mutterhaus in Lahore Kontakt zu halten. 1942, als Deutschland endgültig von der Außenwelt abgeschnitten war, wandte sie sich an Muhammed Amin Al-Husseini, den Großmufti von Jerusalem, der sich auf Einladung des Nazi-Regimes in Berlin aufhielt, und übergab ihm die Schlüssel der Moschee. Fortan war es Al-Husseini, der die Freitagspredigt hielt. Er empfing große Gruppen russisch-muslimischer Kriegsgefangener, die in Zossen bei Berlin in muslimische SS-Regimenter eingegliedert worden waren. Nachdem Al-Husseini Ende 1944 wegen der Bombardierung Berlins nach Süddeutschland geflüchtet war, brachte Amina Mosler die Moschee unbeschädigt durch die Zeit der Bombardierungen Berlins, unter anderem indem sie die sowjetische Flagge auf dem Moscheedach auslegte. 1947, als Abdullah wieder aus Lahore anreiste, sorgte sie dafür, dass die Moschee Gründungsmitglied in der neu entstandenen „Arbeitsgemeinschaft Kirchen und Religionsgemeinschaften in Groß-Berlin“ wurde. Mit diesem Schritt wurde die Gemeinde endgültig im öffentlichen religiösen Leben der Stadt verankert. Die Moschee arbeitete fortan eng mit Juden und Buddhisten zusammen und hatte Zugang zum Rundfunk und zu den Volkshochschulen (Jonker 2021).

Bis 1959 hatte Amina Mosler die administrative Leitung der Moschee inne. Unter ihrer 20-jährigen Ägide übernahm zwar eine Reihe von Imamen (Al-Husseini, SM Abdullah, Herbert Hobohm, Abdul Aziz Khan) die Verantwortung für die Freitagspredigten und die jährlichen Id-Feiern. Aber keiner von ihnen blieb länger als zwei Jahre. Erst mit der Ankunft des jungen Missionars Yahya Butt änderte sich dieses Muster. Butt übernahm von 1959 bis 1987 das alltägliche Leitungsgeschäft. Er schrieb sich an der Freien Universität als Student ein und zog in der Folgezeit ein überwiegend studentisches Publikum an. Zehn Jahre später war er ein stadtbekannter muslimischer „Studentenpastor“, der regelmäßig im Radio zu hören war und nebenbei Lehraufträge an der Freien Universität Berlin wahrnahm.

Diese und andere Begegnungen hinterließen auch vielfältige Spuren in den Verwaltungsunterlagen aus dem Moscheealltag. Allerdings verstauten die Verwalter ältere Unterlagen im Laufe der Zeit irgendwo im Missionshaus der Berliner Ahmadiyya-Moschee, und dieses Archiv geriet als Ganzes in Vergessenheit. Zwischenzeitlich als „verloren gegangen“ aufgegeben, wurde es glücklicherweise 2017 wiedergefunden – bei Renovierungsarbeiten zum hundertjährigen Jubiläum 2024. Im Folgenden soll das Archivgut beschrieben und anhand seiner festgestellt werden, auf welche Weise die Imame in Berlin die von ihnen vorgeschlagene religiöse Revitalisierung einzulösen versuchten. Das Moscheearchiv gibt Einblicke in das islamische Leben in Deutschland in der Zwischen- und Nachkriegszeit. Es trägt dazu bei zu verstehen, was Deutsche und Inder, Juden, Christen und Muslime einander zu sagen hatten.

Bei der Auffindung befand sich der größte Teil der ca. 70 000 Archivalien trotz Wasserschäden in bemerkenswert gutem Zustand (LAB 2020). Nun ist aber Archivgut noch kein Archiv. Wie bei Fußball- oder Heimatvereinen ist auch die Registratur einer religiösen Vereinigung Privatbesitz und daher nicht öffentlich einsehbar. Um die Dokumente zugänglich zu machen, wurde das Landesarchiv Berlin kontaktiert. Im September 2018 reiste dann der Vorstand der Ahmadiyya-Organisation aus Lahore und England an, um mit dem Landesarchiv einen Vertrag über die Sicherung des Archivgutes abzuschließen. Daraufhin bewilligte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) einen Forschungsplan, um den Fund einer ersten Untersuchung zu unterziehen.

Neue Erkenntnisse aus dem Archivgut

Einige Beispiele können verdeutlichen, wie das Moscheearchiv die Forschung zur Geschichte des Islam in Deutschland ergänzt:

  • Für die Ahmadiyya-Lahore-Bewegung in Indien waren Nachrichten über den Fortgang der Berliner Mission von zentraler Bedeutung. Aus diesem Grund erstatteten die Missionare in Berlin dem „Mutterhaus“ in Lahore regelmäßig Bericht, übersetzten zentrale Beiträge der interreligiösen Debatten, die in der Moschee geführt wurden, in Urdu und Englisch und stellten ihrem indischen Publikum die wichtigsten Konvertiten vor. Ordner wurden angelegt und füllten sich mit Durchschlägen von handgeschriebenen Briefen in Urdu, mit Typoskripten von Übersetzungen für die in Lahore erscheinenden Zeitschriften „The Light“ (in Englisch) und „Paigham-e-Sulh“ (in Urdu) sowie mit Fotos und Kurzbiografien von in Deutschland gewonnenen „neuen Muslimen“.
  • Neben der regelmäßigen Predigt gehörte es zum Auftrag der Missionare, den ständigen Kontakt zu Religionsgemeinschaften zu pflegen, die sich offen für religious progress zeigten. Einige Dokumente weisen in Richtung Jüdische Reformgemeinde und Buddhistisches Haus in Berlin. In Berlin sahen sich die Missionare auch mit den deutschen Vereinsstrukturen und dazu gehörigen Berichtspflichten konfrontiert. Nach langer Vorbereitung wurde 1930 die Deutsch-Moslemische Gesellschaft (DMG) gegründet und als Verein eingetragen. Laut Satzung sollte sie die Freundschaft zwischen Muslimen und Deutschen befördern. In der Praxis zog die Gesellschaft deutsche Lebensreformer an, die in der muslimischen Moderne, so wie sie von der Ahmadiyya-Lahore propagiert wurde, eine einfache und vor allem rationale Religion erblickten.
  • Auch wenn die Erwartungshorizonte in Berlin und Lahore weit auseinandergingen, fand man in Themen wie religiöse Individualisierung, Erneuerung der Geschlechterverhältnisse und „Religion der Zukunft“ zusammen. Die Vortragslisten und viele der Redebeiträge wurden im Archiv aufbewahrt.
  • Fotosammlungen zeigen: Die Teilnehmer an den Debatten waren überwiegend jung. Man studierte zusammen an der Berliner Universität, traf sich zum Tennis und Segeln, flirtete und unterhielt sich. Eine Wandergruppe streifte am Wochenende durch Brandenburg. Die Alben geben einzigartige Einblicke in dieses gesellige Zusammenleben vor dem Krieg.
  • Neben dem Übertritt zum Islam stand in dieser Moschee die interkulturelle Heirat hoch im Kurs. Obwohl nicht alle Heiratsordner erhalten sind, verschaffen die übrig gebliebenen einen Eindruck von den Gepflogenheiten. Zwischen 1959 und 1973 traten nicht weniger als 194 Paare mit der Bitte um Segnung an den Imam heran. Die Männer dieser Paare stammten überwiegend aus islamischen Ländern, während die Frauen überwiegend aus Deutschland kamen. In 43 Fällen lag für die Frau ein Dokument bei, das ihren Übertritt zum Islam bezeugte. In einigen wenigen Dokumenten findet sich ein Vermerk über die spätere Auflösung der Ehe. Die Mitgift betrug in der Regel 5000 DM oder mehr, ein für die Zeit sehr hoher Betrag. An den Fotoalben, die die Nachkriegsmissionare anlegten, lässt sich gut ablesen, dass die Anhängerinnen und Anhänger der Ahmadiyya-Gemeinde stets wohlsituierten Kreisen entstammten.
  • Für den Erfolg der Mission der Ahmadiyya in Europa wurde eine eigene Übersetzung des Korans ins Deutsche als zentral erachtet. Gleich nach seiner Ankunft in Deutschland begann Sadruddin, den arabischen Grundtext ins Englische zu übertragen, woraufhin Hugo Marcus, ein Berliner, der bereits 1923 zum Islam konvertiert war, den englischen Text ins Deutsche übersetzte. Diese deutsche Übersetzung ging erst 1939, kurz vor Kriegsbeginn, in den Druck. In der Moscheebibliothek stehen noch einige gedruckte Exemplare, nach Notizen und Typoskripten der Übersetzungsarbeit sucht man vergeblich. Dafür fand sich ein großformatiges gebundenes Heft, das die Käufer von Exemplaren der deutschen Koranausgabe mit Datum und Adresse vermerkt. Die Eintragungen zeigen, dass die Verkäufe bis weit in die Kriegszeit hinein fortgesetzt wurden.
  • Arabische Muslime, welche die Aktivitäten der Ahmadiyya-Lahore in Richtung „Islamische Moderne“ als Abfall vom wahren Islam ansahen, verklagten Mitte der 1930er Jahre die Berliner Missionare und versuchten, die Moschee an sich zu reißen. Dabei bemühten sie sich auch, die Nazis auf ihre Seite zu ziehen, was aber nicht gelang. Die Gestapo-Untersuchungen und Gerichtsprozesse, die sich daraus ergaben, wurden ebenfalls archiviert.
  • Imam Abdullah hatte in den 1930er Jahren eine eigene Moscheebibliothek eingerichtet. Während des Krieges wurden die Bücher zum Schutz vor Bombenangriffen in einem Seitenzimmer im Keller untergebracht – woraus sie später wohl nie mehr hervorgeholt worden sind. So entstand ein in sich geschlossenes, zeitlich begrenztes Konvolut. Es erlaubt präzise Aussagen über die Leseinteressen des Imams in einer deutschen Umgebung, für die offene Horizonte immer suspekter wurden, und vermittelt ein gutes Bild davon, wie sich die Gemeinde in Nazi-Deutschland intellektuell positionierte (Jonker 2016, 152 – 182).
  • Wie in jeder Moscheebibliothek üblich, nutzte Abdullah die Abteilung VIII, um Informationen über das unmittelbare Umfeld der Moschee einzuholen. Konkret trug er aktuelle Publikationen über Theosophie und Lebensreform sowie über die politische Lage zusammen. Neben der Zeitschrift „Theosophisches Leben“ und den Schriften Krishnamurtis findet man hier Bücher über Yoga, den „universalen Sufismus“, Frauenbildung, Schulreform, Vegetarismus oder auch über die Methoden natürlicher Krebsbehandlung des schwedischen Lebensreformers Ari Waerland. Mitte der 1930er Jahre kamen „Berichte junger Menschen aus Palästina“ und das „Palästina ABC“ hinzu, was darauf hinweist, dass der Imam bzw. die Moscheebesucher Auswanderungsmöglichkeiten nach Palästina sondierten. Tatsächlich hatte ein Teil der Gemeinde einen jüdischen Hintergrund. So stammten einige Gemeindeglieder aus Familien, die bereits in einer vorigen Generation aus dem Judentum ausgetreten waren (Jonker 2018, Jonker 2020). Die letzten Bücher, die Abdullah erwarb, waren der Nazi-Perspektive auf den Islam gewidmet (u. a. Otto Krantz: Das Schwert des Islam, 1939). Als er im Oktober 1939 abreiste, wurde seine Sammlung geschlossen.
  • Amira Mosler, die über den Krieg hinweg die Moschee offengehalten und deren Schätze so gut wie möglich geschützt hatte, startete 1946 Rundfunkaufrufe im RIAS, um die in Deutschland verbliebenen Muslime ausfindig zu machen. Eine Adressenliste auf vier Schulheftseiten dokumentiert das Ergebnis. Sie ist ein wichtiges Zeugnis darüber, wie viele und welche Muslime während des Krieges in Deutschland blieben. Die Tatsache, dass ihre Adressen in den besten Wohngegenden Berlins (Wilmersdorf, Friedenau, Zehlendorf) lagen, ist ein Indiz, dass sie bestens in der Nazi-Verwaltung verwurzelt gewesen waren.

Fazit

Das Moscheearchiv der Ahmadiyya-Lahore in Berlin-Wilmersdorf erweitert das vorhandene Wissen über die Geschichte des Islam in Deutschland erheblich. Es zeigt, dass diese Geschichte nicht, wie bisher angenommen, Mitte der 1960er Jahre mit den Arbeitsmigranten aus der Türkei und Nordafrika ihren Anfang nahm, sondern dass sich bereits in den 1920er Jahren muslimische Organisationen in beträchtlichem Umfang in Deutschland etablierten. Es stellt zudem eine Auffassung des Islam vor, die sich die Herausforderung der Globalisierung zu eigen machte und dabei versuchte, im weltweiten Ringen um die „beste“ Religion zur Essenz der islamischen Tradition vorzudringen, sie zu modernisieren und weiterzuentwickeln, wie man damals sagte. Christen und Juden, die im Rahmen der Lebensreform einen Drang zu religiöser Individualisierung verspürten, erblickten in diesem Islam eine willkommene Rationalisierung von Religion: einfach zu befolgen, mit klaren Regeln und großem Potenzial, sich grenzüberschreitend zu betätigen. Der Krieg setzte dem Experiment zwar ein Ende. Doch das Wissen um diese Geschichte gibt dem islamischen Leben in Deutschland, das mit den Arbeitsmigranten einen neuen Aufschwung nahm, eine ganz eigene Grundierung.


Gerdien Jonker, 01.09.2021


Literatur

Jonker, Gerdien (2016): The Ahmadiyya Quest for Religious Progress. Missionizing Europe 1900 – 1965, Leiden.

Jonker, Gerdien (2018): „Etwas hoffen muss das Herz“. Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen, Göttingen.

Jonker, Gerdien (2020): On the Margins. Jews and Muslims in Interwar Berlin, Leiden.

Jonker, Gerdien (2021): Stillschweigen im religiösen Feld. Der Neustart interreligiöser Beziehungen im Berlin der Nachkriegszeit, in: Medaon 15, 115.

Landesarchiv Berlin, Rep. D 920-16. Findbuch in englischer und deutscher Sprache (Berlin: LAB 2020).