Religiöse Landschaft

Zur religiösen Lage in Ostdeutschland und Osteuropa

Der Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland ist für die Soziologie ein spannendes Beobachtungsfeld. 20 Jahre nach der friedlichen Revolution von 1989 widmete sich in Leipzig eine Tagung der Sektion Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) der Frage, wie sich Religion und Religiosität in Ostdeutschland und Osteuropa seitdem entwickelt haben. Kam es zu einem weiteren Rückgang der Bedeutung von Religion? Oder ist im Gegenteil eine Revitalisierung von Religiosität zu beobachten? Ist Ostdeutschland ein Sonderfall oder doch mit der religiösen Entwicklung in anderen Regionen Europas zu vergleichen?

Deutlich wurde bei der Tagung Ende November 2009 zunächst, dass sich Leipzig als Standort religionssoziologischer Forschung mit dem Schwerpunkt Ostdeutschland etabliert hat. Dabei ist sowohl die qualitative als auch die quantitative Forschung vertreten (erstere durch Monika Wohlrab-Sahr, letztere durch Gert Pickel). Monika Wohlrab-Sahr eröffnete mit ihrem Vortrag die Tagung. Sie präsentierte Ergebnisse ihrer jüngst zusammen mit Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux veröffentlichten Studie „Forcierte Säkularität“. Die weitreichende und anhaltende Säkularität in Ostdeutschland lässt sich nach Wohlrab-Sahr nur so verstehen, dass die Religionslosigkeit in der DDR nicht nur von der Politik des Staates erzwungen war, sondern dass die dabei ins Feld geführten Argumente und Werte für die Bürger selbst subjektiv plausibel wurden. Deshalb spricht Wohlrab-Sahr von der Säkularität in Ostdeutschland als vom „erzwungenen Eigenen“. Als Werte, auf die in der ostdeutschen Gesellschaft besonders rekurriert wird, konnte sie Arbeit, Gemeinschaft und Ehrlichkeit ausmachen.

Kornelia Sammet und ihre Mitarbeiter stellten Ergebnisse ihres ebenfalls in Leipzig ansässigen Forschungsprojektes vor. Sie untersuchen, welche nichtreligiösen Werte in der Weltdeutung und Lebensführung bei Menschen in prekären Lebenslagen in Ostdeutschland in Anschlag gebracht werden bzw. welche Rolle dabei doch die Religion spielt. Eine These, die dabei verfolgt wird, ist, dass Erwerbsarbeit als primäre Quelle der Sinnstiftung gilt. Das Thema Religion spielte hingegen bei befragten ALG II- Empfängern eine nachrangige Rolle. Zuständigkeit wird der Religion im Bereich der Ethik zugeschrieben. Allerdings erscheint dort die Kirche den Befragten wenig glaubwürdig. Die Interviewten beziehen sich bei der Deutung der Welt vor allem auf naturwissenschaftliche Erklärungen. In den wenigen Fällen, in denen sie auf religiöse Deutungen zurückgriffen, handelte es sich um Horoskope bzw. um diffuse Gottes- und Geistervorstellungen im Rahmen der Gothic-Szene. Letztlich zeigte sich in den Interviews der Soziologin vor allem, wie nachhaltig Diskreditierung und Delegitimierung der christlichen Religion nach dem Ende der DDR in Ostdeutschland nachwirken. „Christliche Religion wird mit Kinderglauben, Unglaubwürdigkeit und Verbrechen im Namen der Religion verbunden. Wissen über religiöse Glaubensinhalte oder Traditionen haben die Befragten kaum ... Während sich an verschiedenen Stellen Öffnungstendenzen gegenüber Religion andeuten, die neben der wissenschaftlichen Weltanschauung noch andere, auch religiöse Weltdeutungen zulassen, gilt dies nicht für die christlichen Traditionen“, so Sammet.

Gert Pickel kam beim Vergleich der religiösen Entwicklung in Ostdeutschland mit anderen europäischen Regionen zu dem Ergebnis, dass Ostdeutschland nur insofern einen Sonderfall darstellt, als hier Konstellationen, die auch in anderen Ländern zur Säkularisierung führen, in besonders ungünstiger Weise zusammenwirkten.

Immer wieder betont wurde in den Diskussionen, dass auch weit zurückreichende historische Entwicklungen beachtet werden müssen, will man die religiöse Lage in der Gegenwart verstehen. Dieser Herausforderung stellt sich insbesondere ein Forschungsprojekt von Willfried Spohn, in dem dieser unter anderem die Rolle von Religion bei der „Rekonstruktion kollektiver Identitäten in Ostmittel- und Südosteuropa“ untersucht. Ein von Susanne Pickel vorgestelltes Projekt beschäftigte sich auf europäischer Ebene mit dem Wahlverhalten religiöser Menschen in Osteuropa. Weitere Forschungsprojekte im Blick auf Ostdeutschland untersuchen unter anderem das seit dem Ende der DDR ungebrochene „Langzeitengagement von Akteuren der ‚unabhängigen Friedensbewegung’“ (Alexander Leistner), die Situation von jüdischen Migranten in Ostdeutschland („Säkulare Juden in religiösen Gemeinden“, Melanie Eulitz) und die Rolle, die die Religion bzw. christliche Akteure beim Aufbau der Straffälligenhilfe in Ostdeutschland gespielt haben (Irene Becci).

Wie der Konflikt zwischen säkularer Moderne und Religion heute aufbrechen kann, zeigte der Soziologe Thomas Schmidt-Lux am Beispiel des Streits um die Rekonstruktion der Leipziger Universitätskirche St. Pauli, die in unversehrtem Zustand 1968 gesprengt wurde, um einer modernen „sozialistischen“ Universität Platz zu machen, und die jetzt in einem Universitätsneubau architektonisch wieder integriert werden soll. Zwei Positionen stehen sich bei diesem Streit gegenüber: Eine säkulare bis säkularistische Position plädiert für eine strikte Trennung zwischen säkularer Universität und Religion und ist damit gegen einen Kirchenraum innerhalb der Universität. Eine andere Auffassung vertreten diejenigen, für die eine strikte räumliche Trennung von Universität und Religion eine Verdrängung und Marginalisierung von Religion bedeutet. Sie plädieren für einen Raum, der als Aula und Kirche gemeinsam von Wissenschaft und Religion genutzt werden kann.

Im Rückblick auf die Tagung lässt sich sagen, dass kaum überraschende Entwicklungen der religiösen Situation in Ostdeutschland auszumachen sind. Die Säkularität ist hoch und scheint stabil zu sein. Die Soziologen bemühen sich darum, diese Situation zu deuten und zu verstehen. Aus weltanschaulicher Sicht interessant ist vor allem der genaue Blick auf die säkularen Weltdeutungen und Werte, die von Menschen bei der Bewältigung ihres Lebens in Anschlag gebracht werden. Die Kirchen dürfte darüber hinaus besonders das von der Soziologie erhobene meist negative Bild der christlichen Religion interessieren, das nach wie vor weit verbreitet scheint.


Claudia Knepper