Gereon Vogel-Sedlmayr

Yuval Noah Harari

Globalhistoriker zwischen philosophischer Anthropologie und Buddhismus

Der israelische Geschichtsprofessor Yuval Noah Harari hat zwei Sachbuch-Bestseller verfasst, die spannend wie Krimis sind: „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“1 Der Stil ist stellenweise ironisch, oft auch aphoristisch zugespitzt wie z. B.: „Einen Affen würden Sie ... nie im Leben dazu bringen, Ihnen eine Banane abzugeben, indem Sie ihm einen Affenhimmel ausmalen und grenzenlose Bananenschätze nach dem Tod versprechen. Auf so einen Handel lassen sich nur Sapiens ein“ (Menschheit, 37). Oder: „Was immer man von Lenin, Hitler oder Mao halten mag, einen Mangel an Vision kann man ihnen nicht vorwerfen“ (Homo Deus, 508). Beide Bücher lesen sich so rasant, dass der Leser leicht an den ernsten Anliegen des Verfassers vorbeigeht.

Yuval Noah Harari, Jahrgang 1976, ist Repräsentant einer jungen intellektuellen Generation. Sie setzt sich deutlich vom Marxismus einerseits und vom Postmodernismus andererseits ab. In der Vergangenheit verfolgten kritische Historiker häufig den Ansatz, das Sein bestimme das Bewusstsein und die menschliche Kultur sei bloß ein „Überbau“ oder ein „Epiphänomen“. Dagegen ist Harari der Überzeugung, dass die Welt kulturell bestimmt ist: „Geschichten bilden die Grundpfeiler menschlicher Gesellschaften“ (Homo Deus, 245). Und im Gegensatz zu den Postmodernen, die „das Ende der großen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard, 1979) als gegeben ansehen, geht Harari davon aus, die Weltgeschichte in ihren großen Linien erzählen zu können. So hat er 2011 seine „Kurze Geschichte der Menschheit“ vorgelegt.

Im 2015, deutsch 2017, veröffentlichten zweiten Buch Hararis „Homo Deus“ geht es um die Zukunft der Religion und die weitere Entwicklung der Spezies Homo sapiens. Es fordert Theologie und Ethik heraus, die Thesen kritisch zu diskutieren. Der vorliegende Beitrag macht sich allerdings nicht anheischig, das zu leisten. Im Sinne des Materialdienstes wird das Œuvre Yuval Noah Hararis für künftige Diskussionen geistes- und religionswissenschaftlich eingeordnet, um die Basis für eine anschließende theologische Auseinandersetzung zu schaffen. Kritik an Hararis Auffassungen erfolgt nur, wo sie der genaueren Wahrnehmung seiner Position dient.

Zur philosophischen Anthropologie

Harari bezieht sich als Geisteswissenschaftler auf biologische, das heißt naturwissenschaftliche Fragestellungen. Das verbindet ihn im Ansatz mit Arnold Gehlen und anderen Autoren der philosophischen Anthropologie. Der Titel der englischsprachigen Ausgabe von „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, „Sapiens“, macht deutlich, dass dieses Buch auch als eine Anthropologie zu lesen ist.

Nun ist der Mensch für Harari alles andere als die Krone der Schöpfung. Harari ironisiert die vollmundige Selbstbezeichnung „Sapiens“. In seiner Darstellung erscheint der Mensch als eine skurrile, geradezu peinliche Tierart: Beständig wähnt die menschliche Spezies sich auf dem Weg zum besseren Leben, zur Freiheit, ja zu Gott. Mit ihrem Verhalten aber unterläuft sie immer wieder die eigene Absicht, schafft sich neue Zwänge und unterjocht Mitmenschen und Mitgeschöpfe.

Ein Beispiel für die Selbstwidersprüchlichkeit des menschlichen Verhaltens ist nach Harari ausgerechnet die neolithische bzw., wie er sagt, landwirtschaftliche Revolution, begonnen im „fruchtbaren Halbmond“ Vorderasiens vor ca. 12 000 Jahren (Menschheit, 101-125). Traditionell hatte man die Sesshaftwerdung in Verbindung mit dem Anbau von Pflanzen und der Domestikation von Tieren als großen kulturgeschichtlichen Fortschritt gepriesen. Im Blick auf neuere Forschungsergebnisse legt sich aber – so Harari – die gegensätzliche Sichtweise nahe: Die Lebensqualität und auch die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen habe sich durch diese „Revolution“ nicht erhöht, sondern vielmehr gesenkt. Zwar gab es zahlenmäßig mehr Menschen, aber die Bevölkerungsexplosion fraß die Gewinne an Lebensmitteln immer wieder auf. Das Leben wurde durch Infektionskrankheiten und Missernten stärker gefährdet. Zudem entwickelte sich aus weitgehend egalitären Gemeinschaften ein die Menschen in der Mehrzahl knechtendes Gesellschaftssystem. Und das ursprünglich erfahrungsreiche Leben wurde öde. Aus individueller menschlicher Sicht, so Harari, war die neolithische Revolution also keine Errungenschaft, sondern „der größte Betrug der Geschichte“.

Harari fügt diesen „Selbstbetrug“ in eine Kette von weiteren weltgeschichtlichen Betrachtungen ein. Sie zeigen, wie die Anläufe des Menschen, sein Dasein zu verbessern, immer wieder das Gegenteil erreichen. Die Zivilisationskritik ist fundamental: Die Gefahr für die Menschheit wird immer größer. Umwelt und Tierwelt geraten in den Strudel einer rastlosen Dynamik, die das Ökosystem des Planeten ruiniert. Wenn die Geschichte unserer Spezies in absehbarer Zeit zu Ende geht, dann wäre das kein Betriebsunfall. Harari adressiert den Schluss seines ersten Buches an die liberale, säkulare Öffentlichkeit: „Wir sind Self-made-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind. Und so richten wir unter unseren Mitlebewesen und der Umwelt Chaos und Vernichtung an, interessieren uns nur für unsere eigenen Annehmlichkeiten und unsere Unterhaltung und finden doch nie Zufriedenheit. Gibt es etwas Gefährlicheres als unzufriedene und verantwortungslose Götter, die nicht wissen, was sie wollen?“ (Menschheit, 507f).

Weltgeschichte und Religionsgeschichte

Harari stellt die Entwicklung der Menschheit in einem einfachen Grundschema dar. Unsere Spezies habe fünf verschiedene Phasen durchlaufen. Dabei absolvierte der Homo sapiens evolutionäre Sprünge bzw. Revolutionen, die vom Einzelnen allerdings kaum als solche wahrnehmbar waren. Die Geschichte gliedert sich durch die Epochen der kognitiven Revolution, die vor ca. 70 000 Jahren begann, der neolithischen Revolution seit ca. 12 000, der Erschaffung der Hochkulturen seit ca. 7000 und der wissenschaftlichen Revolution seit ca. 500 Jahren. Gegenwärtig stehe die Menschheit mit der fünften, der digitalen Revolution wieder an einer welthistorischen Epochenschwelle.

In der Vergangenheit haben sich nach Harari entsprechend der Situation der Menschheit die Religionen entwickelt.2 Die Religionsgeschichte verläuft vom Animismus der primitiven Kulturen über den mit der Sesshaftwerdung im Neolithikum verbundenen Theismus auf dem Wege einer Entwicklung in Richtung Monotheismus hin zum Humanismus des wissenschaftlichen Zeitalters, in dem laut Harari in der Gegenwart die Religion kulminiert.

Über die Religionen äußert sich Harari oft kritisch. Allerdings ist er weit entfernt etwa vom „Neuen Atheismus“, von dessen Sympathisanten er denn auch scharf kritisiert worden ist.3 Eine auf Dauer nichtreligiöse Gesellschaft ist für ihn unvorstellbar. „Tatsächlich kommt nicht einmal ein Volksfest irgendwo auf dem Land ohne die helfende Hand irgendeines Gottes, Königs oder der Kirche aus“ (Homo Deus, 300).

Der verwendete Religionsbegriff unterscheidet sich allerdings signifikant von dem, der geläufig ist. In Hararis Sprachgebrauch bezeichnet „Religion“ das, was man in Anlehnung an Thomas S. Kuhn „Paradigma“ nennen kann: das kognitive Grundmuster einer Gesellschaft. So nennt er auch säkulare, religionsfeindliche Ideologien „Religion“. Die kognitivistische Engführung ist auffällig. Es fehlt die affektive Komponente, die den Begriff üblicherweise kennzeichnet – gerade in der deutschen Tradition, in der etwa Novalis sein Schmachten nach der verstorbenen Verlobten als „Religion – nicht Liebe“ bezeichnen konnte.

Das Ende des Humanismus

Einem geläufigen Narrativ zufolge hat sich im 20. Jahrhundert der religionsfreundliche oder zumindest tolerante Westen gegen zwei inhumane, religionsfeindliche Ideologien gewandt, den Nationalsozialismus und den Kommunismus. Harari zufolge handelt es sich dagegen um eine Auseinandersetzung drei verschiedener Sekten einer „humanistischen Religion“, die den „Theismus“ des vorwissenschaftlichen Zeitalters abgelöst hat. Es habe sich lediglich die liberale, individualistische Form der humanistischen Religion durchgesetzt.

An einer Fülle anschaulicher Beispiele zu Maximen der demokratischen Politik („Der Wähler weiß, was am besten ist“), der kapitalistischen Wirtschaft („Der Kunde hat immer recht“), der subjektivistischen Kunstauffassung („Schönheit liegt im Auge des Betrachters“) und der modernen Moral („Wenn es sich gut anfühlt, dann tu es“) zeigt Harari, wie der liberale Humanismus in verschiedenen Lebensbereichen die zeitgenössische Lebenswelt durchdringt. Er selbst ist allerdings kein Anhänger dieser Anschauung. Der liberale Humanismus des Westens basiert, wie Harari meint, letztlich auf dem christlichen Glauben an eine unsterbliche Seele. Diesen Glauben hält er für obsolet.

Harari stellt zwar fest, dass es am Ende der Ära des Humanismus zum ersten Mal möglich geworden ist, substanzielle Erfolge im Kampf gegen Hunger, Krankheit und Krieg zu erzielen. Trotzdem steht diese Ära vor ihrem Ende. Im Zeitalter von Hirnforschung und Computerwissenschaften verliert sie ihre Legitimation, denn der Glaube an den seelischen Kern des Homo sapiens löst sich auf. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Mensch in seiner individuellen Existenz und als biologische Lebensform hat.

Der weiterentwickelte Mensch

Das Buch „Homo Deus“ handelt schwerpunktmäßig von der Veränderung von Gesellschaft und Religion durch die technische Revolution des Computerzeitalters. Die wissenschaftliche Revolution hat, wie gesagt, dazu geführt, dass Hunger, Krankheit und Krieg die Existenz des Homo sapiens nicht mehr grundsätzlich infrage stellen. Auf den Lorbeeren seines siegreichen Fortschritts kann sich der Mensch jedoch nicht ausruhen. Die Grundbedingungen seines Daseins verschieben sich. Die fortgeschrittene Technologie wandelt auch das Bild des Menschen von sich. Anfangs nur durch kleine Veränderungen – künstliche Organe, plastische Chirurgie oder Drogen, die Einzelne „optimieren“. Langfristig laufen Cyborgs, d. h. genetisch veränderte Mischwesen aus menschlichen und technischen Komponenten, dem herkömmlichen Menschen den Rang ab. Dem Homo sapiens kann der von Harari – ebenfalls ironisch apostrophierte – „Homo Deus“ folgen, langlebig und mit ungeheuren Fähigkeiten.

Tatsächlich gibt es eine Bewegung unter Technikbegeisterten, die eine Zukunft in diesem Sinne als Utopie propagiert. Harari nimmt diese „Transhumanismus“ genannte Vorstellung (er spricht von „Techno-Humanismus“) durchaus ernst.4 Aber er sieht die Entwicklung kritisch – gerade im Blick auf ihre gesellschaftlichen Folgen. Er argumentiert, das Zeitalter der Massen sei vorbei. Das Upgraden des Homo sapiens mithilfe der Hightech-Medizin könne nur einzelne Wohlhabende erreichen, die dann auch ein entsprechendes Elitebewusstsein kultivieren. Mögen einige Fans des Internets dessen demokratisierende Effekte preisen, ist doch die Partizipation am sogenannten Fortschritt sehr unterschiedlich. Für Harari bahnen die „Techno-Humanisten“ den Weg zu einer kleinen Gruppe von Reichen, die mit den zurückbleibenden Homo sapiens umgehen wird wie heutzutage der Mensch mit den Tieren. Er warnt insbesondere vor dem Elitarismus derjenigen, die im Glauben an eine „Hightech-Arche“ (Homo Deus, 296) künftigen ökologischen Katastrophen entgehen zu können meinen.

Und doch sind es weniger die Transhumanisten, die den Homo sapiens zu einem Auslaufmodell der Geschichte machen. Vielmehr sind es die selbst lernenden Computerprogramme, die Algorithmen der künstlichen Intelligenz.

Die Ära der künstlichen Intelligenz

Elektronische Algorithmen sind schon heute aus unserer Welt kaum mehr wegzudenken. Sie übernehmen immer mehr Aufgaben im menschlichen Leben und fordern uns in vielfacher Weise heraus. Auch an kulturell empfindlichen Stellen haben sie sich breitgemacht. Sie okkupieren als Computerspiele die Fantasie unserer Kinder und stehlen ihnen die Zeit. Sie arrangieren zunehmend effektive Partnerschaften. Sie verändern mittelfristig den Arbeitsmarkt. Sie unterlaufen im Hintergrund sozialer Netzwerke das menschliche Miteinander. Als künstliche Intelligenz sind sie darauf angelegt, selbstreferentiell zu funktionieren und sich zu programmieren. Nach Harari saugen sie immer mehr Daten ein und werden sich auf lange Sicht zu einer oder mehreren „Datenreligionen“ entwickeln.

Auch bezüglich dieser Entwicklung gibt es eine Gruppe von Technikbegeisterten, die das ähnlich wahrnimmt, aber positiv sieht: die „Posthumanisten“. Bemerkenswert ist ihre Fantasie, dass sich die Essenz des menschlichen Lebens in elektronische Netzwerke überführen ließe. Das, was den Menschen ausmacht, würde gewissermaßen in ein leistungsfähiges Netzwerk hochgeladen werden. Die Posthumanisten sprechen von einer „Transmigration“, einer „Metamorphose“ oder einer „Auferstehung“, die den somatischen Tod irrelevant macht. Der Mensch könne von seiner vergänglichen Lebensform in ein ewiges Leben überführt werden.

Im Gegensatz zu den Trans- und Posthumanisten hat Harari eine finstere Erwartung, was die Zukunft angeht: „Im 21. Jahrhundert werden wir wirkmächtigere Fiktionen und totalitärere Religionen als jemals zuvor schaffen. Mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern sowie durch und durch virtuelle Welten zu erschaffen“ (Homo Deus, 244). Das neue Zeitalter kommt in einer Weise, die wohl nicht mehr gesteuert werden kann. Es überrollt uns.

Die Religionen der Zukunft

Wenn sich mit den technischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte auch das Selbstverständnis des Menschen und die Religion ändern – wo und wie mag das geschehen? Harari schreibt: „Dass die neuen Religionen irgendwo in den Höhlen Afghanistans oder in den Koranschulen des Nahen Ostens entstehen, ist eher unwahrscheinlich. Vielmehr werden sie aus den Forschungslaboren kommen. So wie der Sozialismus die Welt eroberte, weil er Erlösung durch Dampf und Elektrizität versprach, so werden in den kommenden Jahrzehnten neue Techno-Religionen die Welt erobern, weil sie Heil durch Algorithmen und Gene versprechen. Trotz allen Geredes vom radikalen Islam und vom christlichen Fundamentalismus ist der aus religiöser Sicht interessanteste Ort auf dieser Welt nicht der Islamische Staat oder der Bible Belt, sondern Silicon Valley. Dort bauen Hightech-Gurus schöne neue Religionen für uns zusammen, die wenig mit Gott und alles mit Technologie zu tun haben“ (Homo Deus, 475).

Harari stellt sich also erstens vor, dass Religionen konstruiert werden, und zweitens, dass die Mittelpunkte der Kulturgeschichte die bevorzugten Orte sind, an denen sie entstehen. Bevor man die erste Hypothese diskutiert, ist zuerst einmal festzustellen, wie falsch die zweite ist. Judentum, Christentum und Islam entstanden gerade nicht in den Zentralen der antiken Welt. Die Herkunftsorte der Religionsgeschichte sind keine A-Lagen der Kulturgeschichte, sondern bestenfalls B- oder C-Lagen. „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ (Joh 1,46) ist im Neuen Testament etwa als spöttischer Kommentar überliefert. Und, wie oben bereits deutlich gemacht: Religionen sind etwas anderes als Ideologien, sie haben eher einen affektiv-emotionalen Charakter. Der Kommunismus ist dabei ein gutes Gegenbeispiel: Sein Niedergang ging so schnell vonstatten, weil eben diese Komponente, die Religionen kennzeichnet, ihm nicht in derselben Weise inhärent ist.

Außerdem ist in Betracht zu ziehen: Wenn wir angesichts der neuen Technologien eine neue Dimension der Entfremdung erleben, wird auch das voraussichtlich eine Gegenreaktion haben. Es ist also zu erwarten, dass der gegenwärtige Boom der Virtualität von einer verstärkten Sehnsucht nach der Natur, dem Konkreten und Authentischen konterkariert wird. Wie diese Gegenreaktion zu beurteilen ist und inwiefern sie religiös sein wird oder nicht, sind weitere Fragen.

Würdigung und Einordnung

Yuval Noah Hararis Bücher bringen die technischen Entwicklungen der Gegenwart auf eine frische Weise mit philosophisch-religiösen Grundfragen in Verbindung. Harari ist ein wichtiger Autor einer neuen Philosophischen Anthropologie. Die Kritik am übersteigerten Selbstbewusstsein unserer Spezies wird einen langen Nachhall haben, verdientermaßen. Zudem muss man Harari dankbar dafür sein, dass er mit dem Thema Computerisierung und künstliche Intelligenz ein wichtiges Thema auf die Agenda gesetzt hat. Welche langfristigen Wirkungen die neuen Technologien haben, ist zwar noch nicht greifbar. Aber festzuhalten ist, dass sie als grundstürzende Veränderungen unseres Lebens auch existenzielle Fragen aus sich heraussetzen.

Dabei ist freilich auf eine grundsätzliche Unklarheit hinzuweisen. Einerseits stellt Harari historische Entwicklungen als absolut folgerichtig dar – die neolithische Revolution zum Beispiel ereignete sich mit einer inneren Zwangsläufigkeit in verschiedenen Kulturräumen der Erde. Auf der anderen Seite lässt er das Lied der Unbestimmbarkeit erklingen: „Die Geschichte ist ein weiter Horizont von Möglichkeiten“ (Menschheit, 298). „All die hier in diesem Buch entworfenen Szenarien sollten als Möglichkeiten und weniger als Prognosen verstanden werden“ (Homo Deus, 534f).

Wenn es jedoch nur den Determinismus der Naturgesetze gibt und den Zufall, wie Harari einmal schreibt (Homo Deus, 381), woher soll der Mensch die Freiheit nehmen, dem seiner Ansicht nach düsteren Fatum zu entgehen? So kann man weiter fragen: Hat Harari persönlich die Hoffnung, aus einer technisch verformten, dystopischen Zukunft herauszufinden? Wo ist für ihn die Lücke zwischen Zufall und Notwendigkeit? Die Antwort, die Harari gibt, ist indirekt aus dem Abschnitt über den Buddhismus im Religionskapitel in „Menschheit“ herauszulesen und steht so verschämt am Rande von „Homo Deus“, dass viele Leser und auch Rezensenten sie überlesen haben – nämlich in der Widmung des Buches und in der Danksagung an Satya Narayan Goenka (1924 – 2013) als seinen Lehrer. Goenka war ein Meditationslehrer, der als Hindu zum Buddhismus konvertierte. Den Internetquellen zufolge erscheint er als eine nicht unbedeutende, aber auch nicht herausragende Gestalt unter den Gurus mit einer großen Anhängerschaft im Westen.5 Harari ist mithin einer der buddhistischen Juden bzw. jüdischstämmigen Buddhisten. In den USA, in denen es viele von ihnen gibt, hat sich für sie der Name „Jubu“ eingebürgert. Und zentrale Fragen in der Auseinandersetzung mit Hararis Werken sind wiederzuerkennen als Themen aus dem christlich-buddhistischen Dialog.

Grundbegriffe für den Dialog

Wir leben in einer Zeit, die uns vor große Fragen stellt. Zum einen ist da die technologische Revolution. Zum anderen ist da aber auch das Aufeinandertreffen der Religionen. Sie bringen ihre Ethiken und Dogmatiken mit. Für die Beschäftigung mit anderen Religionen und Weltanschauungen ist es unabdingbar, ihre dogmatischen oder ethischen Topoi zu kennen. Insbesondere zur Vorbereitung einer theologischen Auseinandersetzung mit Harari erscheint es dem Verfasser angebracht, die aus dem Buddhismus und dem Dialog mit ihm bekannten Grundbegriffe in Erinnerung zu bringen.

  • Ahimsā: Eine immer wiederkehrende Thematik bei Harari ist die des Umgangs mit der Tierwelt. Es geht etwa um die Ausrottung der Tierarten, die erniedrigende Haltung und Schlachtung von Haustieren durch den Menschen – sowohl in Bezug auf das Opfer in traditionellen Hochkulturen als auch in Bezug auf die Massentierhaltung in der modernen Welt. Hier liegt Harari auf der Linie der traditionellen Ethik des Buddhismus und anderer indischer Religionen, für die der Begriff ahimsā (Nicht-Schädigung) prägend geworden ist.6 Man kennt das Wort auch im Westen vom gewaltlosen Widerstand Gandhis. Der Sache nach geht es aber um ein Grundprinzip, das insbesondere den vorsichtigen Umgang mit Tieren bestimmt.
  • Anattā: Im Buddhismus gehört es zum traditionellen Lehrbestand, dass der Mensch über keine substanzielle Seele verfügt. Auch wenn im Buddhismus traditionell an der hinduistischen Vorstellung der Reinkarnation festgehalten wurde, wird die Seele doch als etwas angesehen, das sich am Ende auflöst. Der Grundbegriff hierfür ist anattā (Nicht-Seele).7 Auch Harari bestreitet vehement die Existenz einer Seele. Das Bewusstsein, das Harari von der Seele scharf unterscheiden zu können meint, kommt bei ihm als etwas wissenschaftlich Unerklärbares in den Rang dessen, auf das sich das religiöse Interesse fokussiert. Ein verbindender Ausdruck wie Person bzw. Personalität kommt bei ihm nicht vor.
  • Dukkha: Eine der wichtigsten Glaubenstraditionen im Buddhismus sind die Glaubenssätze der „Vier edlen Wahrheiten“. Sie sollen vom Religionsstifter Siddhartha Gautama in der ersten Predigt nach der Erleuchtung in Sarnath bei Benares verkündet worden sein und finden sich mehrfach in den kanonischen Schriften. Die erste handelt von der Grundierung des Lebens durch Leiden, genannt dukkha.8 Es ist verborgen überall hinter der Existenz: „Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Sterben ist Leiden, Kummer, Wehklage, Schmerz, Unmut und Unrast sind Leiden ...“9 Die Sicht der Dinge erinnert an die Gnosis, in deren Mythos die Schöpfung und das Lebensprinzip als Tat eines minderwertigen oder bösen Gottes angesehen werden. Vergleichbar Harari: „Die DNA hat erschreckende Ähnlichkeit mit dem Teufel“ (Menschheit, 480). Der Buddhismus versteht sich als Ausgang aus dem Leiden und Erfahrung eines außerweltlichen Glückes – ein Thema, auf das Harari immer wieder zurückkommt.

In Hararis Œuvre begegnet der Leser also einer Weltsicht, die nicht aus einem luftleeren Raum kommt, sondern von der Weltreligion Buddhismus geprägt ist. Mit ihr ist der Dialog zu suchen und zu führen – in kritischer Würdigung.


Gereon Vogel-Sedlmayr


Anmerkungen

  1. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, aus dem Engl. von Jürgen Neubauer, München 212015, 526 Seiten, zuerst hebräisch 2011, im Folgenden zitiert als „Menschheit“; ders., Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, aus dem Engl. von Andreas Wirthensohn, München 42017, 576 Seiten, zuerst hebräisch 2015, im Folgenden zitiert als „Homo Deus“.
  2. Hararis holzschnittartige Sicht der Religionsgeschichte erscheint dem von Kulturkreistheorie und Postmoderne geprägten Religionswissenschaftler abenteuerlich. In der Vergangenheit ist z. B. die Ursprungsreligion der Menschheit häufiger unter einer Reihe von „Ismen“ dargestellt worden: Ahnenkult und Urmonotheismus, Animismus und Animatismus, Fetischismus, Totemismus und Schamanismus wurden alle als archaische Ausgangsform von Religion ausgegeben und in evolutionistische Schemata gepresst. Keines hat befriedigt. In Ethnologie und Religionswissenschaft wird man daher äußerst skeptisch gegenüber diesen Versuchen einer Herleitung der Religion sein.
  3. Vgl. Michael Schmidt-Salomon, https://hpd.de/artikel/grosse-harari-verwirrung-14664 (letzter Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 2.11.2017).
  4. Harari verwendet nicht die im entsprechenden Umfeld bereits gängigen Ausdrücke Transhumanismus und Posthumanismus; er spricht dagegen von „Techno-Humanismus“ und „Datenreligion“. – Zum Transhumanismus und Posthumanismus vgl. außer den Wikipedia-Artikeln im deutschen Sprachraum auch die Arbeiten des Religionswissenschaftlers Oliver Krüger, von ihm selbst zusammengefasst auf www.eurozine.com/die-vervollkommnung-des-menschen, dort weitere Literatur. Auch der Artikel von Silvia Woll, Transhumanismus und Posthumanismus – Ein Überblick. Oder: Der schmale Grat zwischen Utopie und Dystopie, http://ejournal.uvka.de/spatialconcepts/wp-content/uploads/2013/05/spatialconcepts_article_1702.pdf, ist lesenswert. Ein kurzer, gut zugänglicher Artikel, der auch die Bezüge zum Buddhismus hervorhebt, ist: Jörg-Uwe Albig, Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben, in: GEO Wissen 51 (2013), 154-161.
  5. Vgl. z. B. https://de.wikipedia.org/wiki/Satya_Narayan_Goenka; https://en.wikipedia.org/wiki/S._N._Goenka, dort zahlreiche Bezüge zu weiteren Adressen.
  6. Die buddhistische Ethik für Laien beruht auf fünf Vorschriften, Pāli pañcasīla (Sanskrit: pañcaśīla). Der erste Grundsatz ist das Tötungsverbot, das sich nicht nur auf die Tötung von Menschen bezieht. Es entspricht der in Indien weiter verbreiteten Forderung nach ahimsā (Sanskrit).
  7. Der Terminus im Pāli lautet dazu anattā (Sanskrit: anātman).
  8. Pāli: dukkha (Sanskrit: duhkha).
  9. Aus Mahāsatipatthāna Sutta, 18, in: Die vier edlen Wahrheiten. Texte des ursprünglichen Buddhismus. Aus dem Pāli. Auswahl, Übersetzung, Einleitung, Anmerkungen und Glossar von Klaus Mylius, Leipzig 21985, 119.