Friedmann Eißler

Wo steht die Gülen-Bewegung?

Eine aktuelle Einschätzung

In die Sache der türkisch-islamischen Missionsgemeinschaft um den Prediger Fethullah Gülen ist kräftig Bewegung gekommen. Vor allem die Situation in der Türkei ist in den vergangenen Monaten international aufmerksam verfolgt worden. Was sich daraus für Folgen für Deutschland ergeben, wo die Bewegung nun seit zwanzig Jahren aktiv ist, ist noch nicht abzusehen. Es zeichnen sich jedoch Konturen ab, die auch in hiesigen Kontroversen nicht außer Acht bleiben können. In diesem Zusammenhang ist auch an Kontinuitäten innerhalb der Bewegung zu erinnern.

1. Entwicklungen in der Türkei

Über Jahre haben die Regierungspartei AKP und Gülens Anhängerschaft mit großen inhaltlichen Übereinstimmungen kooperiert. Die symbioseähnliche Allianz nutzte der Gülen-Bewegung für die systematische Kaderbildung und die Besetzung wichtiger Schlüsselpositionen in der Bürokratie, der Polizei, der Justiz und teilweise im Militär sowie der AKP für den Machtaufbau und -ausbau seit ihrem Wahlsieg 2002. Die Aufkündigung dieser Allianz kam weder plötzlich noch von einer Seite. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass spätestens die Uneinigkeit in der Beurteilung der Gaza-Solidaritäts-Flottille (Aktion Mavi Marmara) im Mai 2010 tiefergehende Differenzen zwischen Gülen und der AKP offenbarte. 2011 kam es in der Kurdenfrage zu erheblichen Divergenzen. Bei den Gezi-Park-Protesten 2013 distanzierte sich Gülen von der Regierungslinie. Schließlich brachte die Androhung, die mehrheitlich von der Gülen-Bewegung betriebenen Dershanes zu schließen, das Fass offenbar zum Überlaufen. Knapp 4000 dieser profitablen privaten Vorbereitungs- und Nachhilfeschulen gibt es in der Türkei, sie stellen wohl eine der Haupteinnahmequellen der Gülen-Bewegung dar und erscheinen für die Rekrutierung des Nachwuchses unverzichtbar. Die Sache wurde im Herbst 2013 zum Politikum mit erdbebenartigen Verwerfungen in der politischen Landschaft im Gefolge. Angekündigt wurde sie indes schon Ende 2012. Gülen hatte schon damals selten scharf zum Widerstand aufgerufen: „Wenn sie eure Häuser schließen, öffnet Wohnheime. Wenn sie eure Wohnheime schließen, öffnet neue Häuser. Wenn sie eure Schulen schließen, gründet eine Universität. Wenn sie eure Universität schließen, gründet zehn neue Schulen. Ihr dürft nie aufhören zu marschieren.“1

Gülen hat sich in der Vergangenheit mehrfach auf die Seite der herrschenden Ordnung geschlagen (so 1971 und 1980) und gegen eine Politisierung des Islam ausgesprochen. Im Blick auf die Gesellschaftsform und den Staat machte er immer Zugeständnisse, da ihm nicht eine direkte Eroberung des Staates, sondern die Heranbildung einer Elite vorschwebt, die zur Staatsführung nach islamischen Werten wirklich befähigt und in der Lage sei, sich gegen den Westen zu behaupten. Zu Necmettin Erbakans islamistischen Ambitionen und damit auch zu den Aktivitäten von Milli Görüş ging Gülen regelmäßig auf Distanz. Dies brachte ihm enorme Handlungsspielräume und nach anfänglicher Duldung durch den Staat später sogar die aktive Unterstützung säkularer Regierungen ein, die ihrerseits für ihre eigene Machtpolitik Ideen Erbakans und Gülens adaptiert hatten. Inhaltlich standen sich Gülen und Erbakan wie auch Gülen und Erdoğans AKP immer nahe. Der Widerstand gegen „Verwestlichung“, die Betonung der türkisch-islamischen Synthese, Ressentiments gegen Nichtmuslime und eine Verklärung des Osmanischen Reiches als Vorbild und Avantgarde der islamischen Welt waren und sind gemeinsame Kennzeichen, ebenso die Bereitschaft, individuelle Freiheiten zugunsten der großen islamischen Idee grundsätzlich zurückzustellen (vgl. Seufert, 8f). Es herrschte daher über lange Zeit so etwas wie eine pragmatische Arbeitsteilung zwischen den Islamlagern in der Türkei. Ihr Ende wird kontrovers bewertet. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass der schiere Machtzuwachs der „Gülenisten“ dafür hauptverantwortlich ist, die für Erdoğan mehr und mehr zur unberechenbaren Größe geworden sind. Es kommt ein rasantes internationales Wachstum und eine beeindruckende geografische Ausbreitung der Bewegung hinzu, die ein gesteigertes Selbstbewusstsein und erhöhte Ansprüche nach sich ziehen.

Eine nicht unerhebliche Erkenntnis aus den jüngsten Entwicklungen für bislang weniger eingefleischte Gülen-Fans oder Gülen-Kritiker dürfte sein, dass die „Unterwanderung“ des Sicherheitsapparats und der Justiz in der Türkei – wie immer man die Vorgänge im Einzelnen bewertet – auf der Basis der Rekrutierung loyaler Anhänger durch systematische Bildungsarbeit von keiner Seite mehr bestritten oder verharmlost wird, im Gegenteil. Kein Widerspruch mehr, keine Verleugnung, kein Hinweis auf Verschwörungstheorien. Tausende Beamte wurden in der Türkei versetzt.

2. Dynamik in Deutschland

Die steile Wachstumskurve der Gülen-Bewegung in Deutschland dürfte zuletzt leicht abgeflacht sein, was die bloßen Zahlen angeht. Neugründungen, Erweiterungen von bestehenden Projekten, intensive Arbeit vor Ort und vor allem Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit auf vielen Ebenen prägen jedoch weiterhin das Erscheinungsbild und sorgen in Politik und Gesellschaft zunehmend für Informationsbedarf und Diskussionen. Neben Pangea-Mathematikwettbewerben, großen und kleineren Events wie Deutsch-türkischen Kulturolympiaden und Stadtteil- und Marktplatzfesten wurde Deutschland 2013 geradezu überschwemmt von einer Welle von Preisverleihungen. Zwei typische Beispiele: Eine weitgehend fiktive „Gesellschaft für Dialog Baden-Württemberg“ – jedenfalls lässt sie sich nicht weiter verfolgen als bis zu Gülen-nahen Vereinen wie „Süddialog“ oder „Begegnungen“ – ehrt im November 2013 „ehrenwerte Persönlichkeiten und Institutionen“ für ihre Verdienste um die Transkulturalität in Baden-Württemberg. Dazu wird in den Ordenssaal des Residenzschlosses in Ludwigsburg eingeladen. Wenige Tage später verleiht der „Bund Deutscher Dialog Institutionen – BDDI“ (bestehend aus vierzehn kurzfristig zusammengetrommelten deutschen „Gülen-Vereinen“) erstmalig den „Deutschen Dialogpreis“ für außerordentliches Engagement in den Bereichen interreligiöser Dialog und interkulturelle Verständigung. Ort des Geschehens ist ein Berliner Kongresszentrum zwischen US-Botschaft und Hotel Adlon direkt am Brandenburger Tor. Ähnliches geschah deutschlandweit ungefähr im Dutzend. Dabei sucht die Gülen-Bewegung den Kontakt zu möglichst hohen Ebenen in Politik und Gesellschaft sowie ein möglichst wirkungsvolles öffentliches Forum. Man inszeniert sich selbst; Hauptsache, so scheint es, die beteiligten Personen sind renommiert, das Ambiente gediegen, und Termin und Anlass erscheinen in offiziellen Pressemitteilungen von Landesparlamenten und Universitäten. So werden erste Spatenstiche, Umzüge von Redaktionsbüros, Einweihungen von Erweiterungsgebäuden, Städtepartnerschaften, aber auch einfache Vortragsveranstaltungen genutzt, um mit möglichst viel Pomp und Prominenz langfristig positive Duftmarken für den Namen Gülen zu setzen – langfristig, denn in den an die Öffentlichkeit gerichteten Aktivitäten spielen die Lehren Fethullah Gülens keine offensichtliche Rolle, ja wird der Name Gülen nicht einmal erwähnt. Seit 2009 sind zwar viele Vereine verstärkt auf ihre Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung ansprechbar, aber bei Weitem nicht alle; und wo die Zugehörigkeit nicht verneint wird, spricht man lieber von der „Inspiration“ durch Gülen als von Schülerschaft und Netzwerkstrukturen.

Laut der neuesten Studie des Soziologen und Türkeiexperten Günter Seufert verzeichnet die Gülen-Bewegung in Deutschland („die am schnellsten wachsende Strömung unter Bürgern mit türkischen Wurzeln“) etwa 300 Vereine, die Fethullah Gülen nahestehen, 24 staatlich anerkannte Privatschulen und ca. 150 außerschulische Nachhilfeeinrichtungen (Seufert, 5). Viele der Letzteren, etwa die Pangea-Bildungszentren, sind im Academy Verein für Bildungsberatung e. V. (Frankfurt a. M.) organisiert. Zu ergänzen wäre rund ein Dutzend Zentren bzw. Vereine für interkulturellen Dialog. Neben den Lobby- und Bildungsvereinen sind das breite Engagement in Presse, Funk und Fernsehen (z. B. in der World Media Group AG in Offenbach a. M.) sowie vor allem organisierte Wirtschaftsunternehmen weitere Säulen der Bewegung. Im Bundesverband der Unternehmervereinigungen (buv, seit 2010) sind etwa zwanzig regionale Mitgliedsverbände mit rund 5000 Unternehmen registriert.2 In der Türkei haben sich die Unternehmer unter dem Dach der TUSKON („Turkish Confederation of Businessmen and Industrialists“) zusammengetan. Hier und in den Schul- und Kursgebühren liegen die Haupteinnahmequellen der Gülen-Anhängerschaft.3

Relativ neu sind Vorstöße in die (Lokal-)Politik. So gab es 2013 Aktionen, dass ganze Wohngemeinschaften in Parteien eintraten, etwa in Leipzig. Inwieweit sich andere Arbeitsfelder im Umfeld der Gülen-Bewegung als Teil der Bewegung profilieren oder eigene Wege gehen werden, ist noch abzuwarten. Dies gilt etwa für die Zukunfts- und Trendforschung, wie sie das „futureorg Institut“ in Dortmund betreibt, eine „unabhängige und überparteiische Denkfabrik“, die „soziale, ökonomische, demografische und politische Entwicklungen“ analysieren und in „konstruktive Handlungsanleitungen“ zur Stärkung der Diversity-Kompetenz überführen will. Ein Projekt dieses Zukunftsinstituts in Kooperation mit dem Deutsch-Türkischen Journal (dtj-online, das der World Media Group AG angehört) ist „endaX“, das Wahl-, Markt- und Meinungsforschungsprojekte durchführt, um „das soziale, kulturelle und ökonomische Potenzial von Menschen mit Migrationshintergrund“ empirisch zu erheben und sichtbar zu machen.4

Ein weiterer Bereich im Bildungssektor, in dem Akteure der Gülen-Bewegung neuerdings auftreten, ist die Lehrerfortbildung und -rekrutierung. Lehrkräfte und Referendare werden auf Fortbildung, Beratung und Projektentwicklung hin angesprochen. Die Gesellschaft für Bildung und Förderung (GEBIF gGmbH) in Frankfurt a. M. wirbt beispielsweise damit, auf kürzestem Wege einen Arbeitsplatz an Schulen in freier Trägerschaft zu vermitteln, und dies anscheinend mit Unterstützung staatlicher Stellen. Ehrengast der GEBIF in der Beratung ist nach Auskunft der Internetseite ein Vertreter des hessischen Amtes für Lehrerbildung (www.gebif.de).

In Bezug auf den interreligiösen Dialog ist eine eigentümliche Ambivalenz festzustellen. Einerseits ist das Thema seit 1997/98 präsent und wird beispielsweise Gülens Papstbesuch 1998 hochgehalten, andererseits sollten die Aktivitäten in Deutschland bis vor Kurzem demonstrieren: Hier findet keine Religion statt, es geht gerade nicht um interreligiösen, sondern um interkulturellen Dialog und säkulare Bildung. Die Beteiligung des FID Berlin (Forum für interkulturellen Dialog e. V.) am Projekt eines großen interreligiösen Sakralbaus in Berlin-Mitte seit 2010/11 geht erstmals entschieden darüber hinaus. So kommt es zu der bemerkenswerten Situation, dass der – übrigens einzige – muslimische Partner des interreligiösen „Bet- und Lehrhauses auf dem Petriplatz“ das Berliner FID ist, das zwar deutlich weniger als hundert Mitglieder und weder einen Geistlichen noch eine Moscheegemeinde aufweisen kann, aber ein führender „Gülen-Lobbyverein“ in Deutschland ist. Beides kann freilich aus der für Gülen typischen pragmatischen Haltung abgeleitet werden: die Zurückhaltung, wenn nicht gar Verleugnung religiöser Positionen ebenso wie die Bereitschaft, die Gunst der Stunde für ein weiteres Prestigeprojekt zu nutzen, und sei es um den Preis der Revision von bis dahin regelmäßig eingeschärften Verhaltensmustern (hier passen wieder Prominenz, Ambiente und die Verheißung größtmöglicher öffentlicher Wirkung zusammen).

Dass die Gülen-Bewegung mittel- und langfristig plant, macht auch der Erwerb eines 84 000 m2 großen Grundstücks mitten im Berliner Bezirk Spandau deutlich. Wie Ende 2012 bekannt wurde, soll auf dem ehemaligen Kasernengelände ein bislang einzigartiger Bildungscampus entstehen, der in der Trägerschaft Gülen-naher Vereine vom Kindergarten bis zur Hochschulreife alles an einem Standort anbieten wird.

3. Inhaltliche Kontinuität in der Hizmet-Bewegung

Die Anhängerinnen und Anhänger Fethullah Gülens bevorzugen die Bezeichnung „Hizmet-Bewegung“. Hizmet heißt „Dienst“ und bietet in der Tat einen Schlüssel zum Verständnis. Der Mensch ist berufen, so sagt der Hocaeffendi, der „verehrte Lehrer“, seinem Schöpfer aktiv zu dienen; darin besteht der Sinn seines Lebens. Wir müssen „Herz, Geist und alle uns eigenen Fähigkeiten nutzen, indem wir unsere Pflichten als Diener wahrnehmen“ (APM, 69). Diener ist ein theologisch zentraler Begriff der islamischen Anthropologie: Der Mensch ist zuerst und vor allem Diener Gottes („Abd Allah“; vgl. Sure 1,5; 2,21; 19,93; 51,56 u. ö.). Das hat mit der Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer zu tun und umfasst alle Lebensbereiche. „Ein erfolgreiches Dienen im Islam in Übereinstimmung mit dem Weg des Propheten ist nur durch eine Islamisierung des Lebens mit all seinen Institutionen möglich“ (PMB, IV). Der Dienst Gott gegenüber ist zugleich nie ohne den Dienst an den Menschen zu denken. Es geht darum, „das Wohlwollen Gottes im Dienst an den Mitmenschen“ zu suchen (APM, 72). Der Weg zum Wohlwollen Gottes und zu einem ewigen Leben im Himmel führt daher „über die unentrinnbare Dimension der Dienerschaft Gottes über den Dienst an unseren Familien, Verwandten und Nachbarn zum Dienst an unserem Land und unserer Nation hin zum Dienst an der Menschheit und der Schöpfung“ (APM, 78).

Inhaltlich beruht dieser Weg nach Gülen, und darin folgt er seinem Lehrer Said Nursi, auf einem Konzept von Wissenschaft und Bildung einerseits und Glauben und Rechtschaffenheit andererseits. Keines besteht ohne das andere. Es sind gleichsam die beiden Schwingen, auf denen die Menschen emporgetragen werden. Dieses Konzept wird die Wissenschaft vom Materialismus befreien, wie es nicht zulassen wird, „dass die Religion verkrüppelt bleibt“ (APM, 72). Das heißt: „Die Religion leitet die Wissenschaft an, bestimmt ihr wahres Ziel und stellt ihr moralische und universelle menschliche Werte zur Verfügung“ (APM, 70), und: „Wissenschaft und Religion können einander jedoch gar nicht widersprechen, denn beide verfolgen das eine Ziel, die Natur und den Menschen ... zu verstehen ... Das Ende dieses Konflikts [zwischen Wissenschaft und Religion; F. E.] und ein neuer Erziehungsstil, der religiöse und wissenschaftliche Erkenntnisse miteinander verbindet, werden zusammen mit Moralität und Spiritualität für die Aufklärung der Menschen sorgen“ (APM, 34).5

Dies ist kurzgefasst der Rahmen, in dem die Gülen-Anhängerschaft ihren „Dienst“ von Anfang an verstand und bis heute versteht. Wenn heute reihenweise Publikationen das moderne Gesicht der Bewegung zeigen wollen, den Kern ihrer Motivation bzw. den alles umgreifenden Deutungshorizont aber außer Acht lassen, wird notwendig ein einseitiger Eindruck vermittelt.6 Hält man sich an das Schrifttum, das offenkundig eher intern Verbreitung findet, jedoch in mehreren Sprachen im Main-Donau Verlag (früher Fontäne-Verlag) aktuell erscheint, gewinnt man ein anderes Bild. In über sechzig Publikationen auf Deutsch zeigen sich die Konstanten in der inhaltlichen Ausrichtung der Bewegung. Sie liegen im Wesentlichen im Islamverständnis Fethullah Gülens.

Schariavorbehalt

Gülen nimmt zentrale Gedanken Said Nursis auf und entwickelt sie weiter. Der Islam ist demzufolge durch die Verbindung von Wissenschaft und Glauben anderen Religionen überlegen. Die Religion ist eine „Straße zur Vervollkommnung der Menschen“; und „eine Wissenschaft, die den Menschen nicht in Richtung der erhabenen Ziele führt, ist ein Trugbild“ (APM, 61). Die Überlegenheit des Islam besteht in seiner Ganzheitlichkeit, konkret darin, dass er das Potenzial hat, dem dekadenten materialistischen Westen Werte zu vermitteln, die diesem abhanden gekommen sind – vor allem Moral und Ethik. Hintergrund der Überlegenheitsrhetorik, der man überall in den Schriften Gülens begegnen kann, ist eine kulturell und historisch formulierte und religiös-theologisch überhöhte Dichotomie zwischen „dem Islam“ und „dem Westen“. Der Islam besitzt, das ist der Anspruch, im Unterschied zu den anderen Religionen und Ideologien die für ein gelingendes Zusammenleben unabdingbaren „unveränderlichen Prinzipien“ (APM, 16) oder „die universellen ethischen Werte, die bereits von den Gesellschaften der ersten Menschen anerkannt und akzeptiert wurden“ (APM, 19).

Mit dieser Formulierung weist der Hocaeffendi theologisch unmissverständlich auf zweierlei hin: einmal auf den sogenannten Urpakt oder Urvertrag in Sure 7,172. Dies wurde in der islamischen Tradition meist so interpretiert, dass alle Menschen gewissermaßen als „Muslime“ (d. i. dem Willen Gottes Ergebene) geboren werden. Alle Menschen haben die von Gott bestimmten und zeitlos geltenden Gebote ganz ursprünglich zur Kenntnis genommen. Diese Gebote haben ihre greifbare historische Gestalt im Islam erhalten. Das ist der zentrale Aspekt des Offenbarungsverständnisses im Islam. Der andere Aspekt hängt unmittelbar damit zusammen: Die historisch gewordene Gestalt des Islam hat die in Rede stehenden „unveränderlichen Prinzipien“ bzw. „universellen Werte“ in konkrete und menschenverständliche Normen gegossen, die als Scharia überliefert worden sind. Es handelt sich daher mitnichten um (philosophisch, theologisch, politisch) diskutierbare Werte, sondern um in der islamischen Tradition vorgegebene Regeln und deren verbindliche Auslegungen, die wohl „den Staatsgebilden der Menschen einen gewissen Spielraum lassen“ (APM, 19), jedoch „der Gesellschaft nicht geopfert werden dürfen“ (APM, 20).7 Mit Begriffen wie „Recht“, „Gerechtigkeit“, „Tugend“, „Moralität“ spricht Gülen häufig auf diesen grundlegenden Themenbereich an. Auch wo die fünf Grundrechte des Individuums auf „Leben, Glauben, Vernunft, Eigentum und Familie“ angesprochen werden, wird gerade nicht auf so etwas wie unveräußerliche individuelle Menschenrechte Bezug genommen, sondern auf das von der Scharia verbriefte Recht verwiesen (das etwa Männer und Frauen ungleich behandelt und keine Religionsfreiheit kennt; APM, 20; PMB, 51 u. ö.).

Wird diese Perspektive eingenommen und für allgemeingültig erklärt, sprechen wir von einem Schariavorbehalt im Blick auf die Akzeptanz der demokratischen Verfassungen in „westlichen“ Gesellschaften. Auch diese sollen sich langfristig nach islamischen Regeln gestalten.

Ganzheitlicher (islamisch-)religiöser Anspruch auf die Gesellschaft ist Islamismus

Das ist der Mörtel, der islamistische Gedankengebäude zusammenhält, so unterschiedlich sie im Einzelnen formuliert sein mögen. Die islamische Religion wird ganzheitlich verstanden als Regelsystem für alle – privaten und öffentlichen – Lebensbereiche, und daher immer allen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systemen überlegen, die jeweils nur Teilsysteme sein können (vgl. APM, 18).

Gülen formuliert teils moderat: „Als Besitzer eines Glaubenssystems mit einer anderen Geschichte und Essenz haben wir dem Westen ..., aber auch der Menschheit in ihrer Gesamtheit einiges zu bieten“ (APM, 67f), teils explizit: So stellt er die Demokratie als menschliche, variable Größe dar, die gegenüber der Religion, die „Regeln und Werte für das menschliche Leben“ bereithält, als defizitär, genauer als entwicklungsfähig und -bedürftig erscheint (APM, 19-23). „Der Westen besitzt die wissenschaftliche, technologische, ökonomische und militärische Vorherrschaft. Der Islam aber verfügt über einen noch viel wichtigeren und lebensnotwendigeren Faktor: den Glauben. Die Religion des Islam, die von Koran und Sunna repräsentiert wird, hat sich die Frische des Glaubens, ihre spirituelle Essenz, ihre Menschenfreundlichkeit und ihre Moralität über 14 Jahrhunderte hinweg bewahrt“ (APM, 40). Der Islam gibt in diesem Weltbild die Grundprinzipien vor, denen auch Politik und Gesellschaft folgen müssen.

Für Aufregung hat das Bekanntwerden einer Auslegung Fethullah Gülens zu dem Koranvers Sure 2,256 („Es gibt keinen Zwang im Glauben“) aus dem Jahr 2008 gesorgt, in der er sich zur Toleranz, zu den Bedingungen des islamischen Staates, zum Dschihad und auch zur Apostasiefrage äußert. Darin bekräftigt Gülen das Urteil aller vier islamischen Rechtsschulen, dem zufolge der Abfall vom islamischen Glauben die Todesstrafe nach sich ziehe. Apostasie sei keine individuelle Angelegenheit, sie tangiere das Gleichgewicht der Schöpfung und ihren Bezug zum Schöpfer.8

Unhistorisch, geschönt – Muhammad als Maßstab für die heutige Gesellschaft

Auch in anderer Hinsicht ist Gülen sehr deutlich: Da Menschenfreundlichkeit und Moralität in vollkommener Weise dem Islam zugeschrieben werden, sind Kriege und Konflikte nicht diesem, sondern dem Christentum anzulasten (APM, 67. 70).9 Kriege und Konflikte gibt es auch mit islamischer Legitimation, dann wird ihnen allerdings eine andere Wertigkeit zugeschrieben. Dann geht es um die Durchsetzung von Recht (dem „Gesetz Gottes“) und die Etablierung der „Freiheit des Glaubens“, die im Sinne der erwähnten Moralität die Herrschaft des Islam voraussetzt.10 Besonders sichtbar wird die unhistorische und einseitige Denkweise Gülens in seinen Geschichtsbetrachtungen. Gülen nimmt die frühislamische Geschichte positivistisch nach ihrem tradierten Wortlaut und stellt sie in einer Weise als normativ dar, dass die Herrschaft des Islam als unbedingter und einziger Garant von Recht und Sicherheit auch für die heutige Gesellschaft erscheinen muss (PMB, 52 u. ö.). Der Prophet Muhammad ist das leuchtende Vorbild, dessen Verhalten im 7. Jahrhundert Maßstab für heutiges Verhalten sein soll. Bis zu Muhammad galt das Prinzip „Macht ist Recht“, der Prophet habe dem (von Gott bestimmten islamischen) „Recht“ zur Macht verholfen, so Gülen. Damit das so bleibt bzw. bleibend durchgesetzt wird („Recht ist Macht“!), „müssen die Gläubigen mächtiger als andere sein“, sie müssen sich „auch mit hochentwickelten Waffen ausrüsten“ (PMB, 40. 49). So sei „Frieden und Gerechtigkeit“ sicherzustellen (d. i. der Islam). Die Gläubigen müssten „Wissenschaft und Technik mit Glauben und guter Moral verbinden und sie im Dienste der Menschheit zum Einsatz bringen“, um „die Erde dem Gesetz Gottes zu unterwerfen“ (PMB, 37.41). Gewaltanwendung ist vorgesehen, wo Muhammad auch Gewalt angewendet hat: „Wenn Ungläubige ... dem Predigen des Islam Widerstand leisten und versuchen, seinen Weg der Eroberung des Verstandes und des Herzens der Menschen zu blockieren“ (PMB, 36). Bei seiner Definition von Dschihad verweist Gülen auf den pakistanischen Vordenker des modernen Islamismus Abul A’la Maududi (PMB, 46). Der große und der kleine Dschihad sollen sich in einem Gleichgewicht befinden, um die Gebote Gottes aktiv zu erfüllen (APM, 50).

Um auf den Glanz des Propheten keinen Schatten fallen zu lassen, scheut Gülen auch vor Geschichtsumdeutungen und drastischer Beschönigung nicht zurück. Er verteidigt seitenlang die frühislamischen ghazawat (Kriegszüge, er nennt sie „Expeditionstrupps“) und verschweigt etwa die Vernichtung des jüdischen Stammes der Banu Quraiza (PMB, 98) – der seinen Urteilsspruch gemäß der Tora empfangen habe (Dtn 20). Das heißt, selbst innerhalb des als historisch akzeptierten islamischen Erzählrahmens beschönigt Gülen den Charakter Muhammads, entlastet ihn z. B. von der Niederlage bei Uhud, stellt ihn als fehlerlos, strategisch genial, militärisch einwandfrei und unbesiegbar dar. Dem strategischen Geschick Muhammads inklusive Kriegslist und taktischem Vorgehen, das in immer wiederkehrenden Elogen gepriesen wird, gehört offenbar die besondere Bewunderung des Hocaeffendi.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Bemerkungen nicht beiläufig, die sich mit nahezu unverhohlener Gewaltandrohung gegen Ungläubige und Gegner richten. „Mitgefühl für einen Wolf kurbelt nur dessen Appetit an“ (APM, 43, vgl. PMB, 4). Gülen spricht vom schädlichen „Missbrauch des Mitleidsgefühls“ (PMB, 3), dem im Zeichen des Dienstes an der Menschheit widerstanden werden müsse. Wahres Mitgefühl für den Körper könne im „Amputieren eines brandigen Körperteils“ bestehen (ebd.). Gülen spielt damit auf die strengen schariatischen Hudud-Strafen an, die die „ganzheitliche Weltsicht des Islam“ für die schwerwiegendsten Verbrechen vorsieht, um eine Gesellschaft von den „bedrohlichsten Krankheiten“ wie Abfall vom Glauben, Mord, Anarchie, Terror, Ehebruch u. a. zu kurieren.11 Da so eine gesunde Gesellschaft gewährleistet wird, kann er resümieren: „Die vermeintliche Feindseligkeit eines Muslims gegenüber Ungläubigen ist also in Wirklichkeit nichts anderes als Mitgefühl“ (APM, 45). Hier werden langfristig gefährliche islamistische Zielvorgaben gemacht, die öffentlicher Aufmerksamkeit und Kritik bedürfen.

Einwände

Angesichts der Kluft zwischen den dargestellten Positionen und dem nach außen geführten Dialog wird der Einwand erhoben, man dürfe die Äußerungen Gülens nicht auf den theologischen Prüfstand stellen. Er sei „nur Prediger“, nicht Theologe, daher seien die konservativen Aussagen nicht überzubewerten. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine solche Feststellung allenfalls erklären, aber keinesfalls entlasten kann. Es mindert das Gefahrenpotenzial einer von Hunderttausenden absolut loyal aufgenommenen Predigt wohl kaum, wenn sie theologisch unterbelichtet ist. Gewöhnlich wird das Gegenteil angenommen. Es kann und muss also darum gehen, den islamisch-theologischen Gehalt der Predigten des Nichttheologen in deren Kontext zu sehen und zu interpretieren. Alles andere wäre methodisch unlauter und würde Gülen geradezu Ahnungslosigkeit oder gar Dummheit unterstellen, was mit Sicherheit nicht mehr, sondern weniger Dialogkompetenz offenbarte.

Ferner wird von Gülen-Anhängern häufig betont, der Hocaeffendi habe diese Dinge vor Jahrzehnten vor einem türkischen Publikum seiner Zeit gesagt, heute sähe das ganz anders aus. Demgegenüber gilt: Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich dies inhaltlich durchsetzte und bemerkbar machte. Dass diese Positionen heute in großen Mengen in westlichen Sprachen unkommentiert, unzensiert, unrevidiert und ohne historische Einordnung in Offenbach a. M. publiziert werden, spricht jedoch eine andere und deutliche Sprache.

4. Wie gefährlich ist die Gülen-Bewegung?

Diese Frage wird immer wieder gestellt. Was bedeutet nun all das für den Umgang mit Anhängerinnen und Anhängern des Predigers?

Zunächst: Die türkische Situation ist eine andere als die in Deutschland. Es ist davor zu warnen, die dortigen Konfliktlinien eins zu eins auf hier übertragen zu wollen. In Deutschland ist die Gülen-Bewegung (noch) kein Machtfaktor, sondern ein ziemlich junger Player in einem anderen Setting. Allerdings kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Strukturen und die Akteure der Bewegung lokal und global eng vernetzt sind; es sind dieselben Ideen und Strategien, die in der Türkei wie in Deutschland, den USA und anderswo in den Reihen der Cemaat an die jeweilige Situation angepasst werden. Das bedeutet, dass dem enorm starken gesellschaftspolitischen Gestaltungswillen, der nicht auf demokratische Mittel, sondern auf Macht- und Einflussgewinn zunächst unter der türkisch-deutschen Bevölkerung setzt, auch hierzulande die nötige Aufmerksamkeit zukommen muss.

Weiter: Religiosität, bestimmte Frömmigkeitsprägungen, die freie Religionsausübung, auch Eigenwerbung und Lobbyarbeit, ja auch Mission für bestimmte Formen sind in unserem Land weder verboten noch als solche kritikwürdig. Nicht wenige der genannten Facetten und inhaltlichen Positionen können analog auch für christliche oder andersreligiöse Gruppierungen genannt werden. Die christlichen Kirchen haben erst in blutigen Auseinandersetzungen und häufig genug erst unter Druck von außen gelernt, dass Menschenwürde und Menschenrechte auf der Basis von Toleranz und wechselseitig zugestandener Freiheit zu ihrem Recht kommen.12 Probleme entstehen gleichwohl aus zwei Richtungen. Wird eine religiöse Perspektive nicht als eine mögliche im Konzert der unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen religiösen Perspektiven in einer pluralen Gesellschaft verstanden, sondern als göttliches Prinzip bzw. übergreifender Deutungshorizont mit Gültigkeit für alle, d. h. die Gesamtgesellschaft aufgefasst, ist die Bejahung einer säkularen Gesellschaftsordnung nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Damit muss sich in erster Linie die Gülen-Bewegung auseinandersetzen. Wird Religion im Wesentlichen als „Privatsache“, als innere Einstellung und Quelle ethischer Handlungsorientierungen aufgefasst, was einem weit verbreiteten Vorurteil entspricht, besteht die Gefahr, den gesellschaftspolitisch brisanten Kern des in der Gülen-Bewegung vorherrschenden Islamverständnisses gar nicht in den Blick zu bekommen. Hier ist die „Mehrheitsgesellschaft“ gefragt.

Schließlich: Die zur Verfügung stehenden Informationen müssen zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden. Die einseitige Selbstdarstellung, der große Teile der Publizistik zur Gülen-Bewegung mehr oder weniger kritiklos folgen, unterschlägt nicht einen vernachlässigbaren Aspekt religiöser Gesinnung, sondern verdeckt den inhaltlich-ideologischen Zusammenhang, in dem die Aktivitäten der Gülen-Bewegung ihren Sinn haben. Es ist natürlich nicht davon auszugehen, dass jedem einzelnen Gülen-Getreuen alle genannten Positionen geläufig sind, geschweige denn, dass jeder alles unterschreiben würde. Die Cemaat ist flexibel, dezentral und pragmatisch aufgestellt. Der Zusammenhang zwischen dem Einsatz der „Gülen-Inspirierten“ für zeitgemäße säkulare Bildung und Gülens islamischer Vision für Deutschland und Europa ist jedoch erhebbar und wird weithin unterschätzt.

In diesem Punkt greift auch die Studie von Günter Seufert zu kurz. Seufert kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen (Seufert, 30): 1) „Eine ‚Gefahr’ könnte die Gülen-Bewegung in Europa, wenn überhaupt, nur für einzelne ihrer Mitglieder sein, und zwar dann, wenn diese sich autoritären Strukturen überantworten.“ 2) Die „nach außen gerichteten zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der Bewegung in Deutschland, ihr Engagement im Bereich der Bildung und des interreligiösen bzw. interkulturellen Dialogs, [dienen] objektiv der Integration von Migranten in die deutsche Gesellschaft.“ 3) „Gülens Vorgabe, dass der Dienst an der Gesellschaft eine wesentliche Form einer vor Gott gerechtfertigten Lebensführung ist, könnte in der europäischen Diaspora (und in den USA) geradewegs der Schlüssel dafür sein, den prinzipiellen Interessengegensatz zwischen dem Islam und dem Westen aufzuheben, den Gülen in seinen frühen Schriften wiederholt mit eindringlichen Worten beschworen hat.“

Mit 1) spricht der Autor ein Phänomen an, das im Umgang mit und in der Bewertung von neureligiösen Bewegungen, Psychogruppen und sogenannten Sekten allgemein zu beachten ist. Er misst allerdings den Mitteln und Methoden, mit denen sich die Bewegung der Loyalität der Angeworbenen versichert und über die ehemalige Anhängerinnen und Anhänger kritisch berichten, keinerlei Gewicht bei. 2) und 3) sind zunächst Behauptungen, deren Bewährung aussteht. Für 3) gibt es keinerlei Anzeichen. Setzt sich Gülens konservative Linie durch, tritt das Gegenteil ein.

Seufert bringt selbst die Punkte, die andere Schlussfolgerungen zulassen, darunter: „Die Gülen-Bewegung ist ... eine hierarchisch strukturierte religiöse Gemeinde mit einer zivilgesellschaftlichen Mission, die zudem einen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen hat“ (Seufert, 29). Der Selbstauftrag sei „mit dem der ‚Inneren Mission’ in Deutschland vergleichbar“ (Seufert, 6; auch: 15).13 Gülen selbst sehe die Wohngemeinschaften (Lichthäuser) als „dynamischen Kern seiner religiösen Gemeinde“ (Seufert, 28). Auch den Einfluss der Naqshbandiyya auf das Islamverständnis Fethullah Gülens beschreibt Seufert knapp (12-14).14 Schließlich wird das Ziel von ihm klar umrissen: „Gülen ... hat sich zum Ziel gesetzt, muslimische Moralität und Sittlichkeit wiederherzustellen und genügend Rückhalt zu sammeln für seine Vision einer muslimischen Gesellschaft“ (Seufert, 13).

Die normative Geltung der positivistisch aufgefassten islamischen Regeln, die auf Koran und Sunna beruhen, die Ablehnung individueller Lebensentwürfe (vgl. Seufert, 12!), der unbedingte Gehorsam im Dienst an der Gemeinschaft, die vom Islam bestimmt werden soll – all das hat Gülen nie relativiert oder zurückgenommen.

Fazit

Kurz gesagt:Gülen weiß zu genau, was „Tugend“, „Recht“, „Gerechtigkeit“, „Wohlergehen“ etc. ist, ganz undialogisch und für alle (APM, 20. 22f. 29. 34f. 40f; PMB, 33ff. 41. 49ff u. ö.). Individuelle Rechte ergeben sich für ihn aus den (islamischen) religiösen Grundprinzipien. Die müssen nicht per se falsch oder unplausibel sein, sehen aber für alle eine einheitliche Moral vor. Individualität ist von da aus nur im Rahmen der kollektiven religiösen Einheit zu denken. Der Bildungsbegriff Gülens zielt nicht auf Kontroversität, Konfliktfähigkeit und Interessenorientierung, sondern auf Wissen über „dieses und das kommende Leben“ als Mittel, um islamische Grundwerte in der Gesellschaft zu stärken. Es sind solche Implikationen des Islamverständnisses in den Gülen-Zirkeln, die die Demokratiedistanz befördern und die islamische Legitimierung eines Konzepts von citizenship geradezu verhindern.

Die Lehren Fethullah Gülens sind nicht besonders auffällig, wenn man sich mit konservativen und islamistischen Strömungen auseinandersetzt. Es ist die Diskrepanz zwischen dem Bild, das nach außen gepflegt wird, und der religiös-ideologischen Grundlage, die im Umgang mit der Gülen-Bewegung zum Thema gemacht werden muss. Die Herausforderung liegt in der Mehrschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der Aktivitäten der Gülen-Bewegung, die Pragmatismus mit langem Atem kombinieren. Die Begriffe verstehen sich im inneren Diskurs anders als im Diskurs nach außen.

Deshalb: Wie ist das Verhältnis zur Gewaltenteilung, zum religiös-weltanschaulichen Pluralismus und zur negativen Religionsfreiheit, überhaupt zu den individuellen Menschenrechten, zu verstehen? Was ist mit Toleranz und Dialog der Kulturen letztendlich gemeint? Welche Rolle spielt die Religion, wenngleich indirekt, für den Bildungsauftrag? Inwieweit geht die schulische und außerschulische Förderung mit Demokratieerziehung einher, und inwieweit läuft sie dieser nachgerade zuwider? Diese und weitere Fragen bedürfen einer breiten öffentlichen und kontroversen Debatte – deren Ergebnisse durch vorauseilende Lobeshymnen auf die Gülen-Bewegung durch Politprominenz nicht vorbestimmt werden sollten.


Friedmann Eißler


Literatur

APM: M. Fethullah Gülen, Aufsätze, Perspektiven, Meinungen, Mörfelden-Walldorf 2004

PMB: M. Fethullah Gülen, Der Prophet Muhammad als Befehlshaber, Izmir, Türkei, o. J.

Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Bonner Islamstudien Bd. 2, Hamburg-Schenefeld 22008

Friedmann Eißler, Islamisierung profaner Arbeit als Dienst an der Menschheit. Zum Bildungsideal Fethullah Gülens, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religionsdialoge. 50 Jahre EZW, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 175-194

Friedmann Eißler, „Islamisierung des Lebens“? Zitate aus Schriften der Gülen-Bewegung, in: MD 6/2012, 215-220.

Ralph Ghadban, Die Pseudo-Modernisten: Said Nursi und Fethullah Gülen, in: ders., Islam und Islamkritik. Vorträge zur Integrationsfrage, Berlin/Tübingen 2011, 239-272

Günter Seufert, Überdehnt sich die Bewegung von Fethullah Gülen? Eine türkische Religionsgemeinde als nationaler und internationaler Akteur, SWP-Studien (Stiftung Wissenschaft und Politik) 2013/S 23, Berlin Dezember 2013


Anmerkungen

  1. In einer Videobotschaft, zitiert nach Boris Kálnoky, Mächtige Gülenisten werden Erdogan gefährlich, in: Die Welt, 24.12.2012, www.welt.de/politik/ausland/article112218735/Maechtige-Guelenisten-werden-Erdogan-gefaehrlich.html.

  2. Auf der Homepage werden die Zahlen 15 Mitgliedsverbände mit rund 3000 Unternehmen genannt (http://buv-ev.de/mitglieder).
  3. Vgl. dazu auch Helen R. Ebaugh, Die Gülen-Bewegung. Eine empirische Studie, Freiburg i. Br. 2012.
  4. S. www.futureorg.de  und www.endax.de.

  5. Weiteres zum Islamverständnis und den theologischen Grundlagen bei Agai, 195ff. 209ff.; Eißler, Islamisierung profaner Arbeit; ders., „Islamisierung des Lebens“?; Ghadban, Die Pseudo-Modernisten.

  6. Allein im Herder-Verlag erschienen innerhalb von vier Jahren hintereinander vier Titel, von denen dies in eklatanter Weise gilt.
  7. Darauf, dass die Scharia nicht einfach ein Buch ist, das man aus dem Regal nehmen kann, sondern ein komplexes Normensystem, dessen konkrete Anwendung im Rahmen einer anspruchsvollen Rechtswissenschaft formuliert wird, sei hier nur hingewiesen. Diese Tatsache bedeutet wiederum nicht, dass die Scharianormen nicht auch in einer Fülle konkreter rechtsschulenspezifischer oder auch rechtsschulenübergreifender Anwendungsauslegungen greifbar wären, auch in Kompendienform (vgl. etwa das fünfbändige Standardwerk von Abd ar-Rahman al-Dschasiri, Kitab al-fiqh ala l-madhahib al-arba’a, Beirut 1420/1999).

  8. Die Passage über Apostasie wurde im WDR-Film „Der lange Arm des Imam“ thematisiert. Die Quelle ist auf der französischen Gülen-Webseite http://fr.fgulen.com/content/view/129/19/ nach wie vor abrufbar (1.2.2014).
  9. Nebenbei: Auch die Umweltverschmutzung sei dem spezifisch westlichen Denken zuzuordnen, meint Gülen (APM, 71).
  10. „Unter der Herrschaft des Islam sind somit die Anhänger anderer Religionen ... frei, ihre Religion ungehindert auszuüben“ (PMB, 37; Hervorhebung F. E.).

  11. Vgl. Eißler, Islamisierung profaner Arbeit, 182f.

  12. Christen haben Anlass, weiterhin selbstkritisch zu sein. Definitiv kein Argument ist dessen ungeachtet, die Christen hätten wie die Muslime ein religiöses Recht, das sie im Zweifelsfall über die Staatsloyalität stellen würden. Natürlich gilt auch für Christen „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29), doch ist dies eine letzte Instanz der Selbstvergewisserung etwa angesichts drohender Repressalien durch den Staat, die die Gewissens- und Glaubensfreiheit tangierten. Christen würden dann – in diesem Notfall – zur Freiheitswahrung gewiss zur Entscheidung gezwungen und gegebenenfalls Opfer auf sich nehmen. Dies unterscheidet sich jedoch von dem Anspruch, einen wie auch immer konkret verstandenen Gehorsam gegenüber Gottesrecht gesellschaftlich durchsetzen zu wollen, wie es die Scharia vorsieht. Von einem solchen Anspruch Abstand zu nehmen, muss in der Tat gefordert werden. Vgl. Gunther Wenz, Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit. Notizen aus evangelisch-lutherischer Perspektive, in: Kerygma und Dogma 54/2 (2008), 138-146 (Abdruck eines Vortrags an der muslimisch-theologischen Fakultät in Ankara).

  13. Der Ausdruck Missionsgemeinschaft (s. oben S. 83) ist weder polemisch noch metaphorisch gemeint, sondern trifft das Sendungs- und Gemeinschaftsbewusstsein der Gülen-Bewegung ganz gut.
  14. Er erwähnt auch die „offene Feindschaft“ gegen Kurden und Aleviten in Gülens „frühen Schriften“ (14). Es wird nicht belegt, dass Gülen sich davon tatsächlich distanziert hätte. Aktuelle Berichte über türkischsprachige Originalquellen deuten in eine andere Richtung.