Kai Funkschmidt

„Wir beten zu bestimmten Öffnungszeiten“

Die neucharismatische Bewegung der „Healing Rooms“

Seit 2003 verbreiten sich in Deutschland sogenannte „Healing Rooms“2, eine aus den USA stammende christliche Bewegung ohne kirchliche Anbindung, bei der für Kranke um Heilung gebetet wird.3 Sie stehen in der Tradition regelmäßig wiederkehrender pfingstlerischer Heilungsbewegungen, wie es sie in Deutschland schon früher, ebenfalls aus den USA kommend, gab. Zurzeit bestehen in Deutschland 24 Healing Rooms, vor allem in Bayern, Baden-Württemberg (je sechs) und Hessen (vier). Nur einer liegt in Ostdeutschland (Sachsen). Erklärtes Ziel ist die deutschlandweite Verbreitung. „In den nächsten Jahren sollen allein in Deutschland über 100 Heilungsräume gegründet werden. Dazu schließen sich jeweils Christen aus unterschiedlichen Gemeinden in einem Team zusammen. Gemeinsam organisieren sie den Aufbau des Heilungsraums und finden die Mitarbeiter.“4 Allerdings hat sich die anfangs schnelle Zunahme deutlich verlangsamt, und angesichts der momentan abnehmenden Zahl Ehrenamtlicher ist es fraglich, ob das Ziel erreichbar ist.

Geschichte

Die Bewegung beruft sich auf den Kanadier John G. Lake (1870-1935). Lake durchlief eine methodistische Predigerausbildung, arbeitete aber zunächst als Ingenieur. Erst nach weiteren Erweckungserfahrungen, unter anderem in der Azusa Street Revival 1907, wo er die Geisttaufe empfing und in Zungen redete, ging er von 1908 bis 1912 als Missionar nach Südafrika, wo er die Pfingstkirche „Apostolic Faith Mission“ gründete und durch erste Gebetsheilungen auffiel. Diese Erfahrungen führten ihn 1915 nach seiner Rückkehr zur Gründung des ersten Healing Rooms in Spokane (Washington). Hier bildete er Gebetsteams aus und bot Hilfesuchenden Heilungsgebete an. Der Erfolg sei beträchtlich gewesen. „So genannte ‚Heilungstechniker’ beteten hier für kranke Menschen. Im Verlauf wurden 100 000 Heilungen bezeugt“, woraufhin die Regierung der USA damals die Stadt Spokane zur „gesündesten Stadt der USA erklärt“5 habe.

Unter Lake haben die Healing Rooms nie eine größere räumliche Verbreitung gefunden und verschwanden offenbar schon zu seinen Lebzeiten wieder. Den Healing Room in Spokane leitete er nur bis 1920. Doch sein Erbe wurde nach seinem Tod 1935 in verschiedener Form weitergeführt bzw. wiedererweckt, in den USA unter anderem durch die von Nachfahren Lakes geleiteten „John G. Lake Ministries“ und den „International Apostolic Council“. Die John G. Lake Ministries bilden noch heute in Spokane sogenannte „Healing Technicians“ aus, sind aber auf die USA beschränkt.

Die frühen Healing Rooms lassen sich deutlich der ersten Welle der Pfingstbewegung zuordnen, wobei das Kernmerkmal schon damals war, dass unter den Charismen die Heilung nicht nur besonders herausgestellt, sondern institutionalisiert in gemeindeunabhängigen Einrichtungen durchgeführt wurde.

Als 1999 Cal und Michelle Pierce in Spokane einen „Healing Room“ gründeten, sahen sie dies als direkte Neubelebung der alten Idee. Unklar ist, warum sie sich zwar inhaltlich auf Lake beriefen, ihre Arbeit aber nicht im Rahmen der ebenfalls in Spokane ansässigen John G. Lake Ministries ausübten. Beide Bewegungen äußern sich kaum übereinander. Nur auf der Internetseite der John G. Lake Ministries wird kurz darauf hingewiesen, dass keine organisatorische Verbindung bestehe.

Nach Deutschland gelangte die Idee 2002, als Cal Pierce auf einer „nationalen Heilungskonferenz“ in Hannover sprach. 2003 wurde der erste deutsche Healing Room durch die Ehepaare Rolf und Erika Keusen und Bernd und Martina Hanheiser in Neu-Anspach gegründet. Im Januar 2004 folgte der Healing Room Augsburg unter Leitung des Arztes Wilfried Schürenberg und seiner Frau Anne. Der Healing Room Hanau wurde etwa zur gleichen Zeit vom Ehepaar Helmut und Doris Schank gegründet. Es folgte ein kleiner, aber steter Strom von Neugründungen, der momentan stagniert. Alle genannten Personen haben, soweit bekannt, keine formale theologische Ausbildung.

Organisation

Deutsche Healing Rooms gehören zwei Dachverbänden an: 1. Die „International Association of Healing Rooms“ (IAHR) ist der internationale Verband unter Leitung von Cal Pierce in Spokane (Deutschlandleiter: Ehepaar Schürenberg, Augsburg) und umfasst nach eigenen Angaben derzeit weltweit über 1200 Healing Rooms, davon 1000 in den USA und sieben in Deutschland. Im Oktober 2010 wurde bekannt gegeben, man strebe als nächstes Ziel die Errichtung von 1000 Healing Rooms in Indien an, mehrere hundert gebe es schon.6 2. „Healing Rooms Deutschland e.V.“ (HRD) umfasst 13 Healing Rooms unter Leitung des Ehepaars Hanheiser in Neu-Anspach. IARH und HRD unterscheiden sich nach Angaben beider Seiten nicht inhaltlich, sondern organisatorisch: Die Ehrenamtlichen im HRD scheuen die Abgaben an den internationalen Dachverband in den USA. Nach Auskunft beider Verbände steht aber ein Zusammenschluss bevor. Einzelne Healing Rooms (darunter Hanau, Leitung: Ehepaar Schank) gehören keinem Verband an.7

Healing Rooms positionieren sich als freies Heilungsangebot („die etwas anspruchsvollere Art gesund zu werden“) unabhängig von Kirchen, um die Schwellenangst kirchenferner Kranker zu überwinden. Bei Interesse werden Patienten an benachbarte Gemeinden vermittelt.8 Es gehört zum Konzept, dass eine kirchliche Anbindung bei den Ehrenamtlichen verlangt, für die Healing Rooms als solche aber abgelehnt wird. Diese Unabhängigkeit zeigt man möglichst durch räumliche Trennung, also durch Anmietung eigener Räume (Augsburg, Hanau). Wo man Gast in Kirchenräumen ist (in Neu-Anspach z. B. in der baptistischen Gemeinde), ist in der Außendarstellung die Adresse absichtlich nicht als Kirchengebäude erkennbar.

Öffnungszeiten und Besucherzahlen variieren stark. In Neu-Anspach öffnet man alle zwei Wochen für zwei Stunden mit null bis zwölf Patienten, in Hanau drei Stunden täglich an sechs Tagen pro Woche mit 20 bis 30 Patienten wöchentlich. Die Finanzierung wird durch Beiträge der Gebetsteams ermöglicht. Miete, Werbung und Einrichtung werden nicht nennenswert von Kirchen oder Gemeinden subventioniert. Die Heilungsgebete sind für Kranke kostenlos, Spenden werden in unaufdringlicher und allgemeiner Form erbeten und explizit nicht im direkten Zusammenhang mit dem Gebet. Die Spendeneinnahmen sind sehr überschaubar und dienen in der Regel nicht dem Lebensunterhalt. Wilfried Schürenberg, der Leiter von IAHR Deutschland und des Healing Rooms Augsburg, ist Frührentner.9 In Hanau versuchen die Leiter, den Healing Room hauptberuflich zu leiten und sich über einen Freundeskreis zu finanzieren. Geringe Einnahmen kommen auch aus Seminargebühren (vier Abende für 50 Euro) und den Verkauf preiswerter Bücher und CDs. Auf dem Markt der alternativen Gesundheitsanbieter dürften Healing Rooms damit zu den günstigsten Angeboten zählen, finanzielle Motive spielen keine erkennbare Rolle.

Das Angebot

Jeder Healing Room wird von ein bis zwei Dutzend Betern getragen, in der Regel Angehörige pentekostaler Kirchen oder des charismatischen Flügels von Freikirchen; vereinzelt sind auch evangelische Landeskirchler und Katholiken dabei.10 Der HRD „versteht sich als Impulsgeber und Versöhner zwischen den Denominationen“11. Praktisch beschränken sich die Impulse wohl auf die Zusammensetzung der Gebetsteams. Der Healing Room Hanau ist Mitglied der örtlichen Evangelischen Allianz, weitere Mitarbeit in ökumenischen Strukturen scheint es nicht zu geben.

Über zwei Drittel der Patienten und auch der Mitglieder der Gebetsteams sind Frauen. Voraussetzung für die Mitarbeit im Team ist neben der Übereinstimmung mit der Theologie der Healing Rooms (pentekostale Pneumatologie mit Anklängen an die Heiligungsbewegung) die Empfehlung des eigenen Gemeindepfarrers und die Teilnahme an den Kursen, die die „Grundlagen biblischen Heilens“ vermitteln. Die Leitung liegt bei einem zweiköpfigen Leitungsteam (möglichst ein Mann und eine Frau). Die Zahl der Beter hat überall stark abgenommen, von 30 bis 40 zur Gründungszeit auf heute knapp die Hälfte. Man führt das weniger auf eine abnehmende Attraktivität des Konzepts als auf Abwanderung in neu gegründete Healing Rooms zurück.

Die Healing Rooms vergleichen ihr Angebot explizit mit einer ärztlichen Tätigkeit und bezeichnen ihre Besucher meist als „Patienten“. Das Selbstverständnis als geistliche Heilungspraxis kann bis in die Raumgestaltung hineinwirken. Manche Einrichtungen gleichen einer Arztpraxis mit Wartezimmer, Anmeldetresen, Anamnesebögen und Behandlungszimmern. Dabei beruft man sich auf Ex 15,26, das als „Ich bin der Herr, dein Arzt“ übersetzt wird. Versprochen wird Großes: „Heilungsräume sind Räume, in denen Teams aus ganz normalen Christen für die körperliche und seelische Gesundung der Besucher beten. Dabei bleiben Spontanheilungen – man könnte sie auch Wunder nennen – nicht aus. In der Geschichte der Heilungsräume sind ohne Übertreibung Tausende von dokumentierten Heilungen vorzufinden.“12 Im Wartebereich können von Kranken verfasste Heilungszeugnisse (die Bandbreite reicht dabei von Verspannungen bis zu Krebs und chronischen Erkrankungen) auf Zetteln ausgehängt werden. Kranke können auch viele Dutzend Mal wiederkommen, bis sie geheilt sind. Es wird also nicht ausschließlich auf Spontanheilungen gesetzt, obwohl diese werbetechnisch im Vordergrund stehen.

Die Anmeldungszettel ähneln ärztlichen Anamnesebögen. Sie fragen nach Personendaten, Gemeindezugehörigkeit, derzeitiger ärztlicher oder therapeutischer Behandlung sowie dem Gebetsanliegen. Ausführlich wird erklärt, dass der Healing Room keine medizinische Behandlung darstelle oder ersetze, das Personal keine medizinische Ausbildung habe und niemandem von ärztlicher Behandlung oder Medikamenteneinnahme abgeraten werde. Diesen Abschnitt und einen Haftungsausschluss müssenPatienten unterschreiben.

Healing Rooms stehen jedem offen, neben Christen jeder Konfession auch Angehörigen anderer Religionen oder Atheisten. Nach der Anmeldung wartet der Patient im Wartezimmer. Dort kann es vorkommen, dass jemand schon leise für ihn betet und ihn dabei mit Öl salbt (nach Jak 5,15). Die eigentlichen Heilungsgebete geschehen in Separees. Der Patient sitzt auf einem Stuhl, das zwei- bis dreiköpfige Gebetsteam steht bzw. sitzt neben ihm, in der Regel wird eine Hand auf die Schulter oder ein krankes Körperteil gelegt. Gleichzeitig mit den direkt Beteiligten beten im Nebenraum mehrere andere für die Erhörung des Gebets. Da gelegentlich auch intime Körperstellen betroffen sind, legt man zur Vermeidung von Übergriffen oder Peinlichkeiten Wert darauf, dass Patient und Gebetsteam vom gleichen Geschlecht bzw. ein Mann und eine Frau beteiligt sind. Aus dem gleichen Grund widmen sich dem Patienten immer mindestens zwei Betende. Insgesamt erscheint der Umgang durchweg diskret, behutsam und im Hinblick auf mögliche Übergriffe problembewusst.

Das bis zu halbstündige Gebet ist individuell – Name und persönliche Informationen des Patienten werden ausführlich genannt – und betont unspektakulär. Nüchtern in Ton und Formulierung wird Gott an seine Zusagen erinnert. Oft wird die Krankheit angeredet und ihr geboten, den Menschen zu verlassen. Der Patient bleibt meist passiv, nur gelegentlich ergibt sich ein Gespräch. Beim Erstkontakt hat das Gebetsteam nur die schriftlichen Informationen auf dem Anmeldebogen. Es wird Wert darauf gelegt, dass alles Besprochene „wie bei jedem Arzt“ der Schweigepflicht aller Beteiligten unterliege. Interessanterweise wird also auf die ärztliche, nicht die seelsorgerliche Schweigepflicht rekurriert.

Eine Besonderheit ist das „Bebeten“ von Tüchern. Dabei wird vom „Team dafür gebetet, dass Gott seine Heilungssalbung in dieses Tuch importiert“13. Die Tücher werden dann Patienten zum Auflegen mitgegeben oder sie werden verschickt.

Evangelistischer Anspruch

Nach Helmut Schank (Hanau) sind Spontanheilungen selten und nicht unbedingt wünschenswert, weil sie nicht zu einer Verhaltensänderung des Kranken im Sinne einer christlichen Lebensorientierung führen. Ähnlich sei es beim Arzt: Bei längerer Krankheitsdauer sei es ja auch wahrscheinlicher, dass empfohlene Verhaltensänderungen eingeübt und später beibehalten werden, als wenn die Heilung schnell geschehe. Eine solche christliche Lebensorientierung ist aber durchaus Ziel der Healing Rooms, denn sie sehen sich auch evangelistisch und als kirchlichen Neubeginn. Sie sehen „die Chance durch Heilung die Menschen anzusprechen, die einen liebenden Vatergott nicht kennen und die Wahrheit über Jesus Christus nicht kennen“14, und sie in die Nachfolge zu rufen.

Konkret werden Patienten ermuntert, sich in ihrer Gemeinde zu engagieren – sofern dort „der Geist des Glaubens lebendig ist“.15 Dabei hat man extrem hohe Erwartungen an das Wachstum der eigenen Bewegung ebenso wie der Kirche: „Eine neue Bewegung von Zeichen und Wundern ist dabei zu entstehen. Heilungsräume und -zentren werden in vielen Städten eingerichtet werden, wo für die Kranken gebetet wird und böse Geister ausgetrieben werden, genau wie Jesus die Siebzig in Lukas 10 beauftragte. Wir werden Scharen von Menschen sehen, die von den unterschiedlichsten Krankheiten geheilt wurden ... Diese Bewegung Gottes wird so machtvoll sein ..., dass sie Stadien mit ihren Anbetungs-Festivals füllen werden.“16

Die Realität ist nüchterner. Healing Rooms haben nach eigener Aussage kaum Informationen darüber, wie es mit ihren Patienten weitergeht, sowohl spirituell wie gesundheitlich. Viele kommen nach ersten Besuchen einfach nicht wieder, sodass man nie erfährt, ob sie gesund wurden oder nicht und ob sie sich fortan zu einer Gemeinde halten. Soweit bekannt, scheint das aber eher selten der Fall zu sein. Auch geben die wenigsten nach ihrer Heilung ein Zeugnis auf den vorgedruckten Blättern ab, das ausgehängt oder im Internet veröffentlicht werden kann. Die von den Teams als ernüchternd beschriebene Erfahrung geringer Rückmeldung wird durchgängig im Lichte der zehn geheilten Aussätzigen gedeutet, von denen auch nur einer zu Jesus umkehrte, um Gott zu preisen (Luk 17,11ff).

Es ist nicht erkennbar, dass größere Anstrengungen gemacht werden, den behaupteten evangelistischen Erfolg konkret zu erfassen. Zweifelhaft ist auch, ob die letztlich kurzen Kontakte, die ja eher ein Gebet für denn ein Gespräch mit den Patienten darstellen, geeignet sind, auf eine Hinwendung zu einer Gemeinde hinzuwirken.

Theologische Ausrichtung

Bei den Healing Rooms handelt es sich um eine Laienbewegung. Ihre Theologie ist nicht systematisch dargestellt und muss aus Kleinschriften, Gesprächen und Praxisbeobachtungen erhoben werden. Einige Bücher werden häufig zustimmend zitiert, allen voran „Wie wir geheilt werden können“ von Christoph Häselbarth und Peter Riechert. Einige der wenigen expliziten Darstellungen stehen unter der Überschrift „Unsere Glaubensgrundsätze“: „Wir glauben, dass die Bibel das von Gott inspirierte Wort Gottes ist ... Wir glauben, dass das Wort Gottes die Medizin zur Heilung ist ... Wir glauben an die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus ..., sein vergossenes Blut nicht nur für Sünde, sondern auch für Krankheit (Jesaja 53:4) ... Wir glauben an den gegenwärtigen Dienst des Heiligen Geistes, durch dessen Unterstützung ein Christ in der Lage ist, ein gottgefälliges Leben zu führen, und durch den er ermächtigt ist ‚größere Taten’ als Jesus zu tun ... Wir glauben, dass dies ein grundsätzlicher Dienst ist, in dem die ganze Gemeinde (Leib Christi) zusammen kommen kann, um die ganze Gemeinde, Stadt und Nation zu heilen.“17 Hier wird deutlich, dass alle grundlegenden theologischen Topoi auf die Geistesgaben, insbesondere das eineThema Krankheit, Heilung und Heilungsgebet hin gedeutet werden. In der Praxis spielen die sparsamen Aussagen über Trinitiät, Kirche und Bibel keine Rolle. Dementsprechend wird das Wort Gottes als „Medizin“ bezeichnet, der Kreuzestod gilt als nicht nur für die Sünde, sondern gleichermaßen für die Krankheit der Menschen geschehen, und Heilung ist der Kern der Charismen.

Die Grundlage des Heilungsgebets liegt in der Überzeugung, Jesus habe am Kreuz „die Krankheit besiegt“ und der Gläubige könne „diesen Sieg in Anspruch nehmen“. Dabei wird von der Überwindung des Todes auf die Überwindung der Krankheit geschlossen. „Gott hat seinen einzigen Sohn, Jesus, in die Welt geschickt, damit dieser am Kreuz alle Sünde und alle Krankheit auf sich nimmt und sie überwindet. Jesus hat den Tod und damit auch alle Krankheit besiegt.“18 Eine solche Deutung wird durch eine Verknüpfung von Jesu Zeichen (Wundern) und der Überwindung des Todes durch Kreuz und Auferstehung hergeleitet. Diese Festlegung ist eine ausgesprochene Engführung. Es gibt zwar im Neuen Testament Heilungsaufträge (z. B. Mk 6,7-13, nicht aber Mt 28,18-20) – aber keineswegs so, dass hier der Kern der christlichen Botschaft läge. Es gibt keinen gleichberechtigten Auftrag an die Gemeinde zu heilen und zu predigen, sondern Heilungen begleiteten bei Paulus und der Urgemeinde die Predigt bisweilen (Apg 3,1ff; 14,8ff).

Die Healing Rooms sind von einer umfassenden Siegestheologie geprägt, die das menschliche Glück und Wohlbefinden als „Leben in Fülle“ in die Mitte stellt. Dabei wird neben Gesundheit ein nach weltlichen Maßstäben gelingendes Leben in Aussicht gestellt. „Wir sind zum Sieg bestimmt. Nicht als Sieger geboren, aber zum Sieg bestimmt. Und Gott, unser Schöpfer, hat uns mit allen zum Sieg nötigen Potenzialen ausgestattet ... Du kannst für deine Umgebung ein Segen sein oder eine Belastung.“19 Dazu passen typische Titel von Seminar­angeboten: „1. Ein Leben in Gesundheit. 2. Beauftragt zu heilen. 3. Lebe deinen Traum. Ziele setzen und erreichen. 4. Erneuertes Denken – größere Autorität. 5. Mehr Power für den Alltag. 6. Mehr Lebensqualität. Genieße dein Leben.“20

Alle diese Angebote könnten sich wortwörtlich ebenso gut bei esoterischen Anbietern oder auf dem Psychomarkt finden. Auch die Inhaltserläuterungen kommen oft ohne Christus- oder Gottesbezug aus und betonen besonders die menschliche Anstrengung und das „positive Denken“: „Ob die Zukunft erfolgreich für dich wird, liegt ganz allein in deiner Hand! ... Fazit: Nimm dein Leben in die Hand. Schau nicht zurück. Heute ist ein neuer Tag, und alle Potenziale, die für ein siegreiches, erfülltes Leben notwendig sind, liegen in dir.“21 Geschlossen wird das aus Psalm 91, der als „Gottes Schutzbund“ gilt. „Ps 91 ... ist wie ein Bund oder Vertrag, der uns schützt. Gott bietet uns einen Bund zum Schutz vor jeder Art von Schaden, der einer Person zustoßen kann – Krankheit, Unfälle, Krieg, Naturkatastrophen – es gibt nichts, was nicht abgedeckt ist.“22

Hier vermischen sich theologische (Bund) und juristische (Vertrag) Termini. Gott wirkt dadurch wie eine Versicherung, die nicht nur die Folgen eines Schadens lindert, sondern dessen Eintreten verhindert. Dabei ist ausdrücklich auch an Bewahrung vor menschlich zugefügtem Schaden (Verbrechen) gedacht. Auch Krankheit gehört grundsätzlich nicht zum Leben, denn jeder Mensch könne eigentlich 120 Jahre alt werden (Gen 6,3).23 Dadurch wird die christliche Existenz völlig auf weltliche, materielle Glücksversprechen reduziert. Für Christen werden Gesundheit, Wohlstand, Macht, Langlebigkeit, Glück und Wohlbefinden als Normalfall und höchstes Ziel postuliert, und Gott ist der Garant dafür.

Die Fülle dieser Versprechen ist offensichtlich unbiblisch, ja, selbst Heilung ist dort kein Normalfall. Neutestamentliche Heilungen sind weit differenzierter, als bei den Healing Rooms angenommen wird, nämlich Zeichendes Reiches Gottes und Messiaserweise. Das heißt, es geht um weit mehr als um körperliche Gesundheit. Es gibt dort auch keinerlei Automatismus der Heilung. Mangels Glauben konnte Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth nur wenige Taten tun (Mk 6,5par). Paulus bat dreimal um Heilung – jedoch ohne Erhörung (2. Kor 12,7-9). Auch seine Mitarbeiter sind öfter krank (1. Tim 5,23; 2. Tim 4,20).

Hier hinken die Healing Rooms sogar der frühen Pfingstbewegung hinterher, die aus der Erfahrung, dass bei Massenevangelisationen niemals alle Kranken geheilt werden, ein neues Heilungsverständnis entwickelte. Man nahm nun ernster, dass nirgends im Neuen Testament ein generelles Heilungsversprechen abgegeben wird.24 Der Triumphalismus der Healing Rooms macht wesentlich optimistischere Aussagen und behauptet, diese würden durch wissenschaftliche Studien, Anerkennungen durch renommierte Ärzte und medizinische Einrichtungen etc. belegt (die nie zitiert werden können). Damit schließt man sich ohne Not in das szientistische Paradigma ein, demzufolge nur das als „wahr“ betrachtet werden kann, was naturwissenschaftlich beweisbar ist. Man übersieht dabei, dass viele Bereiche menschlicher Existenz- und Welterfahrung aus dem Blick geraten.

Es ist nicht fraglich und nicht überraschend, dass viele Besucher von Healing Rooms Heilungen erfahren, denn fast alle menschlichen Krankheiten sind selbst-limitierend, d. h. sie enden auch ohne Arzt von alleine. Ein weiterer Anteil verschwindet nach schulmedizinischer Intervention. Es ist bekannt, dass sogar manche Krebsarten relativ hohe unerklärte Spontanheilungsraten kennen. Es gibt aber keinen nachweisbaren ursächlichen Zusammenhang zwischen Religiosität, Gebet und Heilungen. Gott bleibt entgegen den Wünschen der Healing Rooms unverfügbar und unbeweisbar. Ein Christ wird seine Heilung dankbar als Zuwendung Gottes deuten und damit die Erfahrung, die auch Nichtchristen machen, sozusagen „taufen“.

Dieses Herangehen genügt aber nicht, Healing Rooms stellen immer das Heilungswunder als übernatürliches, rational unerklärtes Ereignis in den Vordergrund. Zwar wird im Gespräch betont, dass Heilung auch graduell geschehen könne, doch ist die Außendarstellung auf spektakuläre Wunderberichte konzentriert.25 Dahinter stehen der Wunsch, Gott beweisbar zu machen, und eine Geringschätzung des Handelns Gottes innerhalb weltlicher Parameter. Dass Gottes Tun sich in der ärztlichen Kunst genauso wunderbar zeigen könne wie in einem übernatürlichen Ereignis, kommt kaum in den Blick. Teilweise gilt Glaube geradewegs als das Fürwahrhalten von Wundern.

Das führt zu einem Problem. Wenn man annimmt, mehr Glaube bewirke größere Heilungsmacht des Geistes, ist es naheliegend, zu der Überlegung zu gelangen, es bedeute mehr Glauben, wenn auf jede andere Hilfequelle verzichtet wird. Wie steht es also mit dem Verhältnis von Healing Rooms und ärztlicher Behandlung? Die Aussagen sind ambivalent, und schriftliche und mündliche Quellen divergieren. Healing Rooms stellen sich selbst als Ergänzung, nicht als Konkurrenz zum Arzt dar. Es sei „wichtig, dass Besucher der Heilungsräume nicht ihre Medikamente absetzen oder ihre Therapien abbrechen. Das sollte erst nach Rücksprache mit dem Arzt erfolgen, z. B. wenn eine Heilung in den Heilungsräumen geschehen ist und diese auch ärztlich bestätigt wurde.“26 Entsprechendes muss der Besucher auf dem Meldebogen unterschreiben. Aber Healing Rooms ähneln in Ziel, Raumgestaltung und Terminologie der ärztlichen Praxis und sehen das Gebet gleichrangig als eine Methode, die neben „schulmedizinischen und alternativen Behandlungsmethoden“ in der Lage sei, „Genesung und Heilung von Krankheiten erfolgreich zu unterstützen und zu beschleunigen“.27

Wilfried Schürenberg (IAHR), selbst Arzt, beschreibt das Verhältnis zur Schulmedizin so: Es sei schwer, gleichzeitig in zwei Richtungen zu blicken. Wer auf die Symptome und die innerweltlichen Ursachen und die schulmedizinischen Heilungsansätze starre, der werde nicht frei, allein auf Jesus zu blicken und von ihm Heilung zu erbitten. So wie Petrus, der in dem Moment zu sinken begann, als er auf die Wellen sah statt auf Jesus (Matth 14,30), stehen heutige Kranke vor der Alternative, wohin sie blicken möchten. Man könne also kaum gleichzeitig dem Arzt und der Heilung durch Gott vertrauen.

Hier besteht eindeutig eine Alternative zwischen beiden Heilungs-„Methoden“. Das steht in direktem Widerspruch zu dem öffentlich Gesagten, passt aber zu den durch die Healing Rooms unkommentiert publizierten Heilungsberichten, wo Geheilte den Verzicht auf medizinische Behandlung als Ausweis von Glaubensstärke und Heilungsvoraussetzung bekennen. Die genannten Passagen auf dem Anmeldebogen dienen anscheinend eher dem Haftungsausschluss, als dass sie auf echter Überzeugung beruhen.

Schriftverständnis und Gottesbild

Eigentümlich ist das Verhältnis der Healing Rooms zur Bibel. Das Schriftverständnis ist unhistorisch und eklektisch. Zunächst wird jeder Abstand zur Gegenwart übersprungen, denn Gott sei „derselbe gestern, heute und morgen“. Daher werden alle Zusagen Jesu an die Apostel ungebrochen als an heutige Christen gerichtet verstanden, ohne dass dies hermeneutisch reflektiert wird. Hier liegt ein unprotestantisches Schriftverständnis zugrunde, eine Apotheose des schriftlichen Wortes unter Absehung von der Geschichtlichkeit der Offenbarung, die methodisch das Wort Gottes verharmlost und den Menschen verfügbar macht.

Dem entspricht der praktische Umgang. Die Bibel wird nur auf das Heilungsthema hin gelesen. Klagepsalmen, menschliches Leiden und Scheitern, Reue und Willensänderungen Gottes, sein manchmal für Menschen unverstehbares Handeln werden ausgeblendet. Das Skandalon des Kreuzes, die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu werden auf den „Sieg über Krankheit“ reduziert. Der Umgang mit der Bibel ist fast willkürlich und oft sogar im Wortlaut frei. In der Broschüre „Liebesbrief vom Vater“ des Healing Rooms Hanau (2009) werden ca. 60 kurze Satzteile zu einem fortlaufenden Text Gottes an den Leser zusammengefügt. Jeder dieser Satzfetzen wird mit einer Stellenangabe ergänzt. Beim Nachschlagen wird klar, dass es keine Zitate aus der Bibel sind, sondern Paraphrasen und Assoziationen. So steht unter den vier Worten „Du bist kein Fehler...“ als Stellenangabe „Ps 139,15“. Das Original jedoch lautet: „Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde.“ Das Verfahren ist irreführend, denn der Leser nimmt an, echte Zitate vor sich zu haben. Außerdem domestiziert diese hermeneutische Methode die Schrift, indem man sich buchstäblich einzelne Halbsätze herausgreift, sie paraphrasiert und dann im Sinne dessen zusammenfügt, was man hören möchte.

Dem korrespondiert das Gottesbild. Gott erscheint fast wie eine Wunscherfüllungsmaschine, die Heilung geben müsse, weil er es ja versprochen habe. Hier wird Gott teilweise zum Heilmechanismus, der ähnlich wie die Geistenergie des Reiki dem Praktizierenden verfügbar ist. Heilung ist fast vorhersagbar und abrufbar und gewinnt beim „Hineinbeten der Heilungssalbung“ in Gegenstände magischen Charakter.28

Wer dagegen mit Gottes Freiheit rechnet oder sie gar benennt, beweist Unglauben. Hierzu werden sogar explizit biblische Zitate abgelehnt. „Ein Gebet, das mit ‚... wenn es dein Wille ist ...’ endet, macht das Empfangen einer Heilung von Gott ziemlich unwahrscheinlich, da solch eine Aussage ein Ausdruck von Unglaube ist.“29 Dass Gott auf Gebete auch anders reagieren könne, als wir es uns vorstellen, wird verneint: „Gott ist frei, er kann natürlich alles, aber eines kann er nicht! Sein Wort brechen. Gott kann nicht sein Wort brechen und zum Lügner werden. Er hat uns Leben in Fülle und Gesundheit versprochen!“30 So wie Ps 91 als Vollkaskoversicherung für das Leben gelesen wird, vernachlässigt die triumphalistische Theologie der Hea­ling Rooms die Inkarnation Gottes und die Kreuzestheologie, die eben nicht nur in die Auferstehung und den Sieg über den Tod führen, sondern zunächst einmal mit dem Hineingehen Gottes in die Niedrigkeit und Machtlosigkeit Ernst machen.

Vom Heilungsgebet zum Befreiungsdienst

Die Healing Rooms sehen den Grund für die fortdauernde Existenz von Krankheiten in zwei Faktoren: menschliche Schuld und dämonische Aktivität. Demnach liegen die Krankheitsursachen in der Regel im geistigen und seelischen Leben des Kranken. „Häufig kann die Schulmedizin nicht helfen, da die eigentliche Ursache hinter Tumoren/Krebs sehr oft seelische Verletzungen/Wunden sind, diese kann am besten Jesus Christus heilen.“31

Insofern eine schwere Krankheit auch mit anderen seelischen Problemen einhergehen kann, die zu bearbeiten sinnvoll wäre, kann der Umkehrruf, sich zu erforschen und sein Leben zu ordnen, hilfreich sein. Die Healing Rooms gehen aber weiter und sehen die Ursacheder Krankheit in sündhafter mangelnder Versöhnungsbereitschaft in den eigenen Lebenszusammenhängen, letztlich also in einer Schuld des Patienten. Wird jemand nicht gesund, so liegt das häufig an seinem Wollen. Er will dann unbewusst gar nicht geheilt werden, möglicherweise weil er emotionalen oder anderen Gewinn aus Krankheit oder Behinderung zieht. Teilweise werden Krankheitsursachen noch konkreter benannt. So könne Brustkrebs durch „Bitterkeit, besonders gegen den Ehemann“ sowie durch „Ehebruch, außereheliche Sexualität“ hervorgerufen werden. „Hartherzigkeit und Egoismus“ können zu Multipler Sklerose führen, wer „über etwas verschnupft oder gekränkt ist“, kann eine Nasennebenhöhlenentzündung bekommen.32 Auch „Selbstverfluchungen“ stehen manchmal hinter Krankheiten. So finde man bei Krebskranken des öfteren bei der Vergangenheitserforschung Momente, wo der Kranke in einer verzweifelten Situation zum Beispiel dachte: „Ich wünschte, ich wäre tot!“ Der spätere Krebs sei nun die Auswirkung davon.33

Die Rückführung von Krankheiten auf menschliche Sünden ist unbiblisch, einen solchen Tun-Ergehens-Zusammenhang lehnen das Buch Hiob und Jesus ausdrücklich ab (Joh 9,2).34 Die genaue Zuordnung bestimmter „Sünden“ zu bestimmten Krankheiten ist zudem geeignet, kranke Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen und sie Verdächtigungen über ihren Lebenswandel auszusetzen. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Einstellung zu einer zugewandten, annehmenden Seelsorgepraxis führen kann. Die Theologie der Healing Rooms macht den Kranken zum Schuldigen, das Opfer zum Verursacher seines eigenen Leids. Das ist umso problematischer, als es explizit auch für die Folgen von Naturkatastrophen oder Verbrechen gelten soll. Die meisten Patienten kommen vermutlich einfach nicht in die Healing Rooms zurück, wenn sie mit der Schuldzuweisung für die eigene Krankheit nicht einverstanden sind.

Ähnlich wie in der Esoterik liegt hier ein Leib-Geist-Dualismus zugrunde, eine Weltsicht, in der der Körper das Äußerliche ist, das „eigentliche“ Sein aber auf geistiger Ebene liegt. Über die Esoterik hinausgehend werden die geistigen Vorgänge aber auch personalisiert, und man gelangt vom Heilungsgebet zum Befreiungsdienst. Zwar nicht breit entfaltet, aber deutlich lehren die Healing Rooms einen Dualismus, demzufolge die Welt und das menschliche Leben Schauplatz eines Kampfes zwischen Gott und „dem Feind“ seien. So ist das Thema „Selbstverfluchung“ ein Hinweis auf die schwer fassbare, teilweise unterschwellige Dämonenlehre.

Man ist vorsichtig mit expliziten Äußerungen und aufseiten der normalen Gebetsteam-Mitglieder auch mit der Praxis von Exorzismen; diese sind Leitungssache. Klar ist aber: Hinter Krankheit steht der Teufel. „Schließlich kämpfen wir nicht gegen die Krankheiten an sich, sondern gegen die Mächte und Gewalten, die hinter den Krankheiten stehen. ‚Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit in der Himmelswelt’ (Eph 6,12).“35

Heilung als einzige Antwort auf Krankheit?

So wie tendenziell der Kranke selbst für seine Krankheit verantwortlich ist, und sei es indirekt, indem er Einfallstore für Dämonen öffnet, ist er teilweise auch durch seinen Glauben für Heilung oder Nichtheilung verantwortlich, insofern Glaube Voraussetzung für Heilung ist. Die Aussagen darüber, wessen Glaube entscheidend für die Heilung ist, sind allerdings widersprüchlich. Für Helmut Schank ist der Glaube des Patienten nicht entscheidend, ja geradezu unwichtig. „Es kommt ja auch beim Arzt auf die Fachkenntnis des Arztes an, nicht auf die des Patienten.“ So sei denn auch das Heilungsgebet durch den Glauben des Beterswirkmächtig, nicht durch den des Patienten. Im Healing Room Augsburg legt man mehr Gewicht auf den Glauben des Patienten. Demnach helfen Gebete eigentlich immer, wenn jemand eine rechte Gottesbeziehung hat. Mangelnder Glaube kann also die Heilung ver- oder behindern.

Was aber, wenn Heilung ausbleibt? Diese seelsorgerlich und existenziell zentrale Frage bleibt in den Selbstdarstellungen der Healing Rooms offen. Aber auch Healing Rooms machen die Erfahrung, dass Menschen an einer Krankheit sterben. Die Ursache wird bisweilen allgemein in Gottes Freiheit, meist aber konkreter in Glaubensmängeln gefunden: „Der Hauptgrund, der Heilung verhindert, wird sein, dass wir zu wenig an Heilung glauben und zu wenig mit Heilung rechnen.“36 Manchmal heißt es auch, dass Patienten, die nicht gesunden, einem Irrtum aufsitzen, die Krankheit also ein Schein sei, dem man durch positives Denken begegnen müsse.37 Es scheint, dass nicht nur die ausbleibende Heilung auf Glaubensmängel zurückgeführt wird, sondern schon die Beobachtung, man sei noch immer krank, als Unglaube diskreditiert wird. In Wirklichkeit sei man ja nur „scheinbar“ nicht geheilt und mache daher Gott zu Unrecht Vorwürfe. Hier entsteht Konformitätsdruck.

Aber auch in diesem Punkt gibt es einen Unterschied zwischen harten schriftlichen Aussagen und tatsächlicher Praxis. Im Gespräch entdeckt man zudem eine Differenz zwischen Leitern und Mitgliedern der Gebetsteams. Während das Ehepaar Schürenberg und Helmut Schank den Tod trotz Gebets kaum diskutieren wollen, berichtet das Neu-Anspacher Team auch von Fällen, in denen ihr Gebet eine Sterbebegleitung war. Das wird dann zwar als Anfechtung beschrieben, aber auch als tröstliche Erfahrung versöhnten Sterbens. Das spricht für eine stärkere Einfühlsamkeit in der Praxis als in der Theologie, auf der sie fußt.

Eigentümlich ist das Verhältnis zwischen Healing Rooms und Kirche. Die theologische Engführung ermöglicht es den Healing Rooms, sich völlig gemeindeunabhängig zu organisieren und thematisch zu konzentrieren. Das verstärkt aber auch die Wirkung ihrer Theologie, die Krankheit so sehr aus dem christlichen Leben ausgrenzt, dass die Kirche im Grunde kein Ort für Kranke und Behinderte mehr ist, weil für sie in dieser Theologie kein Platz vorgesehen ist.

Dagegen erscheint im Neuen Testament die Gemeinde als heilende Gemeinde – aber nicht nur in therapeutischer, sondern auch in diakonischer Hinsicht. Heilung ist mitnichten die einzige Antwort auf Krankheit. Es gibt dort zahlreiche Kranke, die besucht und versorgt, aber nicht geheilt werden (z. B. Matth 25,36). Nur nebenanderen gibt es auchdas Charisma der Heilung (1. Kor 12), teils in Form eines Amtscharismas (Jak 5: Die Ältesten legen die Hände auf, nicht begabte Einzelne). Das Kriterium zur Beurteilung dieses wie aller Charismen ist die Auferbauung der Gemeinde. Gerade das aber wird in der gemeindeunabhängigen Bewegung nicht eingelöst. An diesem Punkt entfernen sich die Healing Rooms entschieden vom biblischen Heilungsverständnis. Heilung gewinnt dort seinen Wert erst dadurch, dass es in der Gemeinschaft der Gotteskinder stattfindet. Es ist also gerade keine losgelöste Aktivität, die einzelne Gläubige oder Gruppen unabhängig von der Gottesdienst feiernden Gemeinde ausüben könnten.

Healing Rooms als Krankenseelsorge

Heilungsangebote jenseits des Arztes haben Konjunktur.38 Sie stellen auch Fragen an die kirchliche Krankenseelsorgepraxis, die das Gefühl des machtlosen Ausgeliefertseins an den Medizinapparat oft nicht durchbricht.39 Unverkennbar sind daher in den letzten Jahren neben Anregungen aus der katholischen Tradition auch solche aus der charismatischen Bewegung in die evangelischen Kirchen eingeflossen (Segnungsgottesdienste, Salbung).

Das Angebot der Healing Rooms ist als Krankenseelsorge im weiteren Sinne zu betrachten, auch wenn sie sich selbst nicht so definieren. Aber ihr eigener „medizinischer“ Anspruch, Heilung zu bewirken, ist nicht belegbar und kann daher nicht direkt zur Debatte stehen, sondern nur insoweit er sich seelsorgerlich auswirkt und hinsichtlich der sich darin ausdrückenden Verkündigung.

Dabei ist ernst zu nehmen und als Anregung für kirchliche Seelsorge zu bedenken, dass viele Kranke das Angebot der Healing Rooms als hilfreich erleben. Deren größte Stärke ist ihre Zuwendung zum Einzelnen, die leisen Töne und die Niedrigschwelligkeit. Im Gegensatz zu vielen anderen pentekostalen Heilungsdiensten fehlt das spektakuläre Vorführen Kranker im Gottesdienst. Healing Rooms bieten vielmehr jedem Kranken eine intensive persönliche Zuwendung, die seine Sehnsucht nach Heilung absolut ernst nimmt. Mehrere Personen sind bereit, beliebig oft ausführlich und eindringlich unter Handauflegung für mich zu beten! Und zwar explizit um Heilung, nicht nur um Kraft zum Ertragen der Krankheit.

Offenbar ist diese Zuwendung für manche Menschen genau das Richtige. Hier herrscht absolute Solidarität im Aufbegehren gegen die Krankheit, wie es gerade in der Frühphase typisch ist. Diese Menschen erleben die buchstäblich „zupackende“ und selbstgewisse Form von Krankengebet als heilsam: „Hier ist es ganz speziell, weil die Leute ... wirklich, ja, die tun das nur.“40 Auch einige Todkranke können diese Form des Gebets wertschätzen und nach eigener Aussage „versöhnter sterben“.


Kai Funkschmidt


Anmerkungen

1 Zitat von www.chz-online.de (die angegebenen Internetseiten wurden zuletzt am 10.2.2012 abgerufen, sofern nicht anders angegeben). – Dieser Beitrag geht auf eine umfangreichere Forschungsarbeit des Autors im Rahmen des EZW-Curriculums für Religions- und Weltanschauungsfragen zurück.

2 „Healing Rooms“ wird meist im Plural verwendet.

3 Grundlage der folgenden Ausführungen sind (neben schriftlichen Quellen und Medienquellen) Gespräche 2009 und 2010 mit den Leitern der Healing Rooms Hanau (Schank), Neu-Anspach (Funke, Strabel, Hoppert) und Augsburg (Ehepaar Schürenberg).

4 www.healingrooms.de/glaubensgrundsaetze.html

5 www.healingrooms.de. Die Behauptung wird oft zitiert, ohne dass sich irgendwelche Belege finden.

6 Gespräch Schürenberg (s. Anm. 3). Ob diese Initiative mit den Kirchen und ökumenischen Organisationen in Indien abgestimmt ist, war ihm nicht bekannt.

7 Der Healing Room Hanau heißt seit 2009 „Christliches Heilungszentrum“. „Wir wurden gelegentlich gefragt, ob wir heilende Räume hätten. Das war uns zu esoterisch“, erklärt Helmut Schank. Dass dieses groteske Missverständnis tatsächlich vorkommt, zeigt die Anmoderation eines Berichts über den Healing Room Hanau in der „Hessenschau“ des Hessischen Rundfunks am 13.10.2005 (online abrufbar).

8 Hier werden „geistlich tote“ und „geisterfüllte“ Gemeinden unterschieden. Dieses einfache Entweder-Oder-Denken zeigt sich auch in den Anmeldebögen, wenn nach „Verheiratet Ja/Nein“ und „Kinder Ja/Nein“ im selben Duktus auch gefragt wird: „Sind Sie mit dem Heiligen Geist erfüllt? Ja/Nein“ und „Ist Jesus Herr in Ihrem Leben Ja/Nein“.

9 Nach eigenen Angaben ist er von der Krankheit, die die Frührente verursachte, durch das Gebet genesen.

10 Matthias Neff (Zum Selbstverständnis und Konzept der „Healing Rooms Deutschland e.V., Stellungnahme für katholische Einrichtungen im Bistum Trier, unveröff. Typoskr., 9.2.2010) kritisiert, dass es sich um eine rein innercharismatische Ökumene handle. Aber diese theologische Homogenität liegt ja im Thema begründet. Hierin unterscheiden sich die Healing Rooms nicht von anderen kirchlichen Single-Issue-Initiativen (z. B. Friedensgruppen). Ökumenizität verhindert nicht theologische Uniformität.

11 www.healingrooms.de

12 www.healingrooms.de/about.html.

13 Audio-CD „Göttliche Medizin für Geist, Seele + Körper“, hg. von Healing Rooms Hanau e.V. Für diese Praxis beruft man sich auf Matth 9,20-27; 14,36, Apg 19,11f.

14 www.healingrooms.de/hr_starten.html

15 Gespräch Funke, Strabel, Hoppert (s. Anm. 3).

16 www.healingrooms.de/glaubensgrundsaetze.html , nach J. Goll, Ministry to the Nations, Kanada o. J.

17 www.healingrooms.de/glaubensgrundsaetze.html

18 www.healingrooms.de/heilungsursache  (Hervorhebung im Original).

19 Flyer „Seminare Aug. – Okt. 2009“. Gesund – Stark – Frei. Fit für den Alltag. Ein Leben in Gesundheit, Hanau 2009.

20 Healing Room Hanau 2009.

21 Healing Room Hanau, Flyer „Seminare Aug. – Okt. 2009“.

22 Info-Brief des Christlichen Heilungszentrums Hanau vom 24.8.2010.

23 Gespräch Schank (s. Anm. 3).

24 Vgl. Peter Zimmerling, Charismatische Bewegungen, Stuttgart 2009, 98.

25 In den E-Mail-Rundbriefen des Healing Rooms Hanau beliebt z. B. YouTube-Videos von A. A. Allen, dem „Mann der Wunder“.

26 www.healingrooms.de.

27 www.healingrooms.de/aahrd/hr_main/main_content.htm  (11.10.2010).

28 Siehe Anm. 13.

29Christoph Häselbarth/Peter Riechert, Wie wir geheilt werden können, Solingen 52007, 18.

30 Gespräch Schank (s. Anm. 3).

31 Info-Brief des Christlichen Heilungszentrums Hanau vom 23.6.2010 (Hervorhebung im Original).

32 Christoph Häselbarth/Peter Riechert, Wie wir geheilt werden können, a.a.O., 147.

33 Gespräch Schank (s. Anm. 3).

34 Anders allerdings an Einzelstellen wie 1. Kor 11,30.

35 www.healingrooms.de/mitmachen.html.  „Wir glauben, dass Krankheit ein Werk des Teufels ... ist“, Christoph Häselbarth/Peter Riechert, Wie wir geheilt werden können, a.a.O., 14.

36 Ebd.

37 Ebd. 21: „Lernen Sie in Heilung und Gesundheit zu denken, statt in Schwäche, Krankheit, Selbstmitleid oder gar Vorwurf gegen Gott, der Sie scheinbar noch nicht geheilt hat“ (Hervorhebung K.F.).

38 Vgl. z. B. die EZW-Texte 181 und 199.

39 Von Patienten wird „das Gespräch mit dem Pfarrer sehr selten als hilfreich empfunden“, Ursula Schreiter-Gasser/Hedwig E. Haske-Pelsoeczy, Spiritualität und Religiosität als therapeutische Ressource in der Alterspsychiatrie, in: Peter Bäurle u. a. (Hg.), Spiritualität und Kreativität in der Psychotherapie mit älteren Menschen, Bern 2005, 301.

40 Besucher Christian Stein in: Sendung des Hessischen Rundfunks 5.10.2010.


Literatur und Quellen

Audio-CD „Göttliche Medizin für Geist, Seele + Körper“ mit Textbuch + Gebetsbuch, hg. von Healing Rooms Hanau e.V. (2009 od. früher)

Bachofner, Thomas/Lamprecht, Harald, Pro und Con­tra Healing Rooms, „Wir haben etwas gegen Krankheit“. Healing Rooms machen mit beim Gesundheitskult, in: Psychotherapie und Seelsorge 1/2010, 38-40

Bially, Gerhard, Heilungsräume in Deutschland?!, in: Charisma 123 (2003)

Ehm, Simone/Utsch, Michael (Hg.), Kann Glauben gesund machen? Spiritualität in der modernen Medizin, EZW-Texte 181, Berlin 2005

Ehm, Simone/Utsch, Michael (Hg.), Wie macht der Glaube gesund? Zur Qualität christlicher Gesundheitsangebote, EZW-Texte, Berlin 2008

Häselbarth, Christoph/Riechert, Peter, Wie wir geheilt werden können, Solingen 52007

Hempelmann, Reinhard, Die Sehnsucht nach Heil(ung) in der heutigen Religionskultur, epd-Dokumentation 16/2005, 6-11

Hessischer Rundfunk, Hessenschau vom 13.10.2005 (TV-Sendung über Healing Rooms Neu-Anspach)

Lüchinger, Antoinette/Mack, Lothar, Internationale Vernetzung in Europa. 28.5. bis 1.6.2003: Europäische Heilungskonferenz (publ. 26.6.2003), www.jesus.ch/index.php/D/article/150-News  (11.10.2010)

Schreiter-Gasser, Ursula/Haske-Pelsoeczy, Hedwig E., Spiritualität und Religiosität als therapeutische Ressource in der Alterspsychiatrie, in: Bäurle, Peter u.a. (Hg.), Spiritualität und Kreativität in der Psychotherapie mit älteren Menschen, Bern 2005, 285-301

Warnecke, Maren, Sprechstundenhilfe Gottes. Heilungsräume Uelzen: Christen beten für Kranke/ Kostenloser Dienst, in: Allgemeine Zeitung Uelzen, 21.8.2007

www.healingrooms.de ; www.healingrooms.com