Heiko Ehrhardt

„Winnetou ist (k)ein Rassist“

Einige Anmerkungen zu einer notwendigen Diskussion

Einmal mehr, so scheint es, ist die abendländische Kultur in großer Gefahr. Nachdem bekannte Kinderbücher wie „Die kleine Hexe“ oder „Pippi Langstrumpf“ bereits von Begriffen, die als verletzend empfunden werden, befreit wurden – dies allerdings in milder Form, die kaum aufgefallen wäre, hätte es nicht entsprechende Kampagnen im Internet gegeben –, so steht nun das Werk Karl Mays auf dem Prüfstand.
Der Anlass freilich hat mit Karl May nur am Rande zu tun: Der Ravensburger Verlag veröffentlichte anlässlich des Films „Der junge Häuptling Winnetou“ ein gleichnamiges Buch sowie ein gleichnamiges „Erstlesebuch“. Beide Bücher wurden nach kurzer Zeit vom Markt genommen, wohingegen man den Film zumindest im hiesigen Kino bis zum Programmwechsel am 1. September noch sehen konnte. Unmittelbar nachdem der Ravensburger Verlag den Rückzug der Bücher bekanntgegeben und dies mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung und der Reproduktion rassistischer Stereotype begründet hatte, kam es in den sozialen Netzwerken zu einem ebenso heftigen wie unsachlichen Schlagabtausch. Dieser soll hier nicht dargestellt werden.1  Die Art und Weise, wie sich die Diskussionskultur im Zeitalter sozialer Medien verändert hat und noch weiterhin verändert, würde eine gesonderte Darstellung erfordern. Ebenso ist es nicht notwendig, Bücher und Film zu verteidigen. Beide Werke hätte niemand vermisst, wären sie nicht erschienen. Sinnvoll erscheint mir aber, einige grundlegende Bemerkungen zum Werk Karl Mays zu machen:

1. Karl May – und hier vor allem Karl May, wie er durch die Kinofilme der 1960er Jahre vermittelt wurde – gehört für die Generation „Ü50“ zum festen Bestandteil der Sozialisation: Es geht, so kann man ohne Übertreibung sagen, um einen Bestandteil des kollektiven Erlebens. Dies ist bei jüngeren Menschen nicht der Fall. Hier gehören Erfahrungen und Fragestellungen, die durch die Konfrontation mit einer globalisierten Welt und einer multikulturellen Gesellschaft vorgegeben sind, fest zur Biografie. Wohl auch deshalb läuft die Auseinandersetzung mit solcher Schärfe, weil es eine Auseinandersetzung zwischen Generationen ist.2

2. Wer im Werke Karl Mays Rassismus sucht, wird sehr schnell fündig. Dies kann weder beschönigt noch durch redaktionelle Arbeit aus der Welt geschafft werden: Dunkelhäutige Menschen, Juden, Araber, Chinesen, sie alle werden abgewertet – und das in der Regel mit stereotypen Aussagen und Bildern.
So ist die Jüdin Judith Silverhill (eigentlich Judith Silberstein, auch Silberberg), die in der „Satan und Ischarioth“-Trilogie auftaucht, sowohl verführerisch schön als auch ausschließlich an Geld interessiert und ebenso unethisch wie opportunistisch, solange sie sich einen finanziellen Vorteil davon verspricht. Ähnlich holzschnittartig ist die Darstellung dunkelhäutiger Menschen. „Masser Bob“ (sic!), ein im Bürgerkrieg befreiter ehemaliger Sklave wird zwar als herzensguter und mutiger Mensch dargestellt. Und die Geschichte, wie er in „Unter Geiern“ seine im Bürgerkrieg verlorene Mutter wiederfindet, geht zu Herzen. Zugleich wird aber breit und reichlich slapstickhaft dargestellt, dass er das Essen, das Weiße essen, nicht mag und lieber auf die Suche nach eigenem Essen geht. Dabei verwechselt er allerdings sein Jagdziel mit einem Stinktier, weshalb er über einen längeren Zeitraum von der Gruppe ausgeschlossen wird. Außerdem ist er ein ungeschickter Reiter, der immer wieder Gefahr läuft, vom Pferd zu rutschen.
Noch problematischer ist die Darstellung von „Sam“, einer Figur, die in Winnetou 2 vorkommt. Schon seine äußere Erscheinung – er trägt einen auffälligen Zylinder auf dem Kopf – lässt ihn reichlich lächerlich erscheinen. Vorgestellt wird er dann mit den Worten: „Dieser war zwar ein Schwarzer, stand aber an Begabung viel höher als gewöhnliche Leute seiner Farbe.3  Derartige, nach heutigem Verständnis indiskutabel rassistische Formulierungen kann man fast beliebig vermehren. Und selbst die Indianer4, die eigentlich unter allen nicht deutschen Völkern am höchsten stehen – dies wird z. B. deutlich, als Winnetou in „Krüger Bei“ eine kurze Zeit im Orient weilt –, benötigen einen deutschen Lehrer, um richtig edel zu sein.5  Dass Old Shatterhand dann im Grunde alle Indianer übertrifft und dass das Ziel Nscho-Tschis darin bestehen muss, so zu werden wie eine „weiße Squaw“, zeigt deutlich, dass Weiße, speziell Deutsche, der Richtwert für Entwicklung und Kultur sind.

Darüber hinaus muss man auch deutlich darauf hinweisen, dass durch die Werke von Karl May Stereotypen und Klischees vermittelt wurden, die bis heute fest in den Köpfen sitzen – gleichwohl aber vollkommen falsch sind. Dies beginnt schon bei dem Wort „Manitu“. Es ist ein zentraler Begriff der Algonkinsprache, die allerdings von den Mescalero-Apachen nicht gesprochen wurde. Diese verwenden den Begriff „Yusn“, der deutlich weniger personal ist als die Art, in der der Christ Karl May Manitu verstehen will.6  Ein zentraler Inhalt des May’schen Werkes wird damit seiner Grundlage entkleidet.

Ähnlich sieht es mit Praktiken aus, die wir bis heute – vermittelt durch Karl May – mit den Indianern verbinden: Skalpieren, der Marterpfahl,7  das Kriegsgeschrei und auch der Begriff „Squaw“ (auch dieser stammt aus der Algonkinsprache) haben wenig bis gar nichts mit den real existierenden Apachen zu tun.8  Es ist Zeit, sich dieses Denken abzugewöhnen.

3. Rassismus also, wohin man sieht? Diese Beurteilung geht deutlich zu weit. Gerade in „Winnetou 2“, dem Band, in dem „Sam“ vorkommt, gibt es deutliche Kritik an der Sklaverei, ebenso am damals entstehenden Ku-Klux-Klan und auch am europäischen Kolonialismus. Karl May steht eindeutig auf der Seite des indigenen mexikanischen Präsidenten Benito Juarez, für den Winnetou sogar als Geheimpolizist arbeitet. Maximilian, der von Napoleon III installierte „Kaiser von Mexiko“, wird deutlich abgelehnt und das Handeln Napoleons als europäische Intervention kritisiert.

Auch wenn May die reale Geschichte etwas romantisch-verkitscht wiedergibt, zeigt sich doch deutlich, wo seine Sympathien liegen: auf der Seite der indigenen Bevölkerung und ihres Selbstbestimmungsrechtes. Und dass die Gruppe von Personen, die am undifferenziertesten und holzschnittartigsten gezeichnet werden, die weißen Schurken sind und May immer wieder darauf hinweist, wie groß das Verbrechen der Weißen an „den Roten“ ist, zeigt: Mit einfachen Rassismusvorwürfen kommt man nicht weit. Dies gilt vor allem auch deshalb, weil Mays Denken tief im Glauben an die – christlich begründete – Liebe verwurzelt war. Am Ende steht in seinem Denken eine Harmonie, die Menschen und Völker umspannt und die nicht mehr nach dem Trennenden, sondern nach dem Verbindenden fragt.

4. Noch zwei kurze Anmerkungen zur Rezeption von Karl Mays Werken:
a) Spätestens 1900, als die Diskussion um die Glaubwürdigkeit der May’schen Behauptungen Fahrt aufgenommen hatte, hätte man wissen können, dass May keine Sachbücher, sondern reine Fiktion geschrieben hat. Auch wenn er sich der besten der damals greifbaren Quellen bediente – dies wurde u. a. durch die Möglichkeit begünstigt, die Gefängnisbibliothek während seiner Haftstrafen zu nutzen –, muss man seine Werke unter dem Strich als rein fiktionale Erzählungen betrachten. Aus dem Werk Karl Mays konnte man zu keinem Zeitpunkt erfahren, wie die Realität aussah. Dass es zu einer Verwechslung dieser fiktionalen Welt mit der Realität kam, resultiert aus dem eskapistischen Denken der Leserschaft.

b) Es muss die Frage gestellt werden, ob die Empörung, so wie sie von Teilen der deutschen Öffentlichkeit derzeit geäußert wird, wirklich von den Betroffenen geteilt wird. Vielleicht kann man sich auf die Formel: „Deutsche Indianerobsession ist merkwürdig – aber nicht feindselig“ 9 einigen. Das würde der Debatte vieles an Schärfe nehmen.

Schließlich sollte man Karl May heute am besten so lesen: als Werk eines Menschen, der seine Vision einer besseren Welt als literarische Fiktion gestaltet hat – dies in dem Wissen, dass die Darstellungen niemals der Realität entsprachen und heute nicht ungebrochen rezipiert werden können. Damit wäre m. E. eine Brücke für eine Rezeption auch in der Gegenwart gebaut

Anmerkungen

1  Die Analyse der Auseinandersetzung bei „scompler“ ist vollkommen ausreichend: https://tinyurl.com/en7vd8nh (Abruf der Internetseiten: 6.9.2022).
2  Eine kurze Beobachtung: Im Jahr 2012 habe ich zusammen mit Friedmann Eißler den EZW-Text 220 „Winnetou ist ein Christ. Karl May und die Religion“ veröffentlicht. Keiner der insgesamt neun Aufsätze thematisiert den Rassismus oder die Klischees im Werk Mays. Margot Käßmann, die das Geleitwort geschrieben hat, lobt Karl May sogar dafür, dass er die Figur des „guten Indianers“ erfunden hat. Ähnlich sieht es in den Biografien von Helmut Schmiedt (Karl May oder Die Macht der Phantasie, München 2011) und Rüdiger Schaper (Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch, München 2011) aus. Heute, im Jahr 2022, neun Jahre nach der Gründung von „Black Lives Matter“ und zwei Jahre nach dem Tod von George Floyd kann man die Frage nach dem Rassismus in Mays Werk nicht mehr ignorieren.
3  Karl May: Winnetou 2, Zürich, 1991, 158. Es handelt sich hier bereits um die immer noch nicht vollständige „Historisch-Kritische Ausgabe“. In dieser wird noch durchweg das „N-Wort“ verwendet (sogar die Formulierung „sein Neger“ kommt vor). Hier wäre redaktionelle Arbeit dringend erforderlich. Ebenso befremdet der lapidare Satz: „Es ist nicht jedermanns Sache, wochenlang mit einem Schwarzen zu reiten“ (ebd).
4  Wenn ich das Wort trotz aller aktuellen Kritik verwende, dann deshalb, weil es der Sprache Karl Mays entspricht.
5  „Da sah ich den roten Menschen sich verzweiflungsvoll sträuben gegen den Untergang … ich konnte ihn nicht retten; aber eines zu tun, das war mir möglich: ihm den Tod zu erleichtern und auf seine letzte Stunde den Glanz der Liebe, der Versöhnung fallen zu lassen.“ Worte des „weißen Lehrers“ Klekih-Petra, Winnetou 1, Zürich 1989, 118. Diese Worte, verbunden mit dem Vorwort zu Winnetou 1, drücken exakt die Ambivalenz im Werk Karl Mays aus: auf der einen Seite ein paternalistischer Erziehungsanspruch an die „rote Rasse“, die sonst verloren wäre, und auf der anderen Seite die deutliche Erkenntnis, dass es „die Weißen“ sind, die das Verderben über „die Roten“ bringen. Was immer man über das Werk von Karl May sagen kann: Dass er das Unrecht, das Verbrechen, das an den Indianern verübt wurde, nicht mit Angabe der Täter benennt, kann man ihm nicht vorwerfen.
6  Vgl. den Wikipedia-Artikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Manitu.
7  Das Skalpieren wird tatsächlich schon in den biblischen Apokryphen dargestellt, vgl. 2. Makkabäer 7,7f. Auf Nordamerika bezogen ist zu sagen, dass das Skalpieren auch von Weißen an Indianern vollzogen wurde – zum Teil sogar so, dass auf Skalpe Prämien ausgesetzt wurden. Der Marterpfahl ist bei einigen Indianerstämmen belegt, allerdings nicht bei den Apachen. In der populären Wahrnehmung wird er oft mit dem Totempfahl verwechselt. Dieser dient freilich rein rituellen Zwecken.
8  Umgekehrt möchte ich aber auch darauf hinweisen, dass Karl May mit den ihm zur Verfügung stehenden Wörterbüchern versucht hat, den Indianern eine Sprache zu geben. Auch wenn dies vielfach reine Fantasie war, ist es doch deutlich mehr als z. B. im Großteil der in Amerika entstandenen Western. Dort wird den Indianern eigentlich erst mit Kevin Costners Film „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990) eine Sprache – die Sprache der Lakota – gegeben.
9  Das Zitat stammt aus den leider nur im Internet zugänglichen Überlegungen von Eva C. Schweitzer. Hier findet sich auch eine reflektierte Überlegung zum Gebrauch des Wortes „Indianer“ und ein insgesamt abgewogenes Urteil über die gesamte Auseinandersetzung, vgl. https://overton-magazin.de/kolumnen/transatlantic-mediawatch/begrabt-mein-hirn-an-der-biegung-des-flusses