Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen

„Willow Creek“-Leitungskongress 2018 in Dortmund

(Letzter Bericht: 12/2012, 460-465) Die Impulse für die Entwicklung von freikirchlichen und auch landeskirchlichen Gemeinden in Deutschland, die von der „Willow Creek Association“ ausgehen, sind kaum zu unterschätzen. Seit 1996 finden regelmäßig in verschiedenen deutschen Großstädten ihre Kongresse statt. Knapp 10 000 Personen kamen vom 8. bis 10.2.2018 in die Dortmunder Westfalenhallen und weitere 2300 an insgesamt sechs Übertragungsorte. Zahlenmäßig war es der bislang größte Kongress auf deutschem Boden.

Die namengebende amerikanische Megakirche „Willow Creek Community Church“ in Chicago will vor allem eine Kirche für bislang Kirchendistanzierte (unchurched) sein und sie mit dem Evangelium in Kontakt bringen. Dazu werden Elemente aus zeitgemäßer (Populär-)Kultur für Gottesdiensträume, -formen und -musik in qualitativ hochwertiger Form entwickelt und präsentiert. Über das internationale Netzwerk der Willow Creek Association sind zahlreiche Freikirchen und landeskirchliche Gemeinden mit diesem Ziel verbunden. Viele Aspekte wie neue Gottesdienstformen ohne traditionelle Liturgie, aber mit moderner Popmusik, Glaubenskurse, gezielte Kleingruppenarbeit oder Kindergottesdienstprogramme gehören mittlerweile in den von Willow Creek inspirierten Gemeinden zum Alltag. Die regelmäßigen Leitungskongresse wollen Mitarbeitende in den Ortsgemeinden motivieren und fördern.

In der Außenperspektive wird an Willow Creek u. a. kritisch gesehen: die Tendenz, den Glauben als etwas „Machbares“ anzusehen, die Orientierung an marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten, ein schablonenhaftes Bild von geistlicher Entwicklung, die zentrale Rolle des Gründers und leitenden Pastors Bill Hybels. Im Rückblick auf den Dortmunder Kongress würde ich manche Kritik vorsichtiger formulieren.

Geistliche Impulse und pragmatische Instrumente für einen wirkungsvollen Gemeindeaufbau werden bei Willow Creek deutlich unterschieden. Dies geht so weit, dass mit großer Selbstverständlichkeit beim 2016er Kongress in Hannover zwei Referenten der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Mormonen) ihr Fachwissen präsentieren konnten. In diesem Jahr waren neben theologischen (Bill Hybels, Michael Herbst) auch Referentinnen und Referenten aus dem Coaching-Bereich (Henry Cloud, Juliet Funt, John C. Maxwell) oder aus der Wirtschaft (Erin Meyer, Horst Schulze) geladen. Erstmals war auch ein leitender Geistlicher der römisch-katholischen Kirche dabei (Christian Hennecke). Und nicht nur für die mehr als 2000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter 30 Jahren stellten zwei jüngere freikirchliche Pastoren Aspekte ihrer Arbeit dar: Freimut Haverkamp (Hillsong Konstanz) und Tobias Teichen (ICF München).

Zweifellos gehört Willow Creek in den Bereich des evangelikalen Christentums, insofern hier Kirche verstanden wird als Gemeinschaft derer, die an Jesus Christus als ihren persönlichen Erlöser glauben, sich aktiv mit ihren Gaben am Gemeindeleben beteiligen und von der Autorität der Bibel in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung überzeugt sind. Darüber hinaus repräsentiert Willow Creek eine große Bandbreite an Frömmigkeitsstilen, wie sie auch in der Fachausstellung in den weiteren Messehallen vertreten waren, wo neben „Idea“ die westfälische Kirchenzeitung („Unsere Kirche“), neben den „Gideons“ die „GameChurch“ und eine bemerkenswert große Zahl sozialer Hilfsprojekte ihren Platz fanden.

Leitend für die Arbeit von Willow Creek war von Beginn an die große Vision, eine attraktive Gemeinde für Kirchendistanzierte zu werden. Hybels eigener Ausgangspunkt sei eine „heilige Unzufriedenheit“ über Unrecht und Missstände in der Welt wie in der Kirche gewesen, vor allem über „dysfunktionale“ Kirchengemeinden. In der Vergangenheit wurden daraus teilweise sehr schablonenhaft „Regeln“ oder „Schritte“ für die Entwicklung von Gemeinden und ihrer Spiritualität abgeleitet. In Dortmund fand dies keinen Raum mehr, ebenso wenig waren Druck oder Leistungsdenken zu spüren. Hybels forderte stattdessen dazu auf, die eigene Persönlichkeit zu befragen und die Beziehung zu Gott zu klären. So würden individuell Motivation und Kräfte freigesetzt, die Gott in seinen Geschöpfen angelegt habe.

Entscheidend für das Konzept von Willow Creek ist also nicht das methodische Vorgehen, sondern die grundsätzliche Haltung: der Wunsch, die Welt so zu gestalten, wie man sie sich vom Evangelium her vorstellt. Zwar könne man fachlich lernen – von einem Coach, von Fachleuten für Gästefreundlichkeit oder für Cross-Cultural-Management –, viel wichtiger sei aber die persönliche Haltung, die man selbst finden und sich aneignen müsse. Um dies zu fördern, wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weniger belehrt als motiviert und inspiriert. Entsprechend spielten fachbezogene Fortbildungsinhalte nur eine untergeordnete Rolle, und themenbezogene Arbeitsgruppen oder Workshops suchte man vergeblich. Im Plenum wurde ausschließlich „top down“ referiert. Einen zentralen Platz nahmen persönliche Erzählungen und Gebete, kreative Darstellungen und Musik ein, sie zielten darauf ab, Emotionen zu wecken.

Hier liegt nach meinem Eindruck auch der Grund für den Erfolg dieser Konferenzen. Immer wieder erzählten mir Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass sie zwar nichts wirklich Neues gehört hätten, durch die allgemeine Stimmung aber begeistert und inspiriert seien. Solche Äußerungen machen verständlich, warum ein fester Stamm von Teilnehmenden alle zwei Jahre zu einem Kongress aufbricht: um sich wieder neu inspirieren und emotional motivieren zu lassen – weniger, um sich fachlich fortzubilden.

So bleibt festzuhalten: Das Willow-Creek-Konzept ist einflussreich und bewegt zahlreiche Gemeinden. Es gibt Mitarbeitenden gute Ideen und hilfreiche Werkzeuge an die Hand, um Gemeindearbeit zu gestalten. Es nimmt die Realität pluraler Gesellschaften ernst und kann auf deren Kulturen oft besser angehen als die traditionelle kirchliche „Hochkultur“. Dadurch motiviert es Mitarbeitende – in Dortmund auch aus der jüngeren Generation, die im gemeindlichen Alltag oft fehlen. Hohe Qualitätsstandards zu suchen, kann man in einer zunehmend dienstleistungsorientierten Gesellschaft immer weniger vernachlässigen.

Wirklich zentral in der Arbeit von Willow Creek scheint mir aber die durch persönliche Spiritualität geweckte Emotionalität zu sein. Hierdurch – und nicht durch theologische oder handlungsbezogene Impulse – werden die Kongressteilnehmer motiviert, sich in ihren Ortsgemeinden zu engagieren. Das ist ein wichtiger und positiver Beitrag von Willow Creek für zukünftige Gemeinde- und Kirchenentwicklungen. Emotionale Erlebnisse sind ja in ihrer Bedeutung für vitale Religiosität insgesamt nicht zu unterschätzen. Dass sich aber in diesen Erlebnissen eine christliche Gotteserfahrung verbirgt, bedarf der kognitiven Deutung durch den Bezugsrahmen. Innere Unruhe ist nicht per se „heilig“. In Dortmund wurden Emotionen hervorgerufen, deren Deutung als Gottesbegegnung durch den Kontext des Kongresses nahegelegt wurde. Theologisch reflektiert wurde aber über diesen Zusammenhang von emotionalem Erleben und christlicher Deutung nur wenig. So bedarf es immer wieder neuer Veranstaltungen, die diese Erfahrung bestätigen.

Eine Reflexion darüber hätte sicherlich der Intensität dieser Erfahrungen Abbruch getan. Sie würde aber dem Vorwurf gefühlsmäßiger Manipulation begegnen und zugleich den Blick stärker auf die konkreten Angebote für Gemeindeaufbau lenken, die die Willow Creek Association in ihrem Repertoire hat.


Andreas Hahn, Dortmund