Andreas Fincke

Wiederaufbau einer Friedensstadt

Das spirituelle Zentrum der Johannischen Kirche

Südlich von Berlin, unweit der Kleinstadt Trebbin, ist das Brandenburger Land unscheinbar. Selten verschlägt es Touristen in diese Gegend. Dabei kann man bei Blankensee Ungewöhnliches entdecken. Über eine märkische Landstraße gelangt man zu einer „Friedensstadt“. Hier stehen herausgeputzte Wohnblöcke neben tristen DDR-Neubauten, sanierte Häuser aus den 1920er Jahren neben ruinengleichen Hallen, die an sowjetische Kasernen erinnern.

Gegründet wurde die Siedlung 1920 als „Christliche Siedlungsgenossenschaft Waldfrieden“; schon bald bürgerte sich der Name „Friedensstadt“ ein. In der Weimarer Republik war sie die größte und modernste soziale Wohnsiedlung Deutschlands. Bis 1935 entstanden etwa 40 bis 50 Gebäude: zahlreiche Wohnhäuser, eine Schule, ein Altersheim, ein Landwirtschaftsbetrieb, mehrere Werkstätten, ein „Heilinstitut“. 400 bis 500 Menschen dürften damals dort gewohnt haben. Finanziert wurde die Siedlung aus den Ersparnissen einfacher Menschen. Tausende spendeten, was sie an Wertvollem besaßen. Eine Zeitung schrieb damals, die Friedensstadt sei „eine Stadt, die aus Trauringen entstand“.

Gründer, Spiritus rector und alles überragende Gestalt der Friedensstadt war Joseph Weißenberg. Er wurde 1855 geboren, erlernte ursprünglich das Maurerhandwerk und soll über paranormale Fähigkeiten verfügt haben. Prophezeiungen, Trancereden und die Heilung von Kranken – von seinen Anhängern werden sogar Totenauferweckungen behauptet – verschafften ihm große Popularität und regen Zulauf. 1903 eröffnete er als „Heilmagnetiseur“ im Berliner Arbeiterviertel Prenzlauer Berg eine Praxis, in der er Menschen mittels Handauflegen, Gesundheitstees, weißem Käse und anderen Hausmitteln behandelte. Die (meist armen) Patienten wurden zusätzlich zu solchen Verordnungen angehalten, auch das Vaterunser und den 1. Psalm zu beten. Die Behandlungen sollen recht erfolgreich gewesen sein.

Joseph Weißenberg war ein Eiferer, eine kantige und unbequeme Persönlichkeit. Er betrachtete sich als in die Welt gesandt, um den wahren Glauben der ursprünglichen Kirche wieder aufzurichten und die konfessionellen Grenzen zu überwinden. Sein entschiedener Kampf galt der liberalen Theologie seiner Zeit. Er scheute nicht davor zurück, in diversen Schreiben höchste Autoritäten anzurufen und für seine Sache zu agitieren. So forderte er zum Beispiel Wilhelm II. eindringlich auf, die preußische Landeskirche vom Pfad des Liberalismus zurückzuholen, für eine geistige Umkehr zu sorgen; andernfalls führe „Majestät ... das deutsche Volk in den Abgrund“. 1903 prophezeite er dem Kaiser sogar, dieser werde sein Land in 15 Jahren „am Bettelstab“ verlassen, wenn die Mahnungen fruchtlos bleiben sollten. Weißenbergs Anhänger sehen darin bis heute eine klare Vorhersage über das Ende der Monarchie im Jahre 1918.

Es ist kein Wunder, dass Weißenberg in eine Fülle von Schwierigkeiten geriet. Während des Ersten Weltkriegs wurde er verhaftet, durfte das Gefängnis aber schon nach wenigen Wochen wieder verlassen, allerdings mit der Auflage, sich jeglicher religiösen Tätigkeit zu enthalten. So wurde es einige Zeit still um den merkwürdigen Propheten. Aber schon 1920 hielt er es für geboten, wieder in die Zeitläufe einzugreifen. Er sah eine Inflation kommen und rief seine Anhänger auf, ihr Geld für den Ankauf von Land in den Glauer Bergen unweit von Trebbin zu spenden, bevor es seinen Wert verlieren würde. Viele folgten seiner Aufforderung und legten damit den Grundstein für die Friedensstadt.

Weißenberg war erst 1914 in die evangelische Kirche eingetreten. Ein reichliches Jahrzehnt später spitzten sich anlässlich der Kirchenwahlen die Konflikte zwischen der von ihm geleiteten Richtung und der Amtskirche so zu, dass ein Bruch unvermeidlich wurde: 1926 trat Weißenberg wieder aus der Kirche aus. Tausende Anhänger folgten ihm, und es kam zur Gründung der „Evangelisch-Johannischen Kirche nach der Offenbarung St. Johannis“, die regen Zulauf verzeichnen konnte. Man schätzt, dass sich etwa 100 000 Anhänger um die neue Kirche sammelten. In Blankensee, unweit der heutigen Friedensstadt, errichtete man 1928/29 ein eigenes imposantes Kirchengebäude in Form einer Doppelbogenhalle. Die geräumige Kirche bietet bis zu 1000 Menschen Platz und kann besichtigt werden.

Der Machtantritt Hitlers wurde von Weißenberg und den Seinen anfangs begrüßt. Man erhoffte sich eine Erneuerung Deutschlands, geriet jedoch schnell in Konflikte mit den neuen Machthabern. 1934 entfachte Goebbels eine Pressekampagne gegen die „Sekte“, die wenig später mit dem Verbot der Gemeinschaft endete.

Friedliche Zeiten gab es in der Friedensstadt also nicht lange: 1935 wurde die „Evangelisch-Johannische Kirche“ verboten, die Siedlung enteignet und der fast 80-jährige Weißenberg verhaftet. Nach mehrjähriger Haft wurde er schließlich nach Schlesien verbannt, wo er am 6. März 1941 in Obernigk starb. Da hatte die Waffen-SS längst Besitz von der Kirche ergriffen. In der ungewöhnlichen Doppelbogenhalle wurden nun Panzer repariert. 1938 übernahm die „SS“ die Friedensstadt, den Mietern wurde schriftlich gekündigt. Von 1942 bis Januar 1945 befand sich dort ein Außenkommando des KZ Sachsenhausen, 1945 besetzte die Rote Armee das Areal. Die Friedensstadt wurde zum Truppenstützpunkt der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte. Auf dem Gelände sollen SS-20-Atomraketen stationiert gewesen sein – ausgerichtet auf das Ruhrgebiet. Fast 50 Jahre blieb das Areal von sowjetischen Truppen besetzt. Erst 1994 konnte die Johannische Kirche ihr Eigentum wieder in Besitz nehmen. Lediglich die Kirche war schon früher geräumt worden – und der Lindenhof. Dabei handelt es sich um eine kleine Siedlung von acht Doppelhäusern aus den 1930er Jahren, die lediglich kurz nach dem Krieg militärisch besetzt war. Hier stand schon zu Weißenbergs Lebzeiten ein Denkmal für den Kirchengründer, das die Nazis jedoch 1935 zerstört hatten. 1993/94 wurde an dieser Stelle aus Granitstein ein neues, etwas zu groß geratenes Denkmal für Weißenberg errichtet. In der Mitte befindet sich eine Dornenkrone aus Bronze: Weißenberg als Erlöser der Welt.

Für Weißenbergs Anhänger und die Glieder der Johannischen Kirche war der Abzug der sowjetischen Streitkräfte ein großes Ereignis. Im Frühsommer 1994 öffneten sich erstmals die Kasernentore. Für die Jungen war es ein Ausflug in eine exotische Welt, für die Alten, die die Friedensstadt noch in Erinnerung hatten, war es ein schmerzliches Wiedersehen. Es flossen viele Tränen, denn die jahrzehntelange militärische Nutzung hatte die Substanz der Friedensstadt weitgehend zerstört. Zu besichtigen war nicht nur das Einheitsgrau russischer Kasernen, sondern auch die systematische Verwahrlosung von Immobilien: Es beginnt mit den defekten Dachrinnen, dann folgen die Fallrohre, schließlich werden die Wände feucht ... Dennoch erwuchs der Wille zum Wiederaufbau. Man pflegte keinen Groll gegen „die Russen“. Wenn die Johannische Kirche heute in ihren hauseigenen Publikationen über die sowjetischen Besatzer berichtet, geschieht das auf erstaunlich sachliche und höfliche Weise.

Schaden nahm die Friedensstadt auch dadurch, dass in den 1970er Jahren fünfgeschossige Neubaublöcke für die Offiziersfamilien wahllos in das ursprüngliche bauliche Ensemble gesetzt wurden und das Gesamtbild nachhaltig beschädigten. Einige dieser Blöcke wurden inzwischen abgerissen, andere nach westlichen Standards saniert. Eine weitere Herausforderung war der riesige Appellplatz, für dessen überdimensionierte betonierte Fläche sich keinerlei Verwendung fand. So hat man schließlich kurzerhand Löcher in den Beton getrieben und Bäume gepflanzt. Jetzt stehen dort statt Soldaten Bäume in Reih und Glied.

Derzeit leben in der Friedensstadt mehr als 300 Menschen – nicht nur Anhänger der Johannischen Kirche. Weißenberg hatte seiner Friedensstadt prophezeit, einmal „der größte Luftkurort Deutschlands“ zu werden. Danach sieht es derzeit nicht aus. Der Wiederaufbau der ungewöhnlichen Siedlung dauert jedoch an und wird überwiegend aus Spenden finanziert.

1975 wurde die „Evangelisch-Johannische Kirche nach der Offenbarung St. Johannis“ in „Johannische Kirche“ umbenannt. Heute hat die Kirche etwa 3500 Mitglieder. Sie ist eine der wenigen Religionsgemeinschaften, die von einer Frau geleitet werden. Oberhaupt ist Weißenbergs Enkelin Josephine Müller.

Weißenberg gilt unter seinen Anhängern nicht nur als Kirchengründer, sondern vielmehr als Fleischwerdung des Heiligen Geistes. Sie glauben, dass Gott sich dreimal offenbart hat: in Mose als Vater, in Jesus Christus als Sohn und in Weißenberg als Heiliger Geist. Im Glaubensbekenntnis der Johannischen Kirche heißt es: „Ich glaube an Gott den Vater, ich glaube an Gott den Sohn, ich glaube an Gott den Heiligen Geist und an Gottes Offenbarungen durch Mose, Jesus Christus und Joseph Weißenberg.“ Weißenberg wird also als der im Johannesevangelium verheißene Paraklet (vgl. z. B. Joh 14,16f; 16,12ff) gedeutet. Im Altarraum ihrer Kirchen steht deshalb nicht nur ein Kruzifix, sondern auch eine Büste Weißenbergs. Der Altar der Kirche in Blankensee wird von einem kunstvoll geschwungenen „W“ getragen. Das steht für Weißenberg, für eine verbindende Brücke zwischen Gott und den Menschen, aber auch für das „Schiff Kirche“.

Im Zentrum des Altarraums der großen Hallenkirche von Blankensee ist in großen Lettern zu lesen: „Gott ist Liebe“ (1. Joh 4,16). Weißenberg hatte seine Anhänger immer wieder dazu ermahnt, das Trennende der Konfessionen durch Liebe zu überbrücken. Diesem Anliegen fühlen sie sich bis heute verpflichtet. Der Besucher der Friedensstadt begegnet deshalb überall freundlichen, offenen und bodenständigen Menschen im besten Sinne des Wortes.

Angesichts dieses Wohlwollens fällt es schwer, sich zu vergegenwärtigen, dass Weißenberg mit seiner Kirchengründung dennoch eine weitere Spaltung in die Gemeinschaft der Christen getragen hat. Und auch die theologische Zumutung der Johannischen Kirche in ihrem Verständnis Joseph Weißenbergs als „göttlichem Meister“ besteht fort und bleibt ein unüberwindliches Hindernis, das die Johannische Kirche von den anderen christlichen Kirchen trennt.


Andreas Fincke, Berlin