Johannes Kandel

Wie reden wir über „den Islam“?

Anmerkungen zur aktuellen Islam-Debatte

Vier Ereignisse der jüngsten Zeit

  • Ein historisches Zitat in der „Regensburger Rede“ Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 löst in Teilen der islamischen Welt heftige Erregung aus. Wie nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitschrift „Jyllands-Posten“, wenn auch nicht in gleicher Intensität und Nachhaltigkeit, bricht eine bewusst inszenierte und von Beleidigungen, Schmähungen und Gewalttätigkeiten begleitete „Empörung“ aus. In Deutschland bleibt es ruhig, der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ (ZMD) gibt sich damit zufrieden, dass der Papst sein Zitat betroffen erläutert und beschwichtigt.
  • Die verunsicherte Opernintendantin der Deutschen Oper Berlin, Kirsten Harms, setzt –aufgescheucht von einer Gefahrenanalyse aus dem Landeskriminalamt Berlin, es könne islamistische Proteste und Anschläge geben – die Mozart-Oper „Idomeneo“ ab.
  • Der britische Außenminister Jack Straw wird nach seiner Empfehlung, Musliminnen sollten auf den Schleier verzichten, von der „Islamischen Menschenrechtskommission“ in Großbritannien der „selektiven Diskriminierung“ bezichtigt. Eine neue „Empörungswelle“ schwappt durch Großbritannien.
  • Ein ähnlicher Appell von mehreren deutsch-türkischen Politikern (darunter Ekin Deligöz von den Grünen und Lale Akgün von der SPD) an die muslimischen Frauen in Deutschland, das Kopftuch abzulegen, stößt auf scharfe Kritik in der Türkei und einigen muslimischen Verbänden in Deutschland. Ekin Deligöz wird in türkischen Zeitungen beschimpft und erhält Morddrohungen.

In Deutschland fegt eine neue, erregte Diskussion durch die Medien: Die bedauernswerte Opernchefin wird des „vorauseilenden Gehorsams“ bezichtigt. Heftig wird erörtert, wie weit das „Einknicken vor dem Islam“ noch gehen soll. Erst der Karikaturenstreit, dann die Papstrede, die abgesetzte Oper, die wütenden Reaktionen aus Kreisen des Verbandsislam nach dem „Kopftuchappell“ der deutsch-türkischen Politiker. Was kommt noch?

In der Tat fragt man sich, wer festlegt, was Muslime „beleidigen“ könnte, wann ihre „religiöse Identität“ in unerträglicher Weise verletzt wird? Wer bestimmt, wann die Grenze zur legitimen Freiheit der Meinungsäußerung überschritten ist? Die deutsche Rechtsordnung? Unsere (überaus pluralistischen) „moralischen“ Auffassungen zur Kritik an Religionen? Muslimische Rechtsgelehrte? Die Islamisten? Die von Al-Djazeera beeinflusste veröffentlichte Meinung in der islamischen Welt? Sollen historische Zitate, die Kritik am Islam zum Gegenstand haben, z.B. von Johannes von Damaskus, Raimundus Lullus und Martin Luther („Der Turk ist Gottes Rute und des Teufels Diener“) vermieden werden? Muss Karl Mays Roman „In Mekka“ (1898) aus den Buchregalen verschwinden, weil der Autor Kara Ben Nemsi Mekka besuchen lässt, der dort einen Muslim (der vorher Christ war) zum Christentum zurückführt? Ist künftig Muslimen der Anblick von christlichen Kirchen nicht mehr zuzumuten, bzw. eine sind sie „Beleidigung“ des Islam, weil das christliche Kreuz für Muslime die Verfälschung der wahren Religion (= Islam) repräsentiert? Darf über die Vita des Propheten, wie sie uns z.B. in der berühmten Prophetenbiographie von Mohammed Ibn Ishaq übermittelt wurde, nicht mehr kritisch gesprochen werden, z.B. über die von Mohammed angeführten „Razzien“ und sein Verhältnis zu Juden und Christen?

Das Thema „Einknicken“ erreicht binnen Wochen Sabine Christiansens Talk-Show und wird nachhaltig zerredet und banalisiert. Der streitbare Henryk A. Broder veröffentlicht gerade zur rechten Zeit sein Buch „Hurra, wir kapitulieren“ und breitet genüsslich Beispiele für „Einknicken“, Kapitulieren und defätistisches Verhalten aus, vom „Karikaturenstreit“, der Diskussion um die „Rütli-Schule“ bis zum zurückhaltenden Umgang der EU mit Terroristen vom Schlage der Hamas und Hizbollah.1 Er will belegen, dass wir längst vor „dem Islam“ und seinen Welteroberungsabsichten kapituliert haben. Seine durchaus berechtigte Kritik und die zahlreichen Diskussionen in der Öffentlichkeit verdichten sich zu dringlichen Fragen: Wie viel Rücksichtnahme auf „religiöse und kulturelle Identitäten“ soll der deutsche Rechtsstaat der muslimischen Minderheit noch zugestehen, ohne Pluralismus und Liberalität zu beschädigen? Sind wir inzwischen alle „Appeaser“ (Beschwichtiger, Versöhnler) und trauen uns nicht mehr, die Grundwerte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu verteidigen? In den christlichen Kirchen fragen sich viele, ob denn im viel beschworenen „interreligiösen Dialog“ noch Raum bliebe, auch den Wahrheitsanspruch der christlichen Botschaft (Apg 4,12; Joh 14,6) selbstbewusst zu bekennen? Der Journalist Eberhard Seidel, ein ausgewiesener Experte für investigativen Journalismus in Sachen „Islamismus“, entdeckt ein „neues Gesellschaftsspiel“: „Wer ist Einknicker und wer leistet Widerstand?“ Henryk A. Broder, Alice Schwarzer, Leon de Winter und der Orientalist Hans-Peter Raddatz werden von ihm kollektiv als „Widerständler“geortet, die dazu beitragen, „gesundes Volksempfinden“zu mobilisieren.2 Seidels Schlussfolgerung: „Widerstand“ sei zwar nötig, aber bitteschön mit „investigativer Recherche“.

Während die Debatte in der Öffentlichkeit auf verschiedenen Diskursebenen hin und her wogt, findet gleichzeitig die von Innenminister Schäuble organisierte „Deutsche Islamkonferenz“ mit 15 Vertretern des Staates und 15 ausgewählten Muslimen statt und wird von allen Beteiligten als fruchtbar und Auftakt zu einem substantiellen, „institutionalisierten Dialog“ gewertet, treffen sich Muslime und Andersgläubige auf Einladung der Muslime zu zahlreichen „Iftar“-Essen am Ende des Ramadans. Auch der Bundespräsident nimmt an einem solchen Essen teil. Im September findet die „Interkulturelle Woche“ statt unter dem Motto „Miteinander Zusammenleben gestalten“. „An der Basis“, in Kirchengemeinden und Dialoginitiativen geht der „Dialog mit dem Islam“ ohnehin ganz normal weiter. Im November schließlich veröffentlicht der Rat der EKD eine neue „Handreichung“ zu „Christen und Muslimen in Deutschland“ mit dem treffenden Titel „Klarheit und gute Nachbarschaft“, die für den Dialog wirbt, gleichwohl auch eine Reihe von kritischen Einschätzungen formuliert und unerledigte theologische und praktische Themen im „Dialog“ anmahnt.

Sind wir alle entweder „Appeaser“ oder „Alarmisten“? Ist „Widerstand“ und „Selbstbehauptung“ nicht nur gegen „Islamismus“, sondern auch gegen „den Islam“ angesagt? Ist der „Kampf der Kulturen“ (Huntington) doch Realität? Die Wirklichkeit ist, wie immer, komplizierter und vielschichtiger. Eine realistische und nüchterne Wahrnehmung sollte mit Reflexionen darüber beginnen, wie wir angemessen im „Dialog“ über „den“ Islam reden.

Der Islam, der Frieden und die Gewalt

„Der“ Islam ist ein Konstrukt und schon die Wortbedeutung ist umstritten. Es gibt Menschen, die sich als „Muslime“ bekennen, d.h. solche, „die sich Gott unterwerfen“. Es gibt rund eine Milliarde von ihnen und sie sind über die ganze Welt verteilt, die meisten (196 Millionen) leben in Indonesien. Sie sind unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Nationalität und sie leben im Alltag nach den Regeln „des“ Islam, d.h. so wie sie „Islam“ in ihrer jeweiligen, von Geschichte und Kultur ihres Landes geprägten Lebenswelt verstehen.3 Über Islam lässt sich daher nur angemessen reden, wenn Religion und Kultur gleichzeitig in den Blick genommen werden.

Wir haben uns im alltäglichen Sprachgebrauch angewöhnt, von „dem Islam“ zu reden. Die Muslime reden auch so: „Der“ Islam sagt, „der“ Islam schreibt vor, „im“ Islam ist dies erlaubt („halal“) und jenes verboten („haram“). Das lässt sich nicht vermeiden. So bleibt die Rede vom „Islam“ notwendigerweise oft pauschal und wenig reflektiert. Das ist kein Drama, solange wir uns damit nicht zufrieden geben. Im wissenschaftlichen, politischen und Medien-Diskurs gelten andere Anforderungen und im organisierten „interreligiösen“ und „interkulturellen“ Dialog ohnehin.

Wie also über „den“ Islam reden? Es gibt eine Reihe von Ungenauigkeiten in unserem Reden über „den“ Islam. Die fehlende Präzision ruft ständig neue Missverständnisse im „Dialog“ zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen hervor, führt zu falschen Schlussfolgerungen und vertieft die fatale Polarisierung zwischen vermeintlichen „Appeasern“ und „Alarmisten“. Betrachten wir z.B. vier häufig anzutreffende, gegensätzliche Aussagen, die in folgenden Formulierungen (oder ähnlich) daherkommen:

  • „Der Islam ist eine Religion des Friedens.“
  • „Der Islam als Religion hat nichts mit der politischen Ideologie des Islamismus zu tun, die den Islam missbraucht.“
  • „Der Islam ist eine gewalttätige Religion.“
  • „Der Islamismus ist die unausweichliche Konsequenz des Islam.“

Die ersten beiden Aussagen finden wir bei jenen, die wir hier zugespitzt und vereinfacht als „Anhänger der Friedensthese“ bezeichnen wollen. Die beiden zweiten rechnen wir den „Anhängern der Gewaltthese“ zu. Es verwundert nicht, dass die „Anhänger der Friedensthese“ bei Muslimen überwältigende Zustimmung finden, während im Lager der „Anhänger der Gewaltthese“ mehrheitlich die Nicht-Muslime den Ton angeben. Beiden Seiten ist gemeinsam, dass sie vorgeben zu wissen, was das „Wesen“ des Islam ist. Sie sind von essentialistischer Sicherheit geprägt und kennen offenkundig die „wahre Gestalt“, den „authentischen“ Islam. Über die Plausibilität der Argumente im Streit der „Lager“ wird nicht erst seit gestern gestritten, sondern dieser Streit wogt – mehr oder weniger von der Öffentlichkeit beachtet – in Fachdiskursen seit langem. Er hat vor dem Hintergrund der Ereignisse vom 11. September allerdings eine besondere Brisanz und Aktualität gewonnen. Im Rahmen dieses Essays können natürlich nicht alle Argumente pro und contra erschöpfend gewogen werden. Es geht mir nur um einige Hinweise auf unverkennbare sachliche Schwächen der Argumentationen und Reden über „den Islam“ beider Seiten, mangelnde Differenzierungen und interessenbedingte Verwendung von Argumenten. Die Hauptargumente beider Richtungen seien in idealtypischer Zuspitzung gegenübergestellt:

„Eine Religion des Friedens“

Die Vertreter der Friedensthese verweisen auf das Wort „Islam“, das Frieden bedeute („salam“), nennen eine Fülle von Suren, aus denen sie den Ruf zu Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit herauslesen (z.B. 2,64; 2,105; 3,18; 3,64; 3,74; 4,50; 4,83; 4,135, 4,175; 5,5.8; 5,32; 5,34; 5,42; 6,12; 7,29; 8,1; 8,61; 16,125; 29,46; 42,15.17; 45,20; 49,9), beschwören den „Geist des Korans“ und ethische Grundlinien, die auf friedliches Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen gerichtet seien (z.B. Sure 2,148; 5,48).4 Sie bestimmen den Begriff „djihad“ (fast) ausschließlich spiritualistisch, d.h. als „Anstrengung auf dem Wege Gottes“ („jihad fi sabili’ llah“) zur Bekämpfung der negativen Leidenschaften bei sich selbst und friedlichen Ausbreitung der Botschaft des Islam (z.B. Sure 22,78; 29,6): Das ist der „Große Djihad“, der “djihad“ mit dem Herzen, der Zunge und den Händen. „Djihad“, das sei auch als Einsatz für das Gemeinwohl zu verstehen, „Kampf“ für mehr Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten. Kurz nach dem 11. September 2001 schrieb Ziauddin Sardar, einer der führenden muslimischen Intellektuellen in Großbritannien: „Dschihad ist das vernünftige Bemühen jedes Individuums, in den Grenzen moralischen Handelns tätig zu sein, den Schutz der Gerechtigkeit jedweden menschlichen Wesens ohne Ansehen seiner Hautfarbe, Religion oder Herkunft zu gewähren. Dschihad: das ist die Verpflichtung, den Frieden zu einer gelebten Wirklichkeit für alle Menschen zu machen.“5

Nur im Falle eines Angriffes dürften sich Muslime auch mit Gewalt verteidigen. Gebe der Feind nach, sollten die Muslime zur Versöhnung bereit sein (Sure 2,193). Zwar sei der „djihad“ im Sinne der Verteidigung auch „Pflicht“, müsse aber eher als notwendiges Übel betrachtet werden: Das ist der „Kleine Djihad“ (Sure 2,216). Die islamische Geschichte zeige, dass der Islam nicht mit „Feuer und Schwert“ ausgebreitet worden sei. Die Eroberungen des 7. und 8. Jahrhundert seien politisch motiviert gewesen. Die islamischen Heere seien nicht ausgerückt, um die „Ungläubigen“ zu „bekehren“, denn nicht deren „Unglaube“ habe eine Gefahr für die Muslime dargestellt, sondern die von den „Ungläubigen“ ausgehende politische Bedrohung der „islamischen“ Territorien. Man dürfe diese teils defensiven, teils offensiven Aktionen nicht mit der beharrlichen „Missionsarbeit“ („da’wa“) für den Islam in eins setzen. Die Menschen seien durch Mission für den Islam gewonnen worden, nicht durch äußeren Zwang. „Im Islam“ sei in Sachen der Religion jeder Zwang verboten (Sure 2,256; 10,99; 18,19; 109,6). Das islamische Recht, das im 8. und 9. Jahrhundert von den berühmten vier Rechtsschulen geprägt worden sei, habe in Auslegung von Koran und Überlieferung präzise Kriterien und Bestimmungen zur Ausrufung eines „djihads“, Begrenzung auf den Verteidigungsfall und die Verhältnismäßigkeit der Mittel entwickelt.6 Die von den Anhängern der „Gewaltthese“ ins Feld geführte „Abrogationstheorie“7, nach der die späteren „militanten“ medinischen „Schwertverse“ (insbesondere Sure 9,5) die früheren „friedlichen“ abgelöst hätten, sei höchst umstritten.

Ferner wird geltend gemacht, dass die klassischen Doktrinen des „djihad“, die den Krieg gegen die „Ungläubigen“ legitimierten und normierten, in der Neuzeit dem Prinzip der friedlichen Koexistenz mit nicht-muslimischen Staaten gewichen seien. So sei die Außenpolitik islamischer Staaten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts pragmatisch auf Friedenssicherung gerichtet. Sie hätten Friedensverträge mit nicht-muslimischen Staaten geschlossen, seien Bündnisse eingegangen und anerkennten die internationalen Verpflichtungen zur Friedenssicherung. Schließlich hätten Muslime in Europa ihre Friedfertigkeit durch Akzeptanz von Menschenrechten und rechtsstaatlicher, pluralistischer Demokratie hinlänglich bewiesen. Sie seien als Bürger Europas bereit, für die Grundwerte „europäischer Identität“, wie z.B. im Verfassungsentwurf zu einer europäischen Verfassung formuliert, einzutreten.

Vertreter der Friedensthese bestreiten nicht, dass es im Koran und in der Überlieferung Stellen und Aussagen gebe, die, wenn man sie aus dem historischen Zusammenhang löse, Anknüpfungspunkte für einen militanten Islamismus bieten könnten. Doch das sei nicht „dem“ Islam anzulasten, sondern dafür seien allein die Islamisten verantwortlich, die Koran und Sunna „missbrauchten“. Schließlich gebe es auch in anderen Religionen, z.B. im „heiligen Buch“ der Christen, vor allem im Alten Testament, zahlreiche Stellen zur Legitimation von Gewalt.

„Eine gewalttätige Religion“

Die Anhänger der Gewaltthese berufen sich auf eine ganze Reihe von Suren, aus denen sie den universalen Wahrheitsanspruch des Islam ableiten. Islam sei Glaube, Ethik und Lebensordnung zugleich. In diesen Suren drücke sich das Überlegenheitsbewusstsein des Islam aus. Sie zeigten nicht nur die „Erhabenheit“ des Islam, sondern demonstrierten auch die Niedrigkeit seiner Gegner und das Recht der Muslime, sie zu demütigen und aktiv zu bekämpfen (Christen, Juden, Polytheisten, Zoroastrier, Sabier; z.B. 2,61; 2,190; 2,216; 3,110-112; 3,139; 4,74-76; 8,12; 8, 38-39; 9,5; 9,29; 9,33, 9,39; 9,41; 47,4; 47,35; 48,28; 61,9; 66,9).

Die Gegner des Islam müssen solange bekämpft werden („djihad“), bis sie kapitulieren und die Oberherrschaft des Islam anerkennen. Das werde im „klassischen“, militanten „Schwertvers“ („âyat as-sayf“), in Sure 9,5, unmissverständlich ausgedrückt, der – gemäß der „Abrogationstheorie“ – rund 100 der „friedfertigen“ Suren ersetzt habe. Mohammed habe den Kampf gegen die „Ungläubigen“ als religiös verdienstvolles Werk bezeichnet. (Sure 61,4: „Gott liebt diejenigen, die für seine Sache streiten.“) Der „djihad“ ende erst dann, wenn die ganze Welt dem Islam gehöre (Sure 2,193; 8,39). Das bedeute im Blick auf die „Schriftbesitzer“ (Juden und Christen) zwar nicht zwingend deren Bekehrung, aber sie müssten, wenn sie an ihrem – aus islamischer Sicht – falschen Glauben festhielten, den Status des „dhimmi“, des Schutzbefohlenen, akzeptieren. Gegen Zahlung einer Abgabe („djizya“) genössen sie den „Schutz“ des islamischen Gemeinwesens, aber volle Bürgerrechte seien mit diesem Status nicht verbunden. Die Expansion des Islam vom 7. Jahrhundert aufwärts bis in die „glorreichen“ Jahrhunderte osmanischer Herrschaft sei nicht nur Ausdruck politischen Vormachtstrebens gewesen, sondern habe die ungeheure Dynamik des religiösen Bekehrungseifers gezeigt. Politische Herrschaft und Konversion seien praktisch nicht zu trennen. Die politische Herrschaft „des“ Islam bereite den Boden für die Bekehrung der „Ungläubigen“ und der Bekehrungseifer sei eine entscheidende Motivation für die politische Expansion.

Der islamistische Terrorismus (Djihadismus), der tausende Menschenleben gekostet habe (und kosten werde), sei der schlagende Beweis für die Gewalttätigkeit „des“ Islam. Osama Bin Laden und andere selbst ernannte „Gotteskrieger“ begründeten unter Bezug auf Koran und Sunna ihren Terror gegen „Ungläubige“ und „Kreuzzügler“ als Kampf für eine gerechte „islamische“ Weltordnung. Der Islam sei keine „normale“ Religion, die sich auf das Transzendente, die „Verbindung“ (= religio) von Gott und Mensch konzentriere, sondern eine unaufhebbar politische Religion mit dem Ziel der Welteroberung und Weltherrschaft8. Niemals würde „der“ Islam eine Trennung von säkularem und religiösem Bereich akzeptieren können. „Der Islam herrscht, er wird nicht beherrscht“, so soll Mohammed gesagt haben, und das gebe Kern und Wesen dieser Religion wieder.

Sure 2,256 („Es gibt keinen Zwang in der Religion“) sei nicht, wie von muslimischer Seite behauptet, als normative Prinzipienerklärung religiöser Toleranz oder gar moderner, menschenrechtlich begründeter Religionsfreiheit zu verstehen. Ihr Entstehungszusammenhang zeige, dass sie nur die faktische Unmöglichkeit beschreiben wollte, Menschen zur Annahme einer Religion zu zwingen.

Klarheit und Differenzierungen

Beginnen wir bei den Anhängern der „Friedensthese“: So verständlich und sympathisch die engagierte Verteidigung „des Islam“ auch ist, so sehr fällt auf, dass die Fähigkeit zur Selbstdistanz und Selbstkritik deutlich unterentwickelt ist. Je mehr der Außendruck zunimmt und Muslime sich in die Defensive gedrängt sehen, umso stärker wenden sie sich apologetischer Verteidigung, Beschwörung ihres „Opferstatus“ und einer Anklagehaltung zu. Schuld sind immer „die anderen“ – „der“ Westen, „die“ Medien, „die“ Politiker etc. Offenkundige Verbindungen von Islamismus und Islam werden verharmlost, heruntergespielt oder auch ganz geleugnet.

Es gibt aber einen nicht zu bestreitenden Zusammenhang von Islam und Islamismus. Da es im Islam weder ein autoritatives Lehramt noch einen – wie im Protestantismus – durch Bekenntnisschriften fixierten Grundkonsens im Blick auf Glauben, ethische Grundlinien und Gestalt der Glaubensgemeinschaft gibt, muss Islamismus durchaus als eine mögliche und eben keineswegs „unislamische“ Variante in der Interpretation von Koran und Sunna betrachtet werden. Es ist nicht bekannt, dass eine autoritative Versammlung der führenden Rechtsgelehrten mit freundlicher Unterstützung der Islamischen Weltliga Ideologie und Bewegung des Islamismus als „häretisch“ verurteilt hätte, wie es 1974 mit der Ahmadiyya Muslim Jama’at aus Pakistan geschah. Denn Islamisten sind ja durchaus auch fromme Muslime, schließlich akzeptieren sie mit allen anderen Gläubigen die „fünf Säulen“ des Islam (Glaubensbekenntnis, rituelles Gebet, Fasten, Almosengeben und Wallfahrt nach Mekka) und die sechs zu glaubenden Wahrheiten (an Allah als den einen und einzigen – „tawhid“–, die Propheten, die Bücher, die Engel, das Schicksal und den Jüngsten Tag). Auch sie leiten, wie alle Muslime, aus Koran und Sunna Normen und praktische Regeln für die Gesamtheit ihres Lebens ab und versuchen ihnen zu entsprechen. Doch es ist das Ziel der Islamisten, die ideologische Deutungshoheit im Weltislam zu erlangen und so interpretieren sie koranische Grundkategorien in enger Anlehnung an konservativ-orthodoxe und fundamentalistische Auslegungen, teilweise auch in eigenwilliger Akzentuierung, neu: z.B. „djihad“.

Islamisten betonen die Teile der Überlieferung, die ihre absoluten Wahrheitsansprüche und ihre Ideologie der Weltherrschaft stützen. Islamisten „suchen die Archetypen ihres politischen Verhaltens im Koran und in der normativen Praxis des Propheten. Meistens bedienen sie sich dabei eher selektiv und pragmatisch der verschiedenen klassischen Ideologeme des jihad und ordnen diese ihrer jeweiligen Ideologie und Strategie unter.“9 Djihad wird in Zuspitzung und Überbietung der klassischen Auslegungen als individuelle und kollektive Pflicht zur „sechsten Säule“ des Islam stilisiert.10 Der „djihad“ sei in erster Linie Kampf gegen die „Ungläubigen“ und „Abtrünnigen“, der auch mit Waffengewalt ausgetragen werden müsse. Dieser Kampf wird einerseits als legitime Selbstverteidigung (gegen den „ungläubigen“, imperialistischen Westen) interpretiert, andererseits als missionarische Offensive („da’wa“) für die „Islamisierung“ der Welt gesehen. Für Osama bin Laden und sein Al-Qaida-Netzwerk steht der „djihad“ im Zentrum ihrer Ideologie („Djihadisten“). Sie dramatisieren den Konflikt mit „dem Westen“ zum globalen Krieg gegen den „fernen Feind“, überhöhen ihn als eschatologischen Endkampf zwischen den Kräften des „Glaubens“ und des „Unglaubens“, stilisieren ihn zur kosmologischen Entscheidungsschlacht zwischen dem „Guten“ und dem „Bösen“.11 Den tapferen Kämpfern Gottes, die in diesem „djihad“ ihr Leben lassen, wird reicher Lohn verheißen. Sie gehen als „Märtyrer“ unmittelbar in das Paradies ein (z.B. Sure 3,169; 9,111; 47,4-6; 2,154).

Die Dominanz fundamentalistischer Interpretationen

Wenn Muslime, die nicht dem islamistischen Lager zuzurechnen sind, sich über den „Missbrauch“ ihrer Religion beklagen, so müssten sie den Islamisten den Weg zum Deutungsmonopol verlegen. Es reicht nicht aus, Islamisten als „unislamisch“ zu geißeln und sie mit staatlichen Repressionsmaßnahmen auszugrenzen. Ideen lassen sich nicht einsperren. Ihre muslimischen Gegner müssten sich schon auf einen streitigen Diskurs über koranische Interpretationen und Deutungen, z.B. der reichen Überlieferung zum Thema „djihad“, einlassen. Leider hat man gegenwärtig den befremdlichen Eindruck, dass dies nicht oder nur halbherzig geschieht. Es wäre ja durchaus möglich, auf eine Reihe moderner kritischer Auseinandersetzungen mit den mittelalterlichen Djihad-Theorien zu verweisen.12 Die weltweit dominanten konservativ-orthodoxen Interpreten, die ihre ideologischen Hochburgen in Riad, Medina, Islamabad, Deoband und Kairo besitzen, scheinen aber weder willens noch in der Lage zu sein, diese notwendige Auseinandersetzung zu leisten. Ein breiter, offener Diskurs findet in der islamischen Welt nicht statt. Es sind nur einige wenige, oft aus islamischen Ländern vertriebene, „progressive“ Intellektuelle, die sich mit den Ideologien der Islamisten offensiv anlegen. So werden wohl auch in Zukunft die Botschaften und Einsichten der Vertreter des erzkonservativen, puritanischen, wahabitischen Islam über die Einflusskanäle der Islamischen Weltliga und ihrer Anhänger eher weltweite Verbreitung finden als die Ideen der „Progressiven“. Der Islamisten-Scheich Yussuf Al-Qaradawi aus Doha (Emirat Katar) erreicht über regelmäßige Ratgeber-Sendungen via Al-Djazeera und über das Internet Millionen von gläubigen Muslimen, in Riad, Islamabad, Djakarta, New York, London, Paris, Madrid bis Berlin-Neukölln-Nord und Kreuzberg-Friedrichshain.13 Die Dominanz der orthodox-konservativen Strömungen und fundamentalistischen Interpretationen ist bis in die Moscheen Europas hinein spürbar und die Vorherrschaft dieser Interpretationsrichtungen ist das Einfallstor für Islamisten und Djihadisten. Hier knüpfen sie an und hier finden sie einen Resonanzboden für ihre Begründungen politischer Gewalt. Es gibt zu denken, wenn die berühmt-berüchtigte Schrift des ägyptischen Islamisten Muhammad Farag („Die vernachlässigte Pflicht“) inzwischen bei uns in Deutschland kursiert.

Plädoyer für einen Dialog, der das Strittige nicht ausklammert

Die Diskussion über „Islam und Gewalt“ wird häufig nicht ehrlich und offen geführt. Wir können uns Wegducken, Verharmlosung, falsche Rücksichtnahme auf vermeintliche „kulturelle Identitäten“, blanke Apologetik und eine unberechenbare Haltung des „Beleidigtseins“ nicht leisten. Der viel beschworene „Dialog“ verkommt zur inhaltslosen, mehr oder weniger freundlichen Inszenierung ohne jeden Erkenntnisfortschritt14.

Kurz nach dem ersten Treffen der „Deutschen Islamkonferenz“ nahm der CDU-Bundestagsabgeordnete Ronald Pofalla in der „Bild am Sonntag“ zur Frage von Islam und Gewalt Stellung. Unter anderem erklärte er: „Das Problem religiös motivierter Gewalt ist heute fast ausschließlich ein Problem des Islam.“15 Der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, warf ihm daraufhin vor, er „bediene Stereotypen und Vorurteile“, und der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour (Bündnis 90/Die Grünen) äußerte sich gar „entsetzt“ und hielt Pofalla vor, er wolle „eine Religion gegen die andere“ ausspielen. Die „taz“ griff Pofalla als „Provokateur“ an und mutmaßte über den Beginn eines neuen „Grundsatzstreits“ zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen.16 Man sollte einfach genauer hinhören und hinschauen. Die Agentur-Meldung über Pofallas Aussage kam von Agence France Press (AFP) und war so überschrieben: „Pofalla: Islam Hauptverursacher religiös motivierter Gewalt“. Bis auf wenige Ausnahmen wurde diese „headline“ von allen deutschen Medien übernommen.

Doch was hat Pofalla wirklich gesagt? Er sagte nicht, dass „der“ Islam insgesamt gewalttätig oder der „Hauptverursacher“ von Gewalt sei. Er wies darauf hin, dass die religiös motivierte Gewalt „heute fast ausschließlich ein Problem des Islam“ sei. Aus einer religionsvergleichenden Perspektive liegt er mit dieser Problemanzeige nicht falsch. Es kann doch kein Zweifel sein, dass die von Islamisten und Djihadisten aktuell verbreiteten Begründungen von politischer Gewalt – unter Bezug auf Koran und Sunna – ein „Problem“ sind, mit dem wir alle, Nicht-Muslime und Muslime, konkret und aktuell konfrontiert werden. Wer wollte das angesichts der gerade auch in Deutschland vereitelten Terroranschläge bestreiten? Gibt es in anderen Religionen derzeit extremistisch-fundamentalistische Bewegungen, die an die „Qualität“ des Al-Qaida-Netzwerkes und der unabhängig voneinander operierenden islamistischen Terroristengruppen heranreichen? Überziehen uns Hindu-Fundamentalisten mit globalem Terror? (Wobei ihre grausamen Übergriffe auf Muslime keinesfalls verharmlost werden sollen.) Haben rechtsextremistische christliche Milizen in den USA ein internationales Netzwerk ausgebildet und bedrohen z.B. weltweit Abtreibungskliniken mit Terror? Ruft die „evangelikale Bewegung“ in Deutschland zum Vernichtungskampf gegen Muslime auf? Legen jüdische Siedler-Fundamentalisten Bomben in Madrid, London oder New York, weil sie sich in ihrer Existenz bedroht sehen? Was ist so verwerflich und vermeintlich islamfeindlich daran, auf diese Tatsachen aufmerksam zu machen? Es geht nicht um platte Schuldzuweisungen, sondern darum zu ergründen, aus welchen Motiven Terroristen sich auf „den“ Islam berufen, warum sie ihre Taten mit Zitaten aus dem Koran und der Überlieferung sowie unter Verweis auf bestimmte Rechtsgelehrte (z.B. Ibn Taimiyya, 1263-1328) rechtfertigen. Es geht darum zu zeigen, dass sie dies zu Unrecht tun und die überwältigende Mehrheit der Muslime gegen sie steht. Diese Prüfung ist geboten.

Es gibt eine fatale Tendenz, bei der Diskussion dieses Themas sofort relativierend auf die vermeintlich gleichen Gewaltpotentiale in anderen Religionen zu verweisen und somit alle Religionen gleichzusetzen. Doch Religionen sind wie Regionalzüge und ICEs, die letzteren fahren schneller als die ersteren. Religionen befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien und es ist völlig legitim, darauf hinzuweisen, dass „der“ Islam, hier jetzt explizit verstanden als die dominant konservativ-orthodoxe und islamistische Interpretationsrichtung, im Blick auf die Akzeptanz von säkularem Staat, Menschenrechten, rechtsstaatlicher Demokratie, Pluralismus und politischer Gewalt entweder Nachholbedarf hat oder in deutlichem Widerspruch zu diesen Universalien verharrt. Es gibt theologische Denkfiguren, religiöse Praktiken und eingelebte kulturelle Verhaltensmuster im kulturell verschieden geprägten Volksislam der muslimischen communities, die von konservativ-orthodoxen Islaminterpretationen abgestützt werden und Anknüpfungspunkte für islamistische Interpretationen bieten. Das ist eine unangenehme Tatsache und daher wird selten darüber geredet.

Toleranz im Konflikt

Welchen Begriff und welches Verständnis von „Individuum“ finden wir in den herrschenden Interpretationen des Islam? Gibt es hier nicht eine wichtige Leerstelle, die erhebliche Bedeutung für die Begründung von individuellen Menschenrechten hat? Welcher Begriff von Toleranz und Religionsfreiheit wird entfaltet? Verharrt der Islam nicht auf der Stufe eines restringierten Toleranzbegriffes im Sinne der von Rainer Forst so treffend als „Erlaubnis-Toleranz“ bezeichneten Konzeption?17 Danach wird Toleranz im Sinne von „Duldung“ von einer Autorität gnädig gewährt. Wie wird der Wahrheitsanspruch des Islam in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vertreten? Ist der Islam hier zur Akzeptanz von Pluralismus und Gleichberechtigung anderer Religionen fähig oder bleibt er der scharfen Entgegensetzung von „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ (= kuffar) verhaftet? Solche Fragen bleiben meist im Rahmen eines intellektuellen Diskurses und führen bestenfalls zu rhetorischen Scharmützeln. Wer aber kulturelle „Andockpunkte“ offen benennt, wie z.B. Ayaan Hirsi Ali, die streitbare niederländische Islam-Kritikerin18, oder die türkischstämmigen mutigen Frauen wie Necla Kelek, Serap Cileli, Seyran Ates und Fatima Bläser, wird von Islamisten mit dem Tode bedroht oder zumindest als „unseriös“, Nestbeschmutzer“ und „Boulevardjournalist“ denunziert.19 Anachronistische „Ehrbegriffe“, „Machotum“, arrangierte Ehen, Zwangsheiraten, Segregation von Frauen sind z.B. einige solcher kulturellen Verhaltensmuster, die teilweise als vom Islam geboten legitimiert werden.

Die Islamwissenschaftlerin Silvia Kaweh erforschte in einer empirischen Studie über muslimische religionsvermittelnde Printmedien Selbst- und Fremdbilder muslimischer Gemeinschaften. Sie kam dabei zu einem ernüchternden Ergebnis. Aus einer überwiegend konservativ-orthodoxen Glaubenshaltung heraus, verbunden mit einem deutlichen Elitebewusstsein („die beste aller Religionen zu sein“ gemäß Sure 3,110), definieren sich viele muslimische Gemeinschaften in „Abgrenzung zur westlichen Gesellschaft oder zu bestehenden gesellschaftlichen Missständen“. Sie „tendieren zum Feindbild, das von Europa und Amerika entworfen wird. Man spricht beiden nicht nur jegliche religiös begründeten Werte ab, sondern degradiert Demokratie, Menschenrechte und das Rechtsstaatsprinzip, indem man diesen Systemen grundsätzlich heuchlerische und utilitaristische Tendenzen unterstellt.“ Das positive Gegenbild ist die idealisierte muslimische Gemeinschaft.20 Wenn die Trennlinie zu den „Kuffar“ (den „Ungläubigen“) scharf gezogen wird und ein massives Überlegenheitsbewusstsein zur Abwertung anderer Religionen führt, wenn unter dem Druck islamistischer Gruppen eine puritanische Orthopraxis durchgesetzt werden soll und der „Mehrheitsgesellschaft“ zugemutet wird, diese Praxis auch noch unter Orthodoxieschutz zu stellen, dann sind die Einfallstore für islamistische Einfluss-Strategien weit offen. Wenn solche bedenklichen Entwicklungen im „Dialog“ nicht oder nur unzureichend thematisiert werden, aus Harmoniesucht, Feigheit oder aus Furcht, „Beifall von der falschen Seite“ zu bekommen, dann liegt der Verdacht des „appeasement“ nahe. Damit ist weder den Muslimen noch uns gedient.

Zur Kritik der „Gewaltthese“

Eine pragmatische politische Konsequenz der skizzierten „Gewaltthese“ kann nur lauten: Wenn „der“ Islam grundlegend und wesenhaft „gewalttätig“ und nicht reformierbar wäre, weder von innen noch von außen, blieben nur noch die Optionen: Eindämmen, Ausgrenzen, Spalten und Bekämpfen. Wie das angesichts von ca. 15-20 Millionen Muslimen in Europa funktionieren soll, ist nicht vorstellbar, von den Folgen für die internationale Politik ganz abgesehen. Europa würde zum Zentrum des internationalen islamistischen Terrorismus werden, mit den europäischen Muslimen entweder als Geißeln oder Mittäter. Eine Horrorvorstellung! Es ist keine Frage, dass die europäischen Demokratien ohne Bündnispartner aus den muslimischen communities den extremistischen Islamismus und terroristischen Djihadismus nicht wirksam bekämpfen können. Deshalb muss nun nicht im Umkehrschluss eine Politik des Wohlverhaltens, der Anbiederung, der Verharmlosung problematischer Tendenzen, der Beschwichtigung („Appeasement“) und des Versöhnlertums gefahren werden. Wie in der EKD-Denkschrift ausgedrückt, müssen die Eckpunkte einer „Islam-Politik“ „Klarheit und gute Nachbarschaft“ sein. „Klarheit“ muss darin bestehen, „den“ Islam nicht essentialistisch als „gewalttätig“ zu verzeichnen und Muslimen Respekt vor ihren individuellen Glaubensüberzeugungen zu erweisen.

Die „Anhänger der Gewaltthese“ nehmen „den“ Islam nicht differenziert genug wahr, sie unterschätzen die im Islam auch wirkenden anti-islamistischen, friedensbereiten und reformerischen Potentiale. „Der“ Islam hat viele Gesichter, er zeigt sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher ethnischer, religiöser und kultureller Prägungen höchst differenziert. Genau diese Vielfalt ist den Islamisten ein Dorn im Auge, deshalb kämpfen sie für die Idee einer geeinten „umma“ nach ihren Vorstellungen. Regionale und lokale Traditionen stehen häufig im Widerspruch zu den Islamisierungsstrategien dieser Gruppen, was z.B. sehr deutlich in einigen afrikanischen Ländern und in Indonesien zu beobachten ist. Gegen die „Anhänger der Gewaltthese“ muss festgestellt werden: Der Islamismus ist keine unausweichliche Konsequenz des Islam, keine eiserne geschichtliche Notwendigkeit. Er ist eine Möglichkeit, aber es gibt auch einen Islam ohne Islamismus.21

Progressive Muslime suchen neues Verständnis des religiösen Erbes

Islam in seiner Vielfalt ist in Bewegung, er konstruiert sich neu, wie andere Religionen auch, denn er muss auf ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Wandel reagieren. Das kann rückwärtsgewandt, beharrend (orthodox-konservativ), halb-modernistisch-islamistisch oder auch mit klaren Reformperspektiven geschehen. Darum bemüht sich z.B. eine Reihe muslimischer Intellektueller, die wir hier mit dem Attribut „progressiv“ versehen wollen. Zu dieser losen Gruppe, die über den Globus verstreut lebt und arbeitet, gehören u.a. Ashgar Ali Engineer, Abudullahi An-Na’im, Nasr Abu Zayd, Farid Esack, Ebrahim Moosa, Abdolkarim Soroush, Muhammad Shabestari, Muhammad Shahrur, Khaled Abou El Fadl, Said Al-Ashmawi, Sadik al-Azm, Omid Safi, Abdelwahab Medebb, Farish A. Noor, Yasar Nuri Öztürk, Amina Wadud, Fatima Mernissi, Riffat Hassan, Kecia Ali, Nahed Selim, Leila Babès, Nawal El-Saadawi und Irshad Manji. Sie sind Teil einer experimentellen „Suchbewegung“, eines „work in progress“.22 Sie fragen nach der Reformierbarkeit des Islam und scheuen auch Tabus nicht. Ihr großer persönlicher Mut und ihre Bereitschaft, massive Repressionen auf sich zu nehmen, verdienen unseren Respekt und unsere Unterstützung. Nasr Abu Zayd hat vor einigen Jahren den Basiskonsens „progressiver“ Muslime in „Al-Ahram“ treffend beschrieben: „Wir benötigen die freie Erforschung unseres religiösen Erbes. Dies ist die erste Bedingung für eine religiöse Erneuerung. Wir müssen das Embargo über das freie Denken aufheben. Der Bereich der Erneuerung sollte unbegrenzt sein. Es gibt keinen Raum für abgesicherte (sakrosankte, von der kritischen Forschung ausgenommene) Zufluchtsorte der islamischen Lehre.“23 Die „progressiven Muslime“ arbeiten an den entscheidenden Fragen, die für die Entfaltung von Reformpotentialen im Islam zentral sind:

  • Die Frage nach der religiösen Autorität im Islam, ausgedrückt in den Worten Khaled Abou El Fadls: „Who speaks in the name of God?“;
  • die Frage nach dem Verhältnis von Scharia und Moderne;
  • die Frage nach einer Koranhermeneutik, die den Anschluss an historisch-kritische Forschungen findet;
  • die Frage nach dem Verhältnis von „Gottesrecht“ und „Menschenrecht“, d.h. nach Legitimation, Rolle und Grenzen religiöser Wahrheitsansprüche im Blick auf die ethisch-moralische Fundierung und Ausgestaltung politischer Systeme. Darin ist die immer wieder diskutierte Problematik des Verhältnisses von „Islam“ und Säkularität enthalten;
  • die Frage nach der Kompatibilität von universalen Menschenrechten, rechtsstaatlicher, pluralistischer Demokratie und den verschiedenen Interpretationsvarianten von Islam.

In der Frage des „djihad“ wenden sich „progressive Muslime“ entschieden gegen die Deutungshoheit der Islamisten. Farid Esack, einer der exponiertesten Vertreter einer islamischen „Theologie der Befreiung“, bestimmt beispielsweise aus seinem südafrikanischen Kontext heraus „djihad“ als Kampf für Gerechtigkeit und Solidarität.

Es sollte den „Anhängern der Gewaltthese“ auch nicht verborgen geblieben sein, dass muslimische Wissenschaftlerinnen intensiv an Fragen eines „islamischen Feminismus“ arbeiten und dabei das vorherrschende patriarchale Paradigma frontal angreifen. So hat Amina Wadud aus den USA ihre Mitschwestern im Glauben zu einer neuen Lesart des Koran, ja zum „Gender Djihad“ aufgerufen24 und verblüffte im März 2005 die Rechtsgelehrten mit einem Auftritt als Vorbeterin beim Freitagsgebet. Die wütenden Reaktionen aus ultra-konservativen und islamistischen Kreisen waren typisch und zeigten einmal mehr die Feindseligkeit gegen jede Neuerung.

Die Arbeit der „progressiven Muslime“ gibt Anlass zur Hoffnung, eine Hoffnung, welche die „Anhänger der Gewaltthese“ offenbar nicht mehr besitzen. Die Ideen der „Progressiven“ zeigen, dass es auch den Islam mit dem anderen, „fortschrittlichen“ Gesicht gibt, der sich Orthodoxie, Fundamentalismus und Islamismus entgegenstemmt.25 Dieser Islam, der auch in Europa seine Anhänger findet, wendet sich gegen Gewalt und setzt sich selbstkritisch mit den eigenen, auf Koran und Sunna gestützten, gewaltfördernden Traditionen auseinander. Dieser Islam sieht keine grundlegenden Widersprüche zwischen der Akzeptanz von Säkularität, Menschenrechten, rechtstaatlicher Demokratie und Islam. Die Chance, diesen Islam zu leben, ist gerade in den europäischen Demokratien gegeben. Hier können Muslime, ungehindert von staatlicher Repression und weitgehend frei von Drohungen, Einschüchterungen und Übergriffen islamistischer Fanatiker, eine offene und kontroverse Diskussion über die oben genannten wichtigen Fragen und Themen führen. Hier kann „Dialog“ als kritische Streitkultur wirklich praktiziert werden. Und hier kann sich auch eine islamische religiöse Praxis entfalten, die pluralistisch ist und den Muslimen (vor allem den Frauen!) nicht ein Alltagsleben nach den Normen des wahabitischen Islam, der Salafiya und des Islamismus aufzwingt.

Wie sich die muslimischen communities entwickeln werden, hängt sowohl von der Qualität des innermuslimischen Diskurses ab, als auch von den gesellschaftlichen und geistig-politischen Rahmenbedingungen in der „Mehrheitsgesellschaft“. Bundesinnenminister Schäuble hat am Tag nach Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz festgestellt: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft.“26 Wenn das so ist, so sollten wir differenzierter über „den“ Islam reden, aber weder uns noch den Muslimen eine kritische Diskussion ersparen. Wie sagte Islam-Kritikerin Ayaan Hirsi Ali treffend: „Es wäre erwachsener, sich gegenseitig die Wahrheit zu sagen.“27 So könnte „der“ Islam in Deutschland und Europa jene Gestalt annehmen, die mit Grundwerten und Traditionen eines christlich geprägten und aufgeklärten Europa vereinbar wäre.


Johannes Kandel


Anmerkungen

1 Henryk A. Broder, Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken, Berlin ³2006.

2 taz, 7. Oktober 2006.

3 Die Berliner Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer hat einmal – etwas überspitzt – formuliert: Islam ist „weitgehend das, was Muslime an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit als islamisch definieren und praktizieren“. (Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik, Baden-Baden 1999, 25)

4 Das ist auch der Grundtenor des „Offenen Briefes an seine Heiligkeit Papst Benedikt XVI.“ von 38 muslimischen Theologen und Rechtsgelehrten vom 12. Oktober 2006. Am Anfang des Briefes wird Sure 29,46 zitiert: „Und streitet nicht mit den Leuten der Schrift, außer mittels dem, was besser ist“. Khoury übersetzt den letzten Teil bezeichnenderweise anders: „außer mit denen die Unrecht tun.“ (Der Koran. Arabisch-Deutsch, übersetzt und kommentiert von Adel Theodor Khoury, Gütersloh 2004, 511)

5 Die Welt, 22. September 2001.

6 Aktuelle, umfassende Studie: David Cook, Understanding Jihad. Berkeley / Los Angeles / London 2005. Eine knappe Zusammenfassung der „klassischen“ Lehren in vergleichender Perspektive bietet: The Crescent and the Cross. Muslim and Christian Approaches to War and Peace, edited by Harfiyah Abdel Haleem / Oliver Ramsbotham / Saba Risaluddin / Brian Wicker, Basingstoke 1998, 60ff; vgl. ferner: Rudolph Peters, Jihad in Classical and Modern Islam, Princeton 1996; Adel Theodor Khoury, Was sagt der Koran zum Heiligen Krieg?, Gütersloh 1991; Albrecht Noth, Heiliger Krieg und Heiliger Kampf in Islam und Christentum, Bonn 1966; Majid Khadduri, War and Peace in the Law of Islam, Baltimore 1955.

7 Die „Abrogationstheorie“ (arab. „Nashk“ = Löschung, Veränderung, Auflösung, Ersetzung) beruht auf der Annahme, dass – trotz der grundsätzlichen Widerspruchsfreiheit des Koran – ältere Koranverse („ayahs“) durch jüngere ersetzt, d.h. „abrogiert“ wurden (Sure 2,106; 22,52; 16,101 u.a.) bzw. dass auch die Sunna Koranverse „abrogieren“ kann. Experten gehen von fünf bis 260 „abrogierten“ Koranversen aus. Zu dieser komplizierten und sehr umstrittenen Denktradition gibt es umfangreiches Schrifttum; vgl. John Burton, Naskh, in: EI², Bd. VII, 1009bff; Hans Zirker, Der Koran. Zugänge und Lesarten, Darmstadt 1999, 100ff; Farooq Ibrahim, The Problem of Abrogation in the Quran, www.answering-islam.org.uk/Authors/Farooq_Ibrahim/abrogation.htm.

8 Siehe den Artikel vom Greifswalder Althistoriker Egon Flaig, Der Islam will die Welteroberung, FAZ, 16. September 2006. In Reaktion darauf siehe den Leserbrief von Islamwissenschaftler Stefan Wild, FAZ, 27. September, und den Beitrag von Almut Höfert, Die glorreichen Tage des Dschihad sind Geschichte, FAZ, 19. Oktober 2006.

9 Stefan Rosiny, Der jihad. Eine Typologie historischer und zeitgenössischer Formen islamisch legitimierter Gewalt, in: Gelebte Religionen. Untersuchungen zur sozialen Gestaltungskraft religiöser Vorstellungen und Praktiken in Geschichte und Gegenwart, Festschrift für Hartmut Zinser zum 60. Geburtstag, hg. v. Hildegard Piegeler, Inken Prohl und Stefan Rademacher, Würzburg 2004, 148; Peters (Anm. 6), 103ff.

10 Diese These wurde von dem ägyptischen Islamisten Muhammad Al-Farag entfaltet. Farag, der wegen Beteiligung an der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar el-Sadat 1981 hingerichtet wurde, hatte in den siebziger Jahren eine Dissertation mit dem Titel „Die vernachlässigte Pflicht“ („al-Farida al-Gha’iba“) verfasst. Im Zentrum seiner Welteroberungsphantasien steht der Djihad als obligatorischer Krieg gegen die muslimischen „Apostaten“ und die „Ungläubigen“. Seine Schrift ist bis heute ein islamistisches Standardwerk und eine Handlungsanleitung zum bewaffneten Kampf. Im Frühjahr 2005 fanden Fahnder des Bundeskriminalamtes bei mehreren Razzien in Süd- und Westdeutschland eine (gute) deutsche Übersetzung von Teilen des Manuskripts; vgl. Elmar Theveßen, Terroralarm. Deutschland und die islamistische Bedrohung, Berlin 2005, 119ff.

11 Vgl. die Textsammlung zur Ideologie Al-Qaidas: Al-Qaida. Texte des Terrors, hg. und kommentiert von Gilles Kepel und Jean Pierre Milelli, München / Zürich 2006.

12 Vgl. dazu Patrick Franke, Rückkehr des Heiligen Krieges? Djihad-Theorien im modernen Islam, in: André Stanisavljevic / Ralf Zwengel (Hg.), Religion und Gewalt. Der Islam nach dem 11. September, Potsdam 2002, 47ff.

13 Yoceline Césari, When Islam and Democracy Meet. Muslims in Europe and in the United States, Basingstoke 2004, 111ff.

14 Vgl. Johannes Kandel, „Dialog“ mit Muslimen – ein kritischer Zwischenruf, in: Hans Zehetmair (Hg.), Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog, Wiesbaden 2005, 321ff.

15 Bild am Sonntag, 1. Oktober 2006.

16 Tagesspiegel, 1. Oktober 2006; taz, 2. Oktober 2006.

17 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/Main 2003, 42f.

18 Ayaan Hirsi Ali, Ich klage an. Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, München / Zürich 2004.

19 Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln 2005; dies., Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes, Köln 2006; Seyran Ates, Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin, Berlin 2003; Serap Cileli, Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre, München ²2006; Fatima B., Henna Mond, Wuppertal 1999.

20 Silvia Kaweh, Integration oder Segregation. Religiöse Werte in muslimischen Printmedien, Nordhausen 2006, 191ff.

21 Vgl. dazu Johannes Kandel, Islamismus als politische Ideologie, in: R. Hempelmann / J. Kandel (Hg.), Religionen und Gewalt, Göttingen 2005, 277ff.

22 Vgl. die glänzende Übersicht von Christian W. Troll, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam, Berlin 2005 (= Islam und Gesellschaft Nr. 4, hg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin); ders., Islamische Stimmen zum gesellschaftlichen Pluralismus, in: Der europäische Islam. Eine reale Perspektive?, hg. v. der Katholischen Akademie Berlin, Berlin 2001, 55ff; Charles Kurzman (ed.), Liberal Islam. A Sourcebook, New York / Oxford 1998; Omid Safi (ed.), Progressive Muslims: On Justice, Gender, and Pluralism, Oxford ²2004; Jon Armajani, Dynamic Islam. Liberal Muslim Perspectives in a Transnational Age, Dallas / Lanham / Boulder / New York / Oxford 2004; Katajun Amirpur / Ludwig Ammann (Hg.), Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg / Basel / Wien 2006 (vgl. die Rezension von Ulrich Dehn in dieser Ausgabe des MD, 118f).

23 Abu Zayd, 2002, http://weekly.ahram.org.eg/2002 .

24 Amina Wahud, Qur’an and Women. Rereading the Sacred Text from a Woman’s Perspective, New York / Oxford 1999; dies., Inside the Gender Jihad. Women’s Reform in Islam, Oxford 2007.

25 Siehe dazu jetzt Khaled Abou El Fadl, The Great Theft. Wrestling Islam from the Extremists, New York 2006.

26 Bulletin der Bundesregierung Nr. 93-1 vom 28. September 2006.

27 Ayaan Hirsi Ali, Die schleichende Scharia. Interview, FAZ, 4. Oktober 2006.