Helmut Wiesmann

Wie islamisch ist der „Islamische Staat“?

Die exzessive Grausamkeit der Terror-Organisation „Islamischer Staat“, ihr Anspruch, einen islamrechtlich legitimen Dschihad zu führen, und die Postulierung eines islamischen Kalifats werfen eine Reihe von Fragen auf, die sich in der Frage nach der Islamizität des IS bündeln – eine Frage, die längst begonnen hat, das Bild des Islam in Deutschland zu verdüstern und das Klima zu vergiften: Laut Sonderauswertung „Islam“ des Religionsmonitors der Bertelsmann-Stiftung vom 8. Januar 2015 nehmen 57 % der Bundesbürger den Islam als Bedrohung wahr. Zudem sind 61 % der Auffassung, der Islam passe nicht in die westliche Welt.

Offiziellen Angaben zufolge sind über 700 junge Muslime aus Deutschland zur Unterstützung des IS ausgereist, weit über 1000 aus Großbritannien und ebenfalls über 1000 aus Frankreich. Von ihnen wird, wenn sie zurückkehren, eine weitere Zunahme islamistischer Anschläge in Europa befürchtet. Solche Zahlen und mit ihnen verbundene Ängste bestärken manche Islamkritiker in ihrer Gleichsetzung von Islam und Gewalt. Manche Islam-Apologeten hingegen sehen sich in ihrer Klage über Islamophobie als Ursache einer solchen Gleichsetzung bestätigt.

Der Begriff Islamophobie unterscheidet nicht zwischen sachlicher Kritik und böswilliger Hetze, sondern erklärt beides zur Angelegenheit von Therapeuten. Dadurch entzieht er notwendiger geistiger Auseinandersetzung schleichend die Legitimität. Zweifellos trifft der Islam in Europa nicht nur auf freundliche Akzeptanz, sondern auch auf Ablehnung. Laut Washingtoner Meinungsforschungsinstitut „Pew Research Center“ beurteilen 33 % der erwachsenen Deutschen die Muslime negativ – gegenüber 46 % der Spanier, 50 % der Polen und 63 % der Italiener. Auf geringere Ablehnung als in Deutschland stoßen Muslime in Großbritannien (26 %) und Frankreich (27 %).

Ablehnung des Islam speist sich aus verschiedenen Quellen. Zu unterscheiden ist insbesondere zwischen Feindschaft gegenüber und Angst vor dem Islam. Bei der Bekämpfung von Hetze gegen den Islam sind Staat, Gesellschaft und Kirchen gefordert, der Staat notfalls auch mit den Mitteln des Strafrechts. Bei der Bekämpfung von Angst vor dem Islam indessen sind nicht nur Gesellschaft und Kirchen, sondern die Muslime auch selbst gefordert.

Deshalb ist es wichtig, dass sich die muslimischen Organisationen in Deutschland deutlich von den unmenschlichen Grausamkeiten des IS distanziert haben. So erklärt z. B. der Zentralrat der Muslime (ZMD): „Die Vertreibung der irakischen Christen durch die terroristische ISIS ist ein Akt des Unrechtes, ist gegen den Islam, verstößt gegen internationales Recht und gegen die Menschlichkeit.“1 Bei der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) heißt es: „Die islamische Religion gestattet in keinem Fall, Menschen aufgrund ihrer Sprache, Religion und Konfession zu töten, zu foltern oder anderweitig unmenschlich zu behandeln oder aus ihrer Heimat zu vertreiben.“2 Solche Aussagen müssen wahrgenommen und gewürdigt werden. Zu begrüßen ist das damit bekundete Selbstverständnis des Islam als einer friedlichen Religion, die einem im Koran verankerten allgemeinen Tötungsverbot unterliege3 und mit den Verbrechen des IS nichts zu tun habe. Vom koranischen Wortlaut und den Überlieferungen des Propheten sind solche Aussagen mitunter aber nicht gedeckt. So ist zum Beispiel das koranische Tötungsverbot kein umfassendes, sondern nur ein sehr begrenztes.4 Es bedarf daher einer größeren Bereitschaft, sich inhaltlich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass der „Islamische Staat“ seine Taten durch Bezugnahme auf Koran und Sunna, die den Muslimen heiligen Traditionen des Islam, zu begründen und zu legitimieren sucht.

Zur Entstehung des „Islamischen Staates“

Der „Islamische Staat“ geht auf eine Organisation zurück, die im Jahr 2004 von dem jordanischen Terroristen Abu Mussab al-Zarqawi (1966 – 2006) als irakischer Ableger von al-Qaida gegründet und im Januar 2006 in ein Bündnis dschihadistischer Milizen unter der Leitung von Abu Omar al-Bagdādī (1947 – 2010) integriert wurde. Schon bald nach Zarqawis Tod wurde sie im Oktober 2006 in „Islamischer Staat im Irak“ umbenannt. An dessen Spitze wurde 2010 Ibrahim Awwad Ali al-Badri gewählt, der sich Abu Bakr al-Bagdādī al-Husseini al-Qurashi nennt.

Kurz nach Ausbruch des Aufstands gegen Assad entsandte al-Bagdādī im Winter 2011 eine Gruppe von Kämpfern unter der Leitung von Abu Muhammad al-Jolani nach Syrien. Diese Gruppe nennt sich seit Januar 2012 „Front für die Unterstützung der Leute von Sham [= Syrien]“, bekannt als Nusra-Front, und firmiert als syrischer Ableger von al-Qaida. Im April 2013 benannte al-Baghdadi sein irakisches Gebilde um in „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) und versuchte, beide al-Qaida-Zweige unter diesem Namen zusammenzufassen und von al-Qaida zu lösen. Dies gelang ihm nur unvollständig, weil al-Jolani und ein Teil seiner Leute sich weigerten und bis heute an ihrer Anbindung an al-Qaida festhalten. Al-Bagdādī kündigte indessen im Mai 2013 al-Qaida seine Gefolgschaft auf. Nach der Eroberung von Mossul erklärte ISIS am 29. Juni 2014 die Wiederherstellung des Kalifats unter Führung von al-Bagdādī als dem Befehlshaber der Gläubigen und nahm unter Wegfall jeglicher geografischer Begrenzung den Namen „Islamischer Staat“ an.5

Es trifft nach allem, was wir heute wissen können, zu, dass es nicht zuletzt ehemalige Offiziere aus Armee und Geheimdiensten von Saddam Hussein waren, die aus den Überbleibseln des um die Jahre 2009/2010 schon besiegt geglaubten irakischen al-Qaida-Ablegers mit diabolischer Intelligenz und den unter Saddam Hussein üblichen Geheimdienstmethoden eine Terrororganisation errichtet haben, die al-Qaida heute in den Schatten stellt.6 Es gibt also Gründe, den IS als so etwas wie die Rache von irakischen Baathisten zu betrachten. Der selbsternannte Kalif wäre dann so etwas wie eine Puppe in den Händen von Zynikern, die sich für ihren Machtverlust infolge des Sturzes von Saddam Hussein durch die USA rächen.

Es wurde des Weiteren auch sehr überzeugend dargestellt, dass der syrische Diktator Assad die ersten vermeintlich islamistisch begründeten Terroranschläge in Damaskus selbst inszeniert und die bald darauf auftretenden authentischen islamistischen Aufständischen massiv gefördert hat, um sein brutales Vorgehen gegen den zunächst friedlichen „arabischen Frühling“ in seinem Lande legitimieren zu können.7 Zum Verständnis des schwer zu überblickenden Bürgerkriegs in Syrien gehört die Erkenntnis, dass – vereinfacht ausgedrückt – der Diktator und der IS lange Zeit keineswegs gegeneinander gekämpft haben, sondern wie in einem informellen Bündnis bei der Bekämpfung der Kräfte des arabischen Frühlings und der gemäßigten islamischen Opposition kooperiert haben. Vor diesem Hintergrund sind apologetische Beteuerungen, mit alledem habe der Islam nichts zu tun, verständlich und bis zu einem gewissen Punkt auch nachvollziehbar.

Es reicht aber nicht aus, den IS als Rache von Baathisten oder als Geist zu deuten, den man aus der Flasche gelassen hat und nun nicht mehr beherrschen kann. Seine Hintermänner mögen ehemalige Offiziere des irakischen Baath-Regimes oder Zyniker oder beides sein, seine Warlords mögen anfangs von Assad oder auch aus den Golfstaaten oder der Türkei8 gefördert worden sein – es geht indessen auch um etwas anderes.

Über den neuen Kalifen Ibrahim Awwad Ali al-Badri, der sich Abu Bakr al-Bagdādī al-Husseini al-Qurashi nennt, sagt eine im Internet unter Pseudonym von dem salafistisch-dschihadistisch geprägten Turki al-Binali veröffentlichte Biografie, dass er 1971 in Samara nördlich von Bagdad in eine mit dem Stamm der Quraish verbundene Familie geboren wurde. Inwieweit diese Angaben der Realität oder der Legende entsprechen, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Weist bereits die Wahl des Beinamens al-Bagdādī auf den Kalifatsanspruch hin, so stellt der weitere Beiname al-Qurashi den neuen Kalifen in die besondere Nähe zum Propheten, der dem Stamm der Quraisch entstammte, aus dem nach Auffassung vieler Muslime auch seine Nachfolger zu bestimmen waren. Als sehr wahrscheinlich gilt, dass al-Badri an der Islamischen Universität Bagdad mit einer Arbeit zum islamischen Recht promoviert worden war. Weit wichtiger noch ist, was Fachleute darüber hinaus als gesichert ansehen: Al-Badri wurde 2004 von den Amerikanern gefangengenommen und im Camp Bucca interniert. In diesem Lager haben sich salafistisch-dschihadistische Aufständische und ehemalige Baathisten, die sich bereits unter Saddam Hussein zu „islamisieren“ begonnen hatten, zu einer strategischen Allianz zusammengeschlossen.9

Vor diesem Hintergrund stößt das Gründungsmanifest des „IS“ auf Interesse. Es stammt von Oktober 2006 und bekundete den Willen zu einer genuin islamischen Staatsgründung.10 Dieses Manifest liefert zunächst die politische und dann die religiöse Rechtfertigung der Staatsausrufung. Man berief sich auf ein Hadith, welches besagt, dass Muslime von einem Muslim regiert werden müssen: Befänden sich auch nur drei muslimische Personen auf fremdem Boden, seien sie verpflichtet, einen zu ernennen, dessen Befehlen sie folgten,11 nämlich den Amir oder Emir, den Befehlshaber. Die Bezeichnung Amir al muminin (Anführer der Gläubigen), die schon zur Zeit der ersten vier Kalifen in Gebrauch war, führt nicht erst der 2014 ausgerufene „Kalif“, sondern ihn hatte auch bereits Abu Omar al-Bagdādī geführt, der 2010 bei einem Raketenangriff getötet wurde.

Von der Terror-Organisation zum Kalifat

Spätestens von 2006 an haben wir es mithin nicht mehr nur mit Terrorismus und Machtpolitik, sondern auch mit dem Versuch einer islamisch begründeten Staatsbildung zu tun, die von Anfang an auf die Wiedererrichtung des Kalifats zielte. Sich nicht nur zum Kalifat als fernem Endziel zu bekennen, sondern es Schritt für Schritt in die Realität umzusetzen, dies macht den entscheidenden Unterschied zwischen der Terrormiliz IS und al-Qaida sowie allen anderen früheren salafistisch-dschihadistischen Bewegungen aus. Die Eroberung von Territorium unter Berufung auf den islamischen Dschihad und die Unterwerfung großer Teile der irakischen und syrischen Bevölkerung unter die Autorität des „Kalifen“ verlaufen bislang so erfolgreich, dass weder Iraker, Syrer und die im Auftrag Irans kämpfende Hizbullah noch die Luftangriffe der USA und einiger Verbündeter den IS bisher entscheidend haben bremsen können.

Wir können uns im Internet davon überzeugen, dass die Propagandisten des selbsternannten Kalifen sich modernster Mittel und Methoden bedienen und gerade Grausamkeit erfolgreich als Werbemittel benutzen. Zugleich aber müssen wir feststellen, dass sich vor allem die Propagierung von Kalifat und Dschihad, verbunden mit millenaristischen Visionen, hervorragend zur Mobilisierung von Kämpfern, Selbstmordattentätern und sonstigen Unterstützern aus der islamischen und selbst aus der nichtislamischen Welt eignen.12 Amerikanische Fachleute beziffern die Zahl der Muslime, die aus über 100 Ländern in aller Welt zur Unterstützung des – vermeintlichen – Dschihad nach Syrien oder in den Irak gereist sind, inzwischen auf 30 000 – eine Dimension, die den damals von den USA und von Saudi-Arabien geförderten Dschihad gegen die Rote Armee in Afghanistan weit in den Schatten stellt.

So stehen wir erneut vor der Frage nach der Islamizität des IS. Auf der empirischen Ebene müssen wir feststellen, dass der IS mit der Einsetzung eines Kalifen ein Projekt verfolgt, das seit Abschaffung des Kalifats durch die moderne Türkei von nahezu allen seitdem entstandenen islamistischen Strömungen – wenngleich auf je sehr verschiedene Weise – geteilt wird. Für den deutschen Sprachraum sei in diesem Zusammenhang auf die damals grotesk anmutenden Bestrebungen des sogenannten Kalifen von Köln13 und auf die gleichzeitig einsetzende Propagierung des Kalifats durch den jüngst verstorbenen vielgelesenen deutsch-ägyptischen Autor und Übersetzer Muhammad Ahmad Rassoul verwiesen.14 Auf der normativen Ebene bleibt der Frage nachzugehen, ob der IS sich zu Recht auf den Islam beruft und ob er seinen Krieg tatsächlich als Dschihad bezeichnen kann.

Hier allerdings geraten wir auf schwieriges und unwegsames Terrain. Das im Mittelalter aus dem Koran und dem Vorbild des Propheten, verbunden mit verschiedenen Methoden der Rechtsschöpfung, entwickelte islamische Recht liefert uns gerade im Bereich der Lehre vom Dschihad keine eindeutigen Antworten. So lautet ein eigentlich zwingender Grundsatz, der im Zusammenhang mit dem IS von Bedeutung ist, dass der Dschihad nur gegen Nichtmuslime geführt werden darf. Gegen diesen Grundsatz verstößt der IS, indem er nicht nur Christen und Jesiden, sondern auch schiitische und solche sunnitischen Muslime bekämpft, die sich seinem Herrschaftsanspruch nicht beugen. Für diesen Verstoß aber gibt es ein historisches Vorbild, dessen Islamizität allenfalls vereinzelt infrage gestellt wird: Bereits die Familie al-Saud hat ihre Eroberungskriege bis zur Gründung Saudi-Arabiens durch Gelehrte der Familie al-Wahhab als Dschihad legitimieren lassen, obwohl sie sich gegen Muslime und sogar auch gegen den osmanischen Sultan-Kalifen richteten.

Allgemein gelten bei der Frage nach den islamischen Normen folgende Feststellungen: Bei der Auslegung des Korans gibt es keine allgemein verbindliche Hermeneutik und auch nur weitgehend, nicht aber allgemein anerkannte Methoden. Das für den gläubigen Muslim fast in gleichem Maße wie der Koran normative Vorbild des Propheten wird mithilfe von vielen Tausend Einzelüberlieferungen übermittelt, über deren Authentizität, wenn überhaupt, dann nur teilweise Konsens besteht. So geht etwa die Muhammad zugeschriebene, angeblich nach der Schlacht von Badr im Jahre 624 vorgenommene Unterscheidung zwischen dem kleinen, d. h. militärischen Dschihad und dem großen Dschihad, dem Kampf gegen die eigenen menschlichen Unvollkommenheiten, auf ein Hadith zurück, das sich weder in den sechs als kanonisch geltenden Hadith-Sammlungen noch im Musnad des Ahmad Ibn Hanbal identifizieren lässt15 und dessen Authentizität daher gerade von solchen Muslimen verneint wird, die den Dschihad-Begriff militärisch deuten.

Dem Kalifen fehlt der Konsens der Muslime

Trotz dieser Einschränkungen müssen wir die normative Ebene nicht mit leeren Händen verlassen. Eine Fatwa britischer Imame verbot es im September 2014 britischen Muslimen, den IS zu unterstützen. Im August 2014 hat der Rat der islamischen Gelehrten in Indonesien den IS als haram (verboten) erklärt. Der Großmufti Ägyptens sprach dem IS das Recht ab, sich „Islamischer Staat“ zu nennen. Der oberste Mufti von Saudi-Arabien stellte fest, dass der IS mit seinen Verbrechen die islamischen Prinzipien und Lehren verletze, und bezeichnete ihn als „Feind Nummer eins“ des Islam.16 Spätestens mit letztgenannter Verurteilung wird deutlich, dass solche Aussagen sich auch den in den jeweiligen Ländern gegebenen politischen Umständen verdanken. So haben etwa saudische Intellektuelle darauf hingewiesen, dass der IS in der Bevölkerung arabischer Staaten nirgends so viele Sympathien genieße wie in Saudi-Arabien. Die Familie al-Saud muss sich in besonderer Weise vom IS bedroht sehen, der ihr mithilfe des Kalifatsanspruchs möglicherweise eines Tages die Herrschaft über die Heiligen Städte bestreiten könnte.

Uns kommt vor diesem Hintergrund ein im September 2014 veröffentlichter offener Brief von 126 islamischen Autoritäten zu Hilfe, die aus verschiedenen Teilen der Welt kommen. Er richtet sich an „Dr. Ibrāhīm ’Awwād al-Badrī alias ‚Abū Bakr al-Bagdādī‘ und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten Islamischen Staates“17. Die 126 Gelehrten wenden sich an al-Badrī in Form einer islamrechtlichen Disputation unter Kollegen und zeigen ihm in 24 Einzelpunkten seine Irrtümer auf.

Einer dieser Einzelpunkte von zentraler Bedeutung ist die Zurückweisung des Kalifatsanspruchs. Die Begründung dafür lautet, dass ein Kalif des Konsenses der Muslime bedürfe. Das ist zwar richtig, aber dieser Einwand führt nicht weit. Nirgends ist verbindlich und hinreichend eindeutig festgelegt, welche Kriterien gegeben sein müssen, damit ein solcher Konsens als vorhanden festgestellt werden kann. Ein britischer Verfechter der Kalifatsidee, Reza Punkhurst, verlangt für die Einsetzung eines Kalifen eine gesicherte Staatsqualität, die er im Falle des IS verneint, und einen Konsens der dafür legitimierten Entscheidungsträger – ohne dass er präzisieren könnte, wer diese im Falle des IS denn zu sein hätten. Sicher ist dabei lediglich, dass es nicht etwa um einen Konsens der Muslime weltweit, sondern um den Konsens der führenden Kräfte eben des „Islamischen Staates“ geht.18 Ferner hat die islamische Geschichte gezeigt, dass der notwendige Konsens auch dann als gegeben gelten kann, wenn er festgestellt wird, nachdem ein Usurpator sich militärisch als Kalif durchgesetzt hat.19 Letztlich hängt die Legitimität des Kalifatsanspruchs demnach davon ab, ob derjenige, der ihn erhebt, ihn auch in der Realität durchsetzen kann. Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass die 126 islamischen Autoritäten den Kalifatsgedanken als solchen in keiner Weise infrage stellen. Der von Islamisten befeuerten Sehnsucht vieler Muslime nach der Wiederherstellung des von Mustafa Kemal gen. Atatürk abgeschafften Kalifats setzen sie nichts entgegen.

Die Lehre vom Dschihad bleibt gültig

Im Mittelpunkt des offenen Briefes steht die Widerlegung des Anspruchs des selbsternannten Kalifen, einen legitimen Dschihad zu führen. Das Ergebnis der fünf Textseiten umfassenden Prüfung lautet, dieser Krieg sei als ein „Jihad ohne legitime Gründe, Ziele, Methode und Absicht kein Jihad, sondern vielmehr Kriegstreiberei und Kriminalität“. Als positiv ist weiterhin zu werten, dass die 126 Autoren den Dschihad nur als Verteidigungskrieg verstanden wissen wollen, wie es der Auffassung der überwiegenden Mehrheit der heutigen islamischen Gelehrten entspricht. Im Widerspruch zu der von al-Badri und anderen islamistischen Extremisten vertretenen Auffassung vom Dschihad als einer sechsten und wichtigsten Glaubenspflicht stellen die Autoren ausdrücklich fest, dass es auch ein Leben ohne Dschihad geben könne, denn „die Muslime können in Umstände geraten“, in denen ein Dschihad „nicht notwendig ist“.

Hierzu bleibt kritisch anzumerken, dass die 126 islamischen Autoritäten keinerlei Zweifel an der Fortgeltung der im Mittelalter entwickelten Lehre vom Dschihad aufkommen lassen. Diese Lehre wird lediglich sozusagen um einzelne moderne Elemente ergänzt. So werden Journalisten „Sendboten“ und Jesiden „Schriftbesitzern“ gleichgestellt, um zu begründen, dass Angehörige dieser Gruppen nicht getötet werden dürfen. Darüber hinaus wird der militärisch verstandene Dschihad als tugendhaft gerühmt. Schließlich enthält der offene Brief folgende Verhältnisbestimmung zwischen dem kleinen und dem großen Dschihad: Wenn der militärische Dschihad im Geiste des spirituellen Dschihad geführt wird, dann sehen die 126 islamischen Autoritäten in ihm auch in der heutigen Zeit den Weg zum Frieden.

Bei alledem bleibt zu ergänzen, dass die 126 Autoren dem selbsternannten Kalifen und seinen Kämpfern die Bereitschaft zugutehalten, sich im Dschihad opfern zu wollen. Keineswegs wird ihre Zugehörigkeit zum Islam in Zweifel gezogen. Eine sorgfältige Analyse der politischen, militärischen, ideologischen und religiösen Elemente, die den IS ausmachen, kommt zu dem Ergebnis, dass der IS sich unbedingt „auf dem Feld des Islam“ situiert, allerdings mit der wichtigen Präzisierung, dass die Handlungsweisen und der Diskurs des IS ihn in einem „Orbit“ positionieren, der „vom Gravitätszentrum der Mehrheit des heutigen sunnitischen Islam weit entfernt“ ist.20 Dieser Studie zufolge handelt es sich beim „Islamischen Staat“ um eine zugleich revolutionäre und apokalyptische Fortentwicklung des salafistischen Dschihadismus in engster Verwandtschaft mit dem saudi-arabischen Wahhabismus. Als Beispiel für die vielen Hinweise auf diese Verwandtschaft führt ihr Autor folgenden Umstand an: Im Februar 2015 verteilten die Behörden des IS den von den Schulen auf seinem Gebiet umzusetzenden neuen Lehrplan. Davon sind 25 Seiten der Physik einschließlich der Chemie gewidmet, 30 Seiten je der arabischen und der englischen Sprache, 37 Seiten der Biologie und 64 Seiten der Mathematik. Der Löwenanteil aber, nämlich 179 Seiten, entfällt auf das Studium des Monotheismus aus der Feder von Muhammad Abdul al-Wahhab, dessen Bündnis mit dem Stammvater der Al-Saud bis heute die Grundlage des saudi-arabischen Königreichs bildet.

Eine offene, vor allem auch innerislamische Debatte über die Fehlentwicklungen, die einen salafistischen Dschihadismus hervorgebracht haben, der auch die Muslime selbst bedroht, ist angesichts der Herausforderungen durch den „Islamischen Staat“ dringender denn je. Das Vertrauen in die Möglichkeit eines friedlichen und einander bereichernden Miteinanders der Religionen könnte andernfalls weiter erodieren.


Helmut Wiesmann, Bonn


Literatur

Abedin, Mahan: Islam: the Caliphate debate – Interview with Reza Pankhurst, in: Religioscope, 29. Juli 2014, http://religion.info/english/interviews/article_646.shtml#.VdrnObX76os (alle Internetseiten abgerufen am 8.10.2015)

Baehr, Dirk: Jugendliche Dschihadisten – Radikalisiert der Islam?, http://de.qantara.de/inhalt/jugendliche-dschihadisten-radikalisiert-der-islam 

Birke, Sarah: How ISIS Rules, www.nybooks.com/articles/archives/2015/feb/05/how-isis-rules 

Croitoru, Joseph: „Islamischer Staat“. Das Gründungsdokument der Terrorherrschaft, in: FAZ, 25.11.2014, www.faz.net/aktuell/feuilleton/islamischer-staat-rechtfertigung-der-terrorherrschaft-13285859.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 

Crooke, Alastair: Middle East Time Bomb: The Real Aim of ISIS Is to Replace the Saud Family as the New Emirs of Arabia. www.huffingtonpost.com/alastair-crooke/isis-aim-saudi-arabia_b_5748744.html,  veröffentlicht am 2.9.2014, letztmals überarbeitet am 2.11.2014

Crooke, Alastair: You Can‘t Understand ISIS If You Don‘t Know the History of Wahhabism in Saudi Arabia. http://www.huffingtonpost.com/alastair-crooke/isis-wahhabism-saudi-arabia_b_5717157.html , veröffentlicht am 27.8.2014, letztmals überarbeitet am 27.10.2014

El Difraoui, Asiem: Götzendienst im Kalifat, www.zenithonline.de/deutsch/politik/a/artikel/goetzendienst-im-kalifat-004312 

Günther, Christoph: Ein zweiter Staat im Zweistromland? Genese und Ideologie des Islamischen Staates Irak, Würzburg 2014

Moos, Olivier: L’Etat Islamique, in: Cahiers de l’Institut Religioscope, Nr. 13, August 2015

Offener Brief an Dr. Ibrāhīm ’Awwād al-Badrī alias „Abū Bakr al-Bagdādī“ und an die Kämpfer und Anhänger des selbsternannten „Islamischen Staates“, http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis 

Rassoul, Muhammad Ahmad: Das Deutsche Kalifat, Köln 1993

Reuter, Christoph: Die schwarze Macht: Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors, München 2015

Ruthven, Malise: Lure of the Caliphate, www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2015/feb/28/lure-caliphate-isis 

Wood, Graeme: What ISIS Really Wants, www.theatlantic.com/features/archive/2015/02/what-isis-really-wants/384980 

Anmerkungen

  1. Vgl.: ZMD zur Situation der Christen im Irak: Solidarität mit Menschen in Not ist eine menschliche Pflicht und ein verbindlicher Maßstab für alle! Erklärung des ZMD vom 1. Juli 2014.
  2. Vgl. Erklärung vom 11. August 2014.
  3. Die bereits zitierte Erklärung von DITIB lautet hierzu: „Der Islam, welcher besagt, dass ‚das Töten eines Menschen ein genauso großes Verbrechen und Sünde ist, als hätte man die ganze Menschheit getötet‘ (Sure 5 Vers 32), ist fern allen (sic!) schlechten Zuschreibungen und Diffamierungen.“
  4. Es gilt dem Wortlaut von Sure 5,32 zufolge nur dann, wenn der Getötete keinen Mord begangen oder sonst nicht auf der Erde Unheil gestiftet hat.
  5. Vgl. Olivier Moos: L’ Etat Islamique.
  6. Vgl. Christoph Reuter: Die schwarze Macht.
  7. Vgl. ebd.
  8. Die türkische Staatsanwaltschaft hat Ende Mai 2015 Ermittlungen gegen Verantwortliche der Tageszeitung „Cumhuriyet“ eingeleitet, nachdem diese Bilder von Waffen veröffentlicht hatte, die nach Darstellung der Zeitung in Lkws der Nationalen Geheimdienstorganisation der Türkei (MİT) aufgefunden wurden, die für Syrien bestimmt waren, vgl. http://dtj-online.de/waffen-nach-syrien-cumhuriyet-veroeffentlicht-videoaufnahmen-54645 ; www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2015/05/512820/cumhuriyet-ermittlungen-wegen-kritischem-bildmaterial (die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden zuletzt abgerufen am 8.10.2015). Vgl. auch die Aussagen der Wolfsburger Angeklagten Ayub B. und Ebrahim B. über ihre Anwerbung, ihre Einreise nach Syrien über die Türkei und über die Rückkehr von Ayub B. nach Deutschland, über die die F.A.Z und der Spiegel mehrfach berichteten, z. B. unter www.spiegel.de/politik/deutschland/celle-prozess-gegen-is-kaempfer-aus-wolfsburg-a-1050956.html.
  9. Vgl. Olivier Moos: L’ Etat Islamique.
  10. Vgl. Christoph Günther: Ein zweiter Staat im Zweistromland?
  11. Vgl. Joseph Croitoru: „Islamischer Staat“.
  12. Vgl. z. B. Malise Ruthven, Lure of the Caliphate.
  13. Die Kalifatsbewegung von Cemaleddin und Metin Kaplan hatte sich 1983 bis 1984 vom deutschen Zweig der Milli-Görüş-Bewegung abgespalten, der seinerseits 1991 das osmanische Amt des Şeyh ül-islam wiederbegründete.
  14. Vgl. Muhammad Ahmad Rassoul: Das Deutsche Kalifat. Das Werk wird im islamischen Internetbuchhandel angeboten, ist derzeit aber nicht lieferbar, http://basari.de/islamische-buecher/islam-allgemein/1994/das-deutsche-kalifat.
  15. Vgl. Tilman Nagel: Angst vor Allah? Auseinandersetzungen mit dem Islam, Berlin 2014, 209-2012 und 362-364.
  16. Vgl. den Beitrag von P. Christian Troll SJ für die Neue Bildpost. Er antwortete auf Fragen des Redakteurs Thorsten Fels, Neue Bildpost, Nr. 9, 28. Februar/1. März 2015, 2f.
  17. Vgl. Offener Brief an Dr. Ibrāhīm ‘Awwād al-Badrī.
  18. Vgl. z. B. Mahan Abedin: Islam: the Caliphate debate – Interview with Reza Pankhurst.
  19. Dies muss Punkhurst im Gespräch mit Maham Abedin schließlich einräumen.
  20. Vgl. Olivier Moos: L’ Etat Islamique.