Michael Utsch

Wer sorgt für die Seele eines kranken Menschen?

Das Konzept „Spiritual Care“ als Herausforderung für die christliche Seelsorge

Eine schwere Erkrankung betrifft den ganzen Menschen, nicht nur ein Körperteil. Die Rolle der Seelsorge, die früher für Trost, geistliche Unterstützung und Begleitung zuständig war, hat sich mit dem Aufkommen professioneller spiritueller Begleitung verändert. Denn in der Medizin hat sich in den letzten Jahren im Rahmen der Palliativversorgung ein bemerkenswerter Wandel vollzogen. Für diejenigen Menschen, denen kurativ nicht mehr zu helfen ist, sollen durch spezielle palliative Maßnahmen die letzten Lebensmonate und -wochen so angenehm wie möglich gestaltet werden. Standen früher allein das körperliche und psychische Wohlbefinden im Zentrum, beschäftigt sich die Palliativversorgung zunehmend auch mit existenziellen und religiösen Themen. Viele wissenschaftliche Studien haben nämlich unmissverständlich gezeigt, dass die Zufriedenheit von Schwerkranken und Sterbenden insbesondere von der Berücksichtigung und Erfüllung ihrer spirituellen Bedürfnisse abhängt.1

Deshalb werden neuerdings an der Münchener medizinischen Fakultät angehende Ärzte in spiritueller Begleitung ausgebildet. Dort gibt es seit dem Jahr 2010 den bundesweit ersten Lehrstuhl für „Spiritual Care“, den sich ein jesuitischer Psychiater und ein evangelischer Krankenhausseelsorger teilen. Die beiden Lehrstuhlinhaber haben auch die Schriftleitung der neuen Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen „Spiritual Care“ inne (www.spiritual-care.online.de). Diese Zeitschrift dient als Publikationsforum der im Jahr 2011 gegründeten Internationalen Fachgesellschaft für Gesundheit und Spiritualität. Die Fachgesellschaft und die Zeitschrift eint das Bemühen, einen „Konsensprozess“ zum Verständnis von Spiritualität im Gesundheitswesen auf den Weg zu bringen und Möglichkeiten der Umsetzung in der täglichen Patientenversorgung zu suchen.

Ausgehend von der Palliativmedizin wird die spirituelle Begleitung von Patienten auch in anderen medizinischen Fachgebieten zunehmend ernst genommen. Verstanden als Sorge für die spirituellen Bedürfnisse Kranker und ihrer Angehörigen entwickelt sich „Spiritual Care“ neben der somatischen, sozialen und psychologischen Behandlung des Patienten zu einer vierten Säule des Gesundheitssystems.

Was bedeutet es für die Seelsorge, wenn sich Gesundheitsfachkräfte – also Ärzte, Pflegekräfte, Psychotherapeuten und Sozial­arbeiter – in spiritueller Begleitung fortbilden? Die Krankenbetreuung und Sterbebegleitung war über viele Jahrhunderte eine zentrale kirchliche Aufgabe. Wenn nun nicht nur die körperliche und psychologische Betreuung durch medizinische Fachleute geleistet wird, sondern diese auch die spirituelle Begleitung übernehmen, muss dann „Spiritual Care“ als weitere Folge des unaufhaltsamen Säkularisierungstrends in den westlichen Gesellschaften verstanden werden? Das Konzept „Spiritual Care“ ist jedenfalls breiter aufgestellt als die klassische Krankenhausseelsorge. Dort werden Patienten durch Vertreter einer einzelnen Religionsgemeinschaft begleitet, deren religiöser Hintergrund transparent ist. Zum Selbstverständnis von „Spiritual Care“ gehört ein interdisziplinärer Ansatz: Pflegende, Sozialarbeiter und Ärzte sind gemeinsam in die spirituelle Begleitung von Patienten eingebunden. „Spiritual Care“ versucht, religionsübergreifend auf die spirituellen Bedürfnisse einzugehen, ohne sich dabei auf ein bestimmtes Bekenntnis festzulegen.

Heilungsangebote der Kirchen

Lange bevor die Medizin sich der spirituellen Dimension des Krankseins zugewandt hat, wurden von den Kirchen die heilenden Wirkungen von Gottesdiensten, Sakramenten und kirchlicher Gemeinschaft praktiziert. In Großbritannien gibt es seit über 100 Jahren eine Heilungsbewegung in den Kirchen, die den Heilungsauftrag Jesu ernst nimmt (vgl. z. B. Matth 10,1.8). In der anglikanischen Tradition existiert seit jeher ein intensiver Dialog zwischen Medizinern und Theologen. Im anglo-katholischen Bereich entstanden Geschwisterschaften des Heilungsdienstes, seit 1915 etwa die „Guild of St Raphael” (www.guild-of-st-raphael.org.uk). In den USA wurde 1932 der „Order of Saint Luke“ gegründet (www.orderofstluke.org). Auch er verfolgt das Ziel, Gesundheitsfachkräfte und Krankenhausseelsorger zu einer ordensähnlichen Fürbitt- und Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen. Es ging ihm um die Wiederbelebung des urchristlichen Heilungsauftrags der Kirche, dem seine Mitglieder durch Fürbitte für die Kranken und die biblische Handauflegung in enger Zusammenarbeit mit Psychiatern, Ärzten und Psychologen nachkommen wollten. Noch heute ist die Vereinigung in den USA mit über 7500 Mitgliedern aktiv.

Der starke gesellschaftliche Trend zu Gesundheitsoptimierung und Wellness hat die Kirchen weiterhin beschäftigt und angeregt, eigene Initiativen auf den Weg zu bringen. Die Anglikanische Kirche von England beauftragte eine Kommission von Experten aus Theologie, Kirche, Gemeinden und Medizin, eine Dokumentation zum Heilungsauftrag und -dienst der Kirchen zu erstellen, die im Jahr 2000 unter dem Titel „A Time to Heal“ veröffentlicht wurde. Neben theologischen Grundlagen der Heilung werden dort zahlreiche Möglichkeiten und Praktiken kirchlicher Heilungsdienste dargestellt. Diese umfassende ökumenische Studie hat auch in Deutschland Auswirkungen gezeigt.2

Integrationsansätze von Medizin und Seelsorge

Allerdings verläuft die Zusammenarbeit von ärztlicher und pastoraler Betreuung häufig nicht so reibungslos, wie es aus Patientensicht wünschenswert wäre. Zu unterschiedliche Menschenbilder, Gesundheitsideale, Behandlungsmethoden, fachliche Rivalitäten und Ausbildungstraditionen stoßen hier aufeinander. Zahlreiche Initiativen haben versucht, Brücken zwischen Medizin und Theologie zu bauen und die Krankenversorgung in interdisziplinärer Kollegialität zu optimieren.

In Deutschland hat hier die Berliner Landeskirche Pionierarbeit geleistet, indem sie die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Seelsorge förderte und unterstützte. Im Jahr 1925 rief Carl Gunther Schweitzer, damals Direktor im Zentralausschuss für Innere Mission der evangelischen Kirche und zugleich Leiter der „Apologetischen Centrale“ in Berlin-Spandau – Vorgänger-Institut der EZW – mit einigen anderen Theologen und Medizinern die Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger“ ins Leben. Schon damals waren sich die Initiatoren darüber einig, dass „beide, Mediziner und Theologen, infolge langer Gewöhnung vielfach nur noch die eigene, aber nicht auch die Sprache des anderen verstehen. So wird es auf beiden Seiten der Geduld und der Einfühlung bedürfen, ehe wir uns miteinander verständigen.“3 Bis 1932, als die Berliner Arbeitsgemeinschaft ein Opfer ihrer Zeit wurde, fanden gut besuchte Begegnungstagungen statt. 25 Hefte einer gleichnamigen Schriftenreihe belegen die regen Aktivitäten an Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Tagungen dieser Initiative.

Nach dem Krieg wurde die Berliner Arbeitsgemeinschaft von Medizinern und Theologen bis 1961 weitergeführt. Allerdings stellte der Berliner Pfarrer Ernst Jahn im Rückblick gravierende Unterschiede in der Herausforderung für die Seelsorgearbeit zwischen der Vor- und der Nachkriegszeit fest: „Die Leitgedanken der einstigen Gemeinschaft entstanden in der apologetischen Zentrale, und sie waren deshalb auch apologetisch bestimmt. Es ging in erster Linie um die Abwehr einer materialistischen Auffassung der Menschenseele und um die Hinkehr zu einem christlichen Menschenbild.“4 Nach dem Krieg sei jedoch mit dem Aufkommen der Dialektischen Theologie ein neuer Ausgangspunkt geschaffen worden. Die Dialektische Theologie versuche nicht das christliche Menschenbild apologetisch zu verteidigen, sondern sie gehe von der Voraussetzung aus, dass jede menschliche Existenz Gott unterstehe.

Zudem habe sich das weltanschauliche Klima der Seelenforschung verändert. Jahn weist hier neben anderem auf die „Medizin der Person“ von Paul Tournier hin, der in seinem Modell Raum für – zeitgenössisch ausgedrückt – die spirituelle Dimension lassen würde. In der Tat fand der Schweizer Arzt Paul Tournier in der Technik der Psychoanalyse eine Unterstützung für den christlichen Glauben, die mit ihren Methoden der Glaubensumsetzung nützlich sein könne. Aufgrund seiner großen ärztlichen und seelsorgerischen Erfahrung kam er zu der Einsicht, dass es im geistlichen Leben viele Ereignisse gebe, „die Menschen Gott zuschreiben, während sie doch durch die Funktionen des Unbewussten bestimmt werden“5. Mithilfe der Psychoanalyse sei es möglich, die persönlichen psychologischen Motive aufzudecken, die einen Menschen in Wirklichkeit beherrschten und „das völlige Gegenteil eines Rufes des Geistes sind“6. Tournier zählt zu den Schweizer Pionieren einer Integration von Psychotherapie und Seelsorge. In reger Vortragstätigkeit und durch viele Bücher begründete er eine personale Ganzheitsmedizin, die den persönlichen Glauben des Patienten und des Arztes mit einbezieht. Sein Ansatz wird bis heute durch internationale Jahrestagungen und eine wissenschaftliche Zeitschrift fortgeführt.7

Aus heutiger Sicht sind derartige Ansätze einer christlich-ganzheitlichen Heilkunde wie die „Medizin der Person“ eines Paul Tournier eine Randerscheinung geblieben. Viel stärker als auf die christliche Lehre vom Menschen beziehen sich gegenwärtig populäre Gesundheitsansätze entweder auf esoterische (Stichwort Geistheilung) oder auf buddhistische Leitbilder (Stichwort Achtsamkeit). Die doppelte apologetische Herausforderung, durch die Ernst Jahn die Arbeit der von Schweitzer gegründeten Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger“ charakterisierte, hat sich also bis heute nicht verändert. Alle „spirituellen“ Gesundheitsangebote eint die Sorge um die Seele in einer technikdominierten „Apparatemedizin“. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass sich etwa buddhistische, esoterische, humanistische und christliche Sterbebegleitung deutlich voneinander unterscheiden.

Die apologetische Perspektive ist auch deshalb wichtig, weil die Beantwortung existenzieller Grundsatzfragen, die ja in jedem Gespräch zwischen Medizin und Theologie berührt werden, eine weltanschauliche Position voraussetzt. Für einen gelingenden Dialog ist die Reflexion und Offenlegung des eigenen Standpunkts unabdingbar. Wird dieser Schritt kritischer Reflexion übergangen, kann eine medizinische Behandlungsmaßnahme durch ein weltanschauliches System vereinnahmt werden.

Die Psychotherapie ist ein anschauliches Beispiel für die Gefahr der Vereinnahmung. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand besonders bei Theologen und Religionslehrern ein hohes Interesse an den neuen Einsichten der Tiefenpsychologie. Deshalb wurde im Jahr 1949 die „Stuttgarter Arbeitsgemeinschaft Arzt und Seelsorger“ gegründet, um diesbezügliche Weiterbildungen durchzuführen. Diese Dialogveranstaltungen mit namhaften Psychotherapeuten, Ärzten und Theologen fanden besonders durch die von Wilhelm Bitter herausgegebenen Tagungsbände viel Beachtung. Immer deutlicher jedoch dominierte im weiteren Verlauf die Jung’sche Psychoanalyse das Gespräch, was sich bis heute an den Inhalten der Jahrestagungen der nun als „Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie“ bezeichneten Arbeitsgemeinschaft unschwer ablesen lässt (www.igt-plochingen.de). Die Religionspsychologie Jungs bietet viele Anknüpfungspunkte, aber auch zahlreiche Fallstricke für einen Dialog auf Augenhöhe.8

Auch die Seelsorge ist vor Vereinnahmungen nicht gefeit, etwa der unkritischen Übernahme psychologischer Menschenbilder. Der apologetischen Herausforderung hat sich die gesamte kirchliche Seelsorgeausbildung zu stellen, will sie sowohl fachlich auf der Höhe der Zeit sein als auch ihr christliches Profil nicht vergessen. 1969 fanden die ersten Kurse klinischer Seelsorge-Ausbildung (KSA) in der württembergischen Landeskirche statt, die sich stark an den Grundlagen der Gesprächspsychotherapie orientierte. 1971 nahm das Seelsorgeinstitut in Bielefeld-Bethel unter der Leitung von Dietrich Stollberg seine Arbeit auf. Im gleichen Jahr startete in Hannover das Pastoralklinikum unter der Leitung von Hans-Christoph Piper und in Frankfurt das „Seminar für therapeutische Seelsorge“ unter der Leitung von Werner Becher. 1972 schließlich wurde die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) gegründet. Im Rückblick auf diese anspruchsvollen psychologischen Weiterbildungen wird aber mittlerweile selbstkritisch eingeräumt, dass die evangelische Seelsorge- und Beratungsarbeit im Zuge ihrer Professionalisierung ihre eigene Kernkompetenz der Spiritualität vernachlässigt habe.9

Gegenwärtige Herausforderungen

Die Gesundheitsversorgung steht vor großen Veränderungen, in denen Eigeninitiative und Vernetzung gefragt sind. Bei einem umfassenden Gesundheitsbegriff, der die spirituellen Bedürfnisse einschließt, sind auch Kirche und Diakonie mit ihren Kompetenzen und Ressourcen gefragt. Um das Gespräch zwischen Medizin und Theologie fortzusetzen, sind vor allem zwei Schritte nötig: 1. Eine Verständigung über das Spiritualitäts-Konzept: Was verstehen Vertreter des Spiritual-Care-Konzepts unter Spiritualität? Unterscheidet sich professionelles Spiritual Care von pastoraler geistlicher Begleitung? Inwieweit setzt eine spirituelle Begleitung des Patienten eine weltanschauliche/religiöse Übereinstimmung mit dem Behandelnden voraus? 2. Das Suchen nach Formen der Zusammenarbeit: Was bedeutet es für die Krankenhausseelsorge, dass sich das medizinische System zunehmend dem Thema Spiritualität öffnet? Welche Voraussetzungen sind bei einer Kooperation zu klären und abzustimmen? An welchen konkreten Punkten können sich fachliches und kirchengemeindliches Handeln sinnvoll ergänzen? Diese und weitere Fragen werden auf der Tagung „Krankenhausseelsorge oder ‚Spiritual Care‘?“ thematisiert, die am 21. und 22. September 2012 in Berlin stattfindet und von der Evangelischen Akademie zu Berlin in Zusammenarbeit mit der EZW veranstaltet wird (vgl. dazu S. 349f in diesem Heft).


Michael Utsch


Anmerkungen

1 Vgl. Harold A. Koenig, Spiritualität in den Gesundheitsberufen. Ein praxisorientierter Leitfaden, Stuttgart 2012.

2 Vgl. Evangelisches Missionswerk (Hg.), Von der heilenden Kraft des Glaubens, Hamburg 2005; Deutsches Institut für ärztliche Mission DIFÄM (Hg.), Die heilende Dimension des Glaubens, Tübingen 2007; DIFÄM (Hg.), Gesundheit, Heilung und Spiritualität. Tübingen 2008; Reinhard Köller/Georg Schiffner (Hg.), Christliche Heilkunde – Zugänge, Aumühle 2011.

3 40 Jahre Berliner Arbeitsgemeinschaft Arzt und Seelsorger. Berliner Hefte zur Förderung der evangelischen Krankenseelsorge, Heft 18/1965, 20.

4 Ebd., 24.

5 Paul Tournier, Technik und Glaube, Basel 1945, 57.

6 Ebd., 56.

7 Vgl. www.medecinedelapersonne.org bzw. www.ijpcm.org.

8 Vgl. Michael Utsch, Spuren Gottes im Unbewussten?, in: MD 9/2011, 325ff.

9 Vgl. Michael Klessmann, Spiritualität: Eine neue Ressource für die evangelische Beratung? Fokus Beratung, 2004, 17-25.