Ulrich H. J. Körtner

Weltangst und Weltende

Endzeit und Gericht aus christlicher Perspektive

Apokalyptik ist die Kehrseite der Utopie. Von Beginn an ist der Fortschrittsoptimismus der Moderne von einer Unterströmung apokalyptischen Denkens begleitet worden. Es beschränkt sich nicht auf Sekten und religiöse Sondergemeinschaften, die immer schon intensive Endzeiterwartungen hegten, oder auf neu entstandene Endzeitsekten, deren Untergangsvisionen sich auf das zurückliegende Jahr 2000 bezogen haben. Apokalyptische Ängste und die historischen Schrecken, auf die sie reagieren – man denke an die Pest und zahlreiche Aufstände, ausgelöst durch drohende Hungersnöte und Steuerlasten –, „begleiten die Geburt der modernen Welt“2. Unter Historikern herrscht heute Übereinstimmung darüber, dass sich in Europa nicht schon um das Jahr 1000, sondern erst ab dem 14. Jahrhundert eine angstvolle Endzeiterwartung verbreitete und verstärkte. Die theologische Reflexion, die ihr zu begegnen versuchte, wurde ihrerseits „zum Nährboden für neue Ängste, die noch umfassender und noch schwieriger zu bannen waren als die bisher erfahrenen“3. Die Renaissance als Wiege der Neuzeit umfasst Angst und Dynamik, die nebeneinander existierten, weshalb die Trennung der Historiker zwischen Mittelalter und Neuzeit künstlich bleibt.

Auch in den vergangenen Jahrzehnten sind in den westlichen Gesellschaften immer wieder apokalyptische Ängste und Fantasien wellenförmig aufgetreten, im öffentlichen Bewusstsein ebenso wie in der Kunst, im Film und in der Literatur. Die atomare Hochrüstung oder die fortschreitende Zerstörung der Umwelt – um nur einige Beispiele zu nennen – haben kollektive Visionen des möglichen Untergangs heraufbeschworen. Neben realen Zukunftsängsten steht das Unterhaltungsbedürfnis, z. B. in der Filmindustrie. Ob „Wall-E“, „The Day after Tomorrow“, „Deep Impact“ oder „2012“: Die Ängste der krisenanfälligen Moderne paaren sich mit Lust am medial inszenierten Untergang.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts schienen zunächst sowohl der Geist der Utopie als auch der Gegengeist der Apokalyptik zu erlöschen, war doch anscheinend das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukujama) eingetreten, wenngleich auf eine ganz unapokalyptische Weise. Inzwischen gibt es aber neue Bedrohungspotenziale. Befürchtungen, dass es zu einem „clash of civilisations“ (Samuel P. Huntington) kommen könnte, haben durch die Attentate islamischer Fundamentalisten neue Nahrung erhalten. Interessanterweise speist sich auch die religiöse Vorstellungswelt islamistischer Gewalttäter in hohem Maße aus einem apokalyptischen Weltbild.4 Flutkatastrophen und Klimawandel rücken die ökologische Frage wieder ins öffentliche Bewusstsein. Gleichzeitig kehrt der nach 1989 verloren geglaubte Geist der Utopie in Gestalt einer neuen Technikgläubigkeit wieder. Auch der biomedizinische und gentechnologische Fortschritt löst nicht nur Hoffnungen, sondern auch kollektive Befürchtungen aus.

An die Stelle religiöser Hoffnung auf Gott und seine Vorsehung tritt in der Moderne die Hoffnung auf den Menschen, seine Rationalität und seine Fähigkeit zur Naturbeherrschung. Der Philosoph Odo Marquard beschreibt die nachaufklärerische Moderne als Zeitalter der Machbarkeit. Der Weg der Moderne, an dem die naturwissenschaftliche Medizin einen erheblichen Anteil hat, „führt vom Fatum zum Faktum, vom Schicksal zum Machsal“5. Dieser Prozess erweist sich jedoch nach Marquard als janusköpfig. Nicht etwa nur die erfolglose, sondern „gerade auch die erfolgreiche Machensplanung plant sich – wenigstens partiell – um den Erfolg. Darum wird – im Zeitalter des schicksalsvernichtenden Machenseifers der Menschen – das Gutgemeinte nicht das Gute; das absolute Verfügen etabliert das Unverfügbare; die Resultate kompromittieren die Intentionen; und die absolute Weltverbesserung mißrät zur Weltkonfusion.“6 Die Krise an den internationalen Finanzmärkten mit all ihren irrationalen Zügen gibt ein anschauliches Beispiel.

Durch die Katastrophe zum Heil

Es wäre zu einfach, wollte man der Utopie die Hoffnung, der Apokalyptik aber das Gefühl der Angst zuordnen. Apokalyptik als eine Form der Gegenutopie thematisiert Hoffnung und Angst zugleich. Untergangsvisionen bilden nur den dunklen Hintergrund für die apokalyptischen Hoffnungsbilder einer neuen Welt. Neben der traditionellen Form von Apokalyptik gibt es heute freilich eine säkulare, gewissermaßen halbierte Apokalyptik, die wohl das Ende nahen sieht, aber keine Hoffnung auf Erlösung mehr kennt. Anders als die ältere religiöse Apokalyptik kann die säkulare unserer Tage zwischen Ende und Heil, zwischen Endlichkeit und Vollendung keinen Zusammenhang mehr erkennen.

Auch Kirche und Theologie müssen sich kritisch mit heutigen Formen von Apokalyptik wie mit dem eigenen apokalyptischen Erbe des Christentums auseinandersetzen.7 So vielfältig heute von der drohenden Apokalypse gesprochen wird, so erklärungsbedürftig sind die Begriffe „Apokalypse“ und „Apokalyptik“. Wenn im Folgenden einige Grundzüge apokalyptischen Denkens beschrieben werden, haben wir uns zunächst zu vergegenwärtigen, dass das griechische Wort apokalypsis nicht etwa mit „Weltende“, sondern mit „Enthüllung“ zu übersetzen ist. Es steht am Beginn der neutestamentlichen Johannesoffenbarung (1,1) und meint in ihrem Fall die Enthüllung unmittelbar bevorstehender Ereignisse, die zur endgültigen Errichtung der Herrschaft Gottes über seine Schöpfung führen sollen. Das Weltende ist nicht gleichbedeutend mit der Apokalypse, sondern einer ihrer Gegenstände.

Das Kunstwort „Apokalyptik“ bezeichnet in der Bibelwissenschaft eine literarische Gattung jüdischer Schriften aus dem Zeitalter des Hellenismus, deren Gedankenwelt derjenigen der Johannesapokalypse verwandt ist. Ihnen sind bestimmte Stilelemente gemeinsam wie dasjenige der Pseudonymität, häufig ihre Gestaltung als Visionsbericht, der ausgiebige Gebrauch einer Bildersprache, die – nicht selten durch einen Deuteengel – entschlüsselt werden muss, sowie ein Zug zur Systematisierung des Geschauten durch Ordnungsschemata, insbesondere durch Periodisierungen der Geschichte und durch Zahlenspekulationen. Religionswissenschaftler sprechen von einem Komplex von Vorstellungen, die sich auf die Enthüllung zukünftiger Ereignisse beziehen, die am Ende einer Weltperiode auftreten. Dabei ist nicht notwendigerweise an ein einmaliges Weltende zu denken, sondern es gibt in der Religionsgeschichte auch die Vorstellung von periodisch wiederkehrenden Weltuntergängen.

Dasjenige, was, wie das Wort apokalypsis sagt, enthüllt wird, ist nicht irgendein Beliebiges, sondern das Ende der Welt. Wie es der französische Soziologe und Theologe Jacques Ellul treffend formuliert hat: Apokalyptik ist Enthüllung der Wirklichkeit, und zwar als einer untergehenden.8 Apokalyptik, so lässt sich zusammenfassen, ist Enthüllung der Wirklichkeit im Untergang. Die erhoffte Erlösung impliziert die Zerstörung der vorfindlichen Welt, die in eine Sackgasse geraten scheint. Wie sich im apokalyptischen Denken eine sackgassenartig strukturierte Welterfahrung in der Gewissheit einer unausweichlichen Katastrophe verdichtet, so ist die apokalyptische Hoffnung ihrerseits von der Katastrophalität der Erlösung überzeugt. Der Weg zum Heil führt durch die Katastrophe. Neue Lebensmöglichkeiten liegen nicht innerhalb des gegenwärtigen Geschichtskontinuums, sondern jenseits seines Endes.

Apokalyptik als Versuch der Krisenbewältigung

Die Wurzeln einer derartigen Sicht der Wirklichkeit sind in gesellschaftlichen oder individuellen Krisenerfahrungen zu suchen. Tatsächlich kann man Apokalyptik als Ausdruck eines Krisenbewusstseins bezeichnen, das auf gesellschaftliche oder politische Umbrüche reagiert. Die jeweilige Gegenwart wird als Krise erlebt, welche mit Hilfe apokalyptischer Denkmuster gedeutet und auf diese Weise bewältigt werden soll. Apokalyptik wäre demnach weniger Zukunftserforschung als vielmehr ein Versuch der Gegenwartsbewältigung.

Diese Gegenwart macht Angst. Neben der Hoffnung auf eine neue Welt bzw. einen neuen Weltzustand lässt die apokalyptische Literatur aller Zeiten ein erhebliches Angstpotenzial erkennen. Von dieser Angst her, welche die Apokalyptik zu bewältigen versucht, können ihre Bildersprache und Deutungsmuster erschlossen werden.

Unabhängig von seinen konkreten historischen Anlässen vermittelt apokalyptisches Denken grundlegende Einsichten in die Verfassung menschlicher Existenz. Es deckt unsere Endlichkeit wie auch die Dimension des Zerstörerischen auf. Dabei geht es nicht etwa nur um Naturgewalten, deren Bildmaterial in Apokalypsen immer wieder verwendet wird, sondern um Strukturen des Bösen und eine verselbständigte Macht. Wo die nicht etwa nur naturhafte, sondern schuldhafte Zerstörung der vorfindlichen Wirklichkeit unausweichlich wird, kann man vom Katastrophischen oder der katastrophischen Dimension der Wirklichkeit sprechen. Und eben diese erfahrbare Katastrophalität der Wirklichkeit wird durch die Apokalyptik zur Sprache gebracht. Apokalyptik erzählt davon, dass nicht nur alles individuelle Leben, sondern auch kollektive, geschichtliche, gesellschaftliche, staatliche und kulturelle Erscheinungen und Konstellationen endlich – zeitlich befristet – sind.

Grundlegend für das apokalyptische Welt- und Geschichtsverständnis ist die Erfahrung menschlicher Ohnmacht und fremder Übermacht. Apokalyptik stellt daher stets die Machtfrage. Sie verharrt dabei allerdings nicht in einer Stimmung der Weltangst, sondern versucht sie zu überwinden, indem sie eine Hoffnung verkündet, welche die Ausweglosigkeit der Endlichkeit und die Dauerhaftigkeit der Ohnmacht negiert. So wird auch das Weltende als bildhafter Inbegriff von Weltangst zu einem Symbol der Hoffnung umgedeutet. Ihre Hoffnung ist aber Hoffnung gerade auf das Ende als Vorbedingung eines Neuen. Die Katastrophalität der Wirklichkeit wird nicht geleugnet, wandelt sich aber zur Katastrophalität der Erlösung. Der drohende Untergang erscheint nun als Übergang oder Durchgang, die Katastrophe als Krise, die Neues heraufführen kann. Die apokalyptische Vorstellungswelt führt uns zu dem Gedanken, dass Zerstörung unter Umständen nicht nur unvermeidlich, sondern auch heilsam und befreiend sein kann. Dieser Gedanke impliziert, dass es Verhältnisse und Lebensumstände gibt, die nicht mehr verbesserungsfähig sind, sondern der Zerstörung preisgegeben werden müssen, damit Neues entstehen kann und neue Lebensmöglichkeiten gewonnen werden.

Indem die Apokalyptik die drohende Weltkatastrophe zur Krise umdeutet, wandelt sich auch die Katastrophenangst zur Krisenangst. Krisenangst ist Entscheidungs- oder Wandlungsangst, die eigene Handlungsmöglichkeiten nicht ausschließt und sich mit der Gebärangst vergleichen lässt. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang daran, dass in der jüdisch-christlichen Apokalyptik öfter von den Geburtswehen gesprochen wird, in denen die Welt oder der Äon in der Endzeit liege. Indem sich die Katastrophe des drohenden Weltendes zur Krise wandelt, wird auch die Weltangst umgestimmt, ohne deshalb verdrängt zu werden.

Im apokalyptischen Denken wird die Vorstellung vom Weltende, die zunächst als Ausdruck gesteigerter Weltangst interpretiert werden kann, zur hermeneutischen Basis einer sekundären Welterklärung. Die Weltsicht der Apokalyptik beruht auf einer Hermeneutik des Endes, welche die Welt in ein phantastisch scharfes Licht taucht. Auf diese Weise werden unheilvolle Strukturen der Wirklichkeit und nicht zuletzt solche der Macht aufgedeckt, die von den Mächtigen kaschiert werden. Apokalyptik ist auf ihre Weise eine Form der Aufklärung. Allerdings werden, um im Bild zu bleiben, Strukturen des Bösen von der Apokalyptik nicht nur ans Licht gebracht, sondern überbelichtet. Dadurch reduziert sich die Komplexität des Lebens auf einen Dualismus von Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Licht und Finsternis. Die Vereinfachung im Licht des möglichen Unheils kann ungemein erhellend sein, kann aber auch zum Zerrbild der Wirklichkeit und zur Ideologie verkommen, die sozialpsychologisch betrachtet ebenso wie die Weltuntergangserlebnisse Schizophrener pathologische Züge trägt.

Alle Apokalyptik ist also zutiefst zweideutig. Zweideutig wie ihre Sicht der Wirklichkeit bleibt auch die von ihr verbreitete Hoffnung, birgt sie doch die Gefahr, dass die Angst vor dem drohenden Weltende in Lust am Untergang umschlägt. Hieraus resultiert die Gewaltbereitschaft militanter Endzeitsekten, die sich gegen die Umwelt richten oder auch zum kollektiven Selbstmord führen kann. Daher ist es wichtig, stets nachzufragen, welche Welt im Einzelfall eigentlich untergehen soll und wer den Weltuntergang aus welchen Gründen herbeisehnt. Auch ist nicht zu übersehen, dass gerade die Hoffnung auf die katastrophische Beendigung herrschender Zustände oder der Welt insgesamt eine Form des Eskapismus sein kann, der die vorfindliche Wirklichkeit auf ihre Katastrophalität und ihre negativen Tendenzen festlegt und gerade so reale Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten übersieht oder Veränderungen sogar verhindert. In diesem Fall wird die bedrohliche Welt gerade nicht überwunden, sondern belassen, wie sie ist, und also fixiert.

Christlicher Glaube als Mut zum fraglichen Sein

Nun ist auch das Neue Testament über weite Strecken von der jüdischen Apokalyptik beeinflusst. Zugleich wird aber die Apokalyptik im Christentum stark modifiziert. Das apokalyptische Wirklichkeitsverständnis wird weder pauschal abgelehnt noch widerspruchslos geteilt. Was die christliche Weltsicht von einer apokalyptischen grundlegend unterscheidet, ist der Umstand, dass ein bereits eingetretenes Ereignis der Geschichte als Einbruch des Heils bewertet wird und damit die Geschlossenheit der Unheilsgeschichte prinzipiell durchbrochen ist. Diesen Unterschied markiert der Glaube, dass Kreuz und Auferweckung Jesu von Nazareth ein die Welt grundlegend und endgültig umwandelndes Heilsgeschehen sind. Gerade indem das Geschick Jesu mit Hilfe der apokalyptischen Vorstellung von der Totenauferweckung interpretiert wird, werden die Voraussetzungen apokalyptischen Denkens verlassen. Neben aller Erfahrung von Heillosigkeit ist die Welt nun zugleich ein Ort der Heilsgegenwart.

Hieraus entspringt ein neuer Umgang mit der apokalyptischen Weltangst. Den christlichen Glauben zeichnet ein spezifischer Mut zur Angst aus, keineswegs völlige Angstlosigkeit. Am Neuen Testament lässt sich die Aufhebung apokalyptischer Weltangst studieren, die in der Überzeugung gründet, dass die apokalyptische Struktur der Wirklichkeit durch das Auftreten und das Geschick Jesu von Nazareth im Prinzip durchbrochen ist. Deshalb kann es in Joh 16,33 heißen: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Die Haltung zum Dasein, die aus solchem Glauben resultiert, beschreibt Paulus in 2. Kor 4,8f: „In allem sind wir bedrängt, aber doch nicht eingeengt. Wir wissen nicht, wo aus noch ein, aber den Weg verlieren wir dennoch nicht. Verfolgt werden wir, aber nicht im Stich gelassen; zu Boden geworfen, aber nicht zunichte gemacht.“ So wird in paradoxer Weise im christlichen Glauben die apokalyptische Daseinserfahrung zugleich geteilt und negiert.

Heute stehen wir jedoch vor der Frage, welche Aussagekraft die christliche Botschaft angesichts der für Mensch und Natur bestehenden Bedrohungen globalen Ausmaßes noch hat und worin die religiöse Orientierungsleistung der Theologie bestehen könnte. Wenn christliche Theologie einen Bezug zur Wirklichkeit hat und Aussagen des Glaubens im Streit um die Wirklichkeit Relevanz beanspruchen, müsste auch theologisch die Möglichkeit ernst genommen werden, dass die Menschheit keine Überlebensgarantie hat und auch der christliche Glaube zu einer solchen nicht autorisiert ist. Dieser kann sich freilich auch nicht im ethischen Appell zur Bewahrung der Schöpfung erschöpfen, haben doch die ökologischen und geopolitischen Gefahren ein Ausmaß erreicht, das den praktischen Erfolg aller Anstrengungen zur Bewahrung der Schöpfung zweifelhaft erscheinen und den Menschen offenbar nur noch die Alternative von Titanismus oder Defätismus lässt.

Christlicher Glaube ist nicht gleichbedeutend mit Hoffnung auf den Fortbestand der Welt. Er ist freilich auch etwas anderes als die apokalyptische Hoffnung auf eine andere Welt jenseits der möglichen Katastrophe. Vielmehr bejaht der Glaube die Welt angesichts ihrer heute real möglichen Verneinung und Vernichtung. Er ist primär nicht eine Gestalt der Hoffnung, sondern, wie Paul Tillich und Karl Rahner hervorgehoben haben, eine Weise des Mutes.9 Er ist in diesem Sinne Mut zum fraglichen Sein, der selbst am Zerbrechen einer heilsgeschichtlich-utopischen Perspektive nicht irre wird, weil er sich und die Welt gegen allen Augenschein von Gott bejaht und geliebt weiß.

Mut ist ein ethischer Begriff. Als Bejahung des Seins, das in Frage gestellt ist, hat sich der Glaube praktisch zu bewähren im Protest gegen alles Katastrophische, gegen eine apokalyptische Welt. Dieser Protest äußert sich in einem Handeln und Hoffen, das im Glauben gründet, nicht minder jedoch im Leiden, das nicht zuletzt im Mitleiden mit den Opfern der Geschichte, in der Erinnerung ihrer Leiden und im Gebet um das Kommen des Gottesreiches sein Fundament findet. Das Handeln des Glaubens angesichts des Absurden ist die tätige Proklamation eines Sinnes. Dieser Sinn bleibt menschlicher Verfügungsmacht freilich entzogen und kann unserem Handeln nur adventlich zu-kommen. Der Glaube, wie er sich selbst versteht, produziert nicht, sondern proklamiert einen Sinn des Lebens und der Welt. Aus theologischer Sicht kann er einzig von Gott kommen und hat selbst noch angesichts der möglichen Selbstzerstörung der Menschheit Bestand.

Auch die apokalyptische Vorstellung vom Endgericht, die wir im Neuen Testament und in den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen finden, enthält – recht verstanden – eine ermutigende, eine tröstliche und befreiende Botschaft für unsere moderne und gefährdete Welt. Die Weltgeschichte, schrieb einst Friedrich Schiller, ist das Weltgericht. Heute ist das Fernsehen seine Westentaschenausgabe. Im Vergleich zum Weltgericht alten Typs, wie es zum Beispiel Michelangelo an die Wände der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, kann man heute zwischen mehreren Programmen wählen. Wem es in der Gerichtsverhandlung des einen Senders zu fad wird, der kann zum Richter Gnadenlos auf dem anderen Kanal switchen. Medientechnisch und weltgerichtsmäßig ein großer Fortschritt! Der Philosoph Leibniz behauptete einst, die real existierende Welt sei die beste aller möglichen, wobei allerdings die Programmwahl Gott allein vorbehalten war. Heute können sich die Zuschauer selbst nicht nur die beste aller möglichen Fernsehwelten, sondern auch noch das beste aller möglichen Weltgerichte wählen.Alle historischen Ereignisse, schrieb einst Karl Marx, geschehen zweimal: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.10 Die täglichen Gerichtsshows im Privatfernsehen sind die Farce auf das moderne gnadenlose Weltgericht. Das sollte bedenken, wer den christlichen Gedanken an das Jüngste Gericht als erledigten Mythos abtun möchte.

Dimension der Gnade und Versöhnung

Das aufgeklärte Zeitalter hat Gott den Prozess gemacht. Der Vorwurf der Anklage lautete, wie Gott all das Übel in der Welt zulassen könne. Aus dem göttlichen Weltenrichter wurde der absolute Angeklagte. Als man Gott schließlich für tot erklärte, wendete sich das Blatt. Nun wurde der Mensch von seinesgleichen vor das große Weltgericht gezerrt. Die praktische Folge ist die Übertribunalisierung der modernen Gesellschaft. „Der Mensch“ – so der Philosoph Odo Marquard – „wird der absolute Angeklagte, und das ist – in nuce – der Befund, den ich als die ‚Übertribunalisierung’ der menschlichen Lebenswirklichkeit bezeichnet habe: daß fortan der Mensch wegen der Übel der Welt als absolut Angeklagter – vor einem Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist – unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationszwang gerät.“11

Die Suche nach Schuldigen und Sündenböcken findet auch in unseren Breitengraden beständig statt. Wir brauchen nicht nur an die Stigmatisierung und Diskriminierung von Ausländern und Migranten zu erinnern. Man denke auch an die Art und Weise, wie in modernen Demokratien politische Verantwortung konstruiert und zugewiesen wird. Man denke nur an die schillernde politische Rolle der Medien oder an parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Vordergründig besteht deren Aufgabe in der Wahrheitsfindung, in der Aufklärung politischer Missstände und in der Suche nach den politisch Verantwortlichen. Zur Dialektik dieser Form von Aufklärung gehört freilich die Konstruktion von Gut und Böse, Schuld und Sühne, Freund und Feind. Das letzte, womit wir in unserer gnadenlos übertribunalisierten Lebenswelt rechnen dürfen, ist Vergebung. Ohne Vergebung aber bleiben wir an die Folgen unseres Handelns gekettet, das sich nicht ungeschehen machen lässt und vorsätzlich oder unabsichtlich Schaden anrichten kann, der sich niemals wieder gut machen lässt. Was wir als Gegengift gegen die permanente Tribunalisierung des Lebens benötigen, ist eine Kultur des Verzeihens und des Erbarmens.

Es war die jüdische Philosophin Hannah Arendt die auf die Bedeutung einer solchen Kultur nicht etwa nur für den privaten, sondern auch für den politischen Bereich hingewiesen hat. In der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen besteht nach Arendt das „Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit“12, dagegen nämlich, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann. Und es war nach ihrer Ansicht Jesus von Nazareth, der dieses Heilmittel und seine Kräfte innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten zuerst gesehen und entdeckt hat.

In der Tat besteht die religiöse Provokation Jesu genau darin, dass er die Vollmacht beansprucht, im Namen Gottes Sünden zu vergeben und von dem radikal Bösen zu erlösen, die wir für unverzeihlich halten, weil ihre Folgen so immens sind, dass sie jedes menschliche Maß an Wiedergutmachung übersteigen. Das Neue Testament begreift schließlich den Tod und die Auferweckung Jesu als definitiven göttlichen Akt des Verzeihens. Mehr noch, es deutet den Tod Jesu als Inbegriff göttlicher Feindesliebe (Röm 5,10), in welcher die Zuspitzung des Gebotes der Nächstenliebe zum Gebot der Feindesliebe (Mt 5,38-48) ihren eigentlichen Grund hat. Das göttliche Verzeihen aber zielt auf endgültige und universale Versöhnung.

Gerade seine religiöse Dimension macht das Christentum zur maßgeblichen Ressource einer Kultur des Verzeihens. Die Säkularisierung religiöser Vokabeln wie Sünde und Vergebung verschüttet dagegen, wie selbst Jürgen Habermas kritisiert, das Surplus ihrer Sinngehalte, auf die eine säkulare Kultur angewiesen bleibt.13

Wer Arendts Ausführungen zu den unvergebbaren, da auch unbestrafbaren Taten, das heißt zu solchen Taten, deren ungeheuerliche Schuld durch keine irdische Strafe gesühnt werden kann, im Ohr hat14, wird vielleicht den Sinn der biblischen Rede vom Jüngsten Gericht neu verstehen. Der Gerichtsgedanke ist eine Implikation der christlichen Gewissheit, dass bei Gott auch in Sachen Vergebung kein Ding unmöglich ist. Ohne den Gedanken des richtenden Gottes verliert auch der des gnädigen Gottes seine Plausibilität.

Die neuzeitliche Befreiung des Menschen vom metaphysischen Vorwurf der Sünde erweist sich als trügerisch, weil mit dem religiösen Begriff der Sünde auch die Dimension der Gnade abhanden kommt. Wenn die Theodizee zur Anthropodizee mutiert und der Mensch zum absoluten Angeklagten wird, können wir auf keine Instanz mehr hoffen, die uns freispricht. Paradigmatisch reflektiert diese Situation Franz Kafka in seinem Roman „Der Prozess“. Kirchliche Beicht- und Vergebungsrituale sind heute zugegebenermaßen ein Minderheitenprogramm. Dafür gibt es nun die medial inszenierten öffentlichen Lebensbeichten von Prominenten und Durchschnittsmenschen, denen doch keine wirkliche Absolution erteilt wird.

Für die ethische Urteilsbildung ist der Glaube an die Heilsbedeutung des Todes Christi in doppelter Hinsicht von Belang, weil das Wort vom Kreuz zum einen die Logik des Sühnopfers und damit auch des Sündenbockmechanismus von innen her zerbricht. Der biblische Gerichtsgedanke und die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders stehen darum für eine Hoffnung, die den Opfern der Geschichte wie auch den Tätern gilt. Einerseits ist zwischen Opfern und Tätern zu unterscheiden, sodass Versöhnung nicht auf Kosten der Opfer geschieht und die Mörder – mit Max Horkheimer gesprochen – nicht über ihre Opfer triumphieren.15 Andererseits darf die theologisch begründete Kritik des Sündenbockmechanismus nicht derart pervertiert werden, dass es am Ende gar keine Täter, sondern nur noch Opfer gibt, so- dass ungesühnte Schuld durch eine Versöhnungsrhetorik verschleiert wird. Bei der Benennung und Aufarbeitung von Schuld handelt es sich nicht allein um das Problem der Wiedergutmachung, so wichtig allein dieses Thema für sich schon ist, sondern auch um die Frage, wie Versöhnung möglich ist angesichts der Toten, die am Akt der Versöhnung nicht mehr als Subjekt beteiligt sein können.

Versöhnung hat das Gedächtnis der Toten und ihrer Leiden einzubeziehen. Daher kann es Vergebung und Versöhnung unter den Lebenden nur geben, wenn sie zugleich ein mit den Toten solidarisches Handeln sind. Das biblische Wort von der Versöhnung aber verweist auf Kreuz und Auferstehung Jesu als letzten Grund göttlicher Solidarität mit den Opfern der Geschichte und somit auf den letzten Grund einer Hoffnung auf Versöhnung in kosmischen Dimensionen, die keinen, der je gelebt und gelitten hat, ausschließt. Diese Hoffnung gilt es im Leben und Handeln aus Glauben praktisch zu bewähren. Leben aus der Kraft der Versöhnung ist also Leben im eschatologischen Horizont des Reiches Gottes. In diesen Horizont sind alle menschlichen Bemühungen um Versöhnung gestellt, ohne ihn freilich je einholen zu können.


Ulrich H. J. Körtner


Anmerkungen

1 Vortrag, 2. Ökumenischer Kirchentag in München, Zentrum Weltanschauungen, 14.5.2010.

2 Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, Reinbek 1985, 314.

3 Ebd., 312.

4 Vgl. Victor Trimondi / Victoria Trimondi, Krieg der Religionen. Politik, Glaube und Terror im Zeichen der Apokalypse, München 2006, 281-461.

5 Odo Marquard, Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 67-90, hier 67.6 Ebd., 81.

7 Siehe dazu ausführlich Ulrich H. J. Körtner, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988.

8 Vgl. Jacques Ellul, Apkokalypse. Die Offenbarung des Johannes – Enthüllung der Wirklichkeit, Neukirchen-Vluyn 1981.

9 Siehe Paul Tillich, Der Mut zum Sein, Stuttgart 31958; Karl Rahner, Glaube als Mut, Zürich u. a. 1976.

10 Vgl. Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: ders. / Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1972, 111-207, hier 115.

11 Odo Marquard, Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, a.a.O., 39-66, hier 49.

12 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 122001, 301.

13 Vgl. Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 1988, 60.

14 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O., 307.

15 Vgl. Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von H. Gumnior, Hamburg 21971, 11.