Friedmann Eißler

Wasatiyya - ein islamischer „Mittelweg“

Der arabische Ausdruck Wasatiyya ist seit einigen Jahren insbesondere durch die Aktivitäten des aus Ägypten stammenden, in Qatar residierenden und weltbekannten Islamgelehrten Yusuf al-Qaradawi bekannt und vor allem inhaltlich geprägt worden (siehe dazu den nachfolgenden Beitrag von Carsten Polanz). Er bedeutet Mittelweg oder Mainstream und bezieht sich auf unterschiedliche Ansätze, die eine muslimische Identität mit modernen Lebensformen in Einklang zu bringen suchen. Charakteristisch ist die Ablehnung von Extremismus wie von traditionalistischer Weltabgewandtheit bei gleichzeitiger Betonung eines konservativen Islam, der Schariagrundsätze als göttlich gegebene Lebensordnung auch in der modernen Gesellschaft umsetzen will.

Für Muslime im Westen, die sich mehrheitlich zwar integrieren, aber durchaus nicht assimilieren wollen, stellt sich die Grundfrage: Wie können Muslime gemäß den Grundsätzen der Scharia im säkularen Umfeld westlicher Gesellschaften leben? Zwei zentrale Problemfelder sind damit im Blick: Islam und säkulare Gesellschaft sowie der dauerhafte Aufenthalt von Muslimen in einem mehrheitlich nichtmuslimischen Land. Durch die fundamentale ideologische Einheit von Religion und Politik im Islam stößt die Trennung von Religion und Staat des säkularen Gesellschaftsmodells auf Schwierigkeiten bis hin zur Ablehnung. Ebenso ist der Daueraufenthalt von Muslimen außerhalb des „Gebietes des Islam“ nach klassischer Lesart nicht vorgesehen und bedarf daher besonderer religionsgesetzlicher Legitimation. Vielfältige Angebote, die vor allem internetbasiert sind, aber auch in der muslimischen Jugend- und Bildungsarbeit im weitesten Sinne mit zunehmendem Gewicht in Erscheinung treten, bieten Hilfestellung und ideologische Unterstützung an. Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele ein Einblick in die breite Präsenz und Wirksamkeit des Wasatiyya-Gedankenguts gegeben werden. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Personen, Gruppen oder Organisationen auf ein oder gar das Wasatiyya-Konzept festzulegen, sondern einige der Phänomene religiöser Gegenwartskultur unter Muslimen in Deutschland aufzuzeigen, die sich aus ganz unterschiedlichen Richtungen und Motivationen zu einem international vernetzten Wasatiyya-Diskurs verdichten. Der nachfolgende Beitrag wird dies dann am Beispiel Yusuf al-Qaradawis vertiefen.

Grundzüge

Nach dem Koran Sure 2,143 hat Gott die Muslime zu einer umma wasatan gemacht, einem „Volk (in) der Mitte“, das heißt zwischen den Extremen. Muslime verfallen demnach weder der dem Judentum zugeschriebenen (übertriebenen) Gesetzlichkeit, noch der Vergötterung eines Menschen, wie es den Christen vorgeworfen wird; ebenso weder dem islamistischen Extremismus noch dem Säkularismus. Der Islam ist der gerade Weg (Sure 1,6) zwischen Materialismus und individualisierter Religiosität, zwischen Nihilismus und Götzendienst, der Mittelweg zwischen traditionalistischem Salafismus und blasphemischer Neuerung. In allem soll Mäßigung gelten. Dafür stehen Gehalt und Intention der recht verstandenen Scharia. Die muslimische Umma (Nation, Gemeinschaft) soll sich ihres Vorbildcharakters bewusst sein und eine Elite der Moral und der Gerechtigkeit bilden. Nicht zuletzt aus diesem Grund sucht sie die Partizipation in der Mitte der Gesellschaft. Sie präsentiert selbstbewusst den „Islam als Alternative“ (so ein Buchtitel von Murad W. Hofmann) zum westlichen Lebensstil, der im Wesentlichen als dekadent und gescheitert betrachtet wird. Sie lädt dadurch zum Islam ein (da’wa = Einladung, Mission).

Eine zentrale Rolle spielen das Internet und islamische Lifestyle-Elemente, die von der Kleidung („I love Muhammad“-T-Shirts) über elegante H&M-Kopftücher und Mode-Accessoires bis hin zu Musikstilen, Parteizugehörigkeiten und radikalen islamistischen Identifikationsmustern reichen. „Zwischen Pop und Dschihad“ lautet der treffende Titel eines einschlägigen Buches der Journalistin Julia Gerlach über muslimische Jugendliche in Deutschland.1

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen ist die Transnationalität. Die territorialen, ethnischen und schulmäßigen Grenzen, in denen sich Muslime traditionell bewegen, werden bewusst überschritten und tendenziell aufgehoben, um eine weltweit geeinte islamische Umma unter zeitgemäß interpretierten Bestimmungen der Scharia zu propagieren.2 Die Suggestion einer globalen Umma gewinnt über Internetforen und entsprechende Websites besondere Attraktivität. Ihr Einfluss inklusive ihrer antidemokratischen Affekte ist jedoch nicht nur im virtuellen Raum, sondern über verschiedene Kanäle gerade unter jungen Muslimen auch gesellschaftlich wirksam. Dabei kommen die übergeordnete Identitätszuschreibung und der – innerislamische – „ökumenische“ Ansatz den Bedürfnissen vor allem von Menschen mit migrationstypischen Identitätsschwierigkeiten entgegen.

All diese Aspekte spielen in den Legitimationsstrukturen eine Rolle, die Muslime sich für ihr Muslimsein im Westen zurechtgelegt haben. Eine solche Legitimation, die zugleich einer Verpflichtung der Muslime im Westen gleichkommt, ist von führenden arabisch-islamischen Religionsgelehrten verschiedener Glaubensrichtungen in fünf Punkten formuliert worden. Sie kann aus verschiedenen Quellen und Zusammenhängen erhoben werden, ich beziehe mich auf die Analyse und Darstellung von Uriya Shavit:3

1. Muslime sind, wo immer sie leben, Glieder einer größeren islamischen Umma; ihre Loyalität gilt nicht einer ethnischen oder nationalen Gemeinschaft, sondern dem Islam.

2. Wenngleich der Daueraufenthalt eines Muslims in einer nichtmuslimischen Gesellschaft unerwünscht ist, mag er als individuell rechtmäßig gelten, wenn der Einwanderer sich seines Vorbildcharakters bewusst ist und sich als vorbildlicher Muslim verhält.

3. Muslime im Westen haben die Pflicht, ihre religiöse Identität zu pflegen und sich von allem fernzuhalten, was dem Islam entgegensteht. Sie sollten daher aktiv bei der Errichtung und der Unterhaltung von Moscheen, muslimischen Schulen, Kulturzentren und Ladengeschäften mitwirken.

4. Muslime im Westen sollten in der geistlichen Leere (spiritual void) der im Niedergang begriffenen westlichen Gesellschaften den Islam verbreiten.

5. Muslime im Westen sollten im politischen wie auch im religiösen Bereich engagiert die Sache der muslimischen Umma vertreten, denn beides sollte bzw. kann nicht voneinander getrennt werden.

Es ist damit selbstverständlich nicht gesagt, dass alle Muslime im Westen programmatisch diesen Weisungen folgten. Wir greifen eine mentale Grundkonstellation heraus, die etwas vom Selbstverständnis und dem neuen Selbstbewusstsein erkennen lässt, die viele Muslime bewegen.

Internet: „Scheich Google“ und die „globale Umma“

Zuletzt hat der bekannte Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe im Interview auf ihn aufmerksam gemacht, in der Szene ist er schon länger eine Größe: „Scheich Google“.4 Das Internet wird für viele, insbesondere jüngere Muslime immer mehr zu einer Autorität in Glaubensfragen. Wer in Glaubensdingen Belehrung sucht, wer praktische religionsgesetzliche Fragen oder persönliche Probleme hat, wendet sich vielfach nicht mehr an den persönlich bekannten Imam, sondern eben an „Scheich Google“. Im Internet holt man sich Informationen, diskutiert, wählt aus – und richtet gegebenenfalls den Lebenswandel danach aus.

Auf Hunderten von Internetseiten wird Lebensberatung im weitesten Sinne zu politischen und alltäglichen Fragen angeboten. Kleidung, Frauen, Freundschaft und Beziehungsfragen bis in alle intimen Details, Freizeitbeschäftigung, das Verhältnis zu den „Ungläubigen“ oder theologische Fragen – kein Thema wird ausgespart, nichts scheint tabu zu sein. Eine besonders prominente Seite ist das arabisch-englische IslamOnline.net, die „wohl weltweit bekannteste und einflussreichste Internetseite für religiöse Muslime“, hinter der die Autorität Yusuf al-Qaradawis steht. Damit nicht zu verwechseln ist die in Dubai ansässige Adresse IslamOnline.com. Weitere Beispiele für je ganz eigene Informations- und Werbeangebote sind Islaam.com; IslamiCity.com; amrkhaled. net; sultan.org; einladungzumparadies.de; way-to-allah.com; enfal.de; al-shia.de; islamischer-weg.de.

„Scheich Google“ steht für die Globalisierung der islamischen Umma, die medial kommunikativ vernetzt ist und auf diese Weise wahrgenommen wird, ohne an territoriale Beschränkungen gebunden zu sein. Mathias Rohe: „Die Globalisierung hat auch vor dem Islam nicht Halt gemacht, und es ist noch völlig unausgelotet, wohin eigentlich in dieser Hinsicht die Reise gehen wird.“ Ob fachlich qualifiziert oder nicht – charismatische Figuren, Exzentriker, Extremisten, Reformer, alles ist zu haben, mit einem deutlichen Übergewicht an streng konservativen bis radikalen Islamauffassungen. Die „globale Umma“ wird von jenen bestimmt, die in den neuen Medien am meisten investieren und Präsenz zeigen, und das scheinen doch mit Abstand Vertreter eines vorwiegend saudisch-wahhabitisch geprägten strikten Islamverständnisses zu sein.

Wirkten die Religionsgelehrten und die religiösen Rechtsgutachter traditionell immer mehr oder weniger vor Ort, so dass der konkrete regionale und gesellschaftliche Kontext berücksichtigt werden konnte, so fällt dies via Internet immer mehr aus: Völlig ortsunabhängig werden kontextlose, mehr oder weniger radikale Anweisungen sozusagen eingeflogen, sei es aus Riad, London, Kairo oder Karachi. Dieser kontextlose, dadurch gleichsam „absolute“ Islam enthält ein erhebliches Gefahrenpotenzial. Er torpediert Bemühungen um eine muslimische Identität derjenigen Muslime, die hier angekommen sind, sich zurechtfinden und im besten Sinne heimisch werden wollen. Andererseits kann „Scheich Google“ auch nachdenkliche und positive Aspekte entfalten. Die inzwischen ebenfalls zahlreichen Internetseiten, die in ganz unterschiedlicher Weise vorgehen, um grundsätzlich eher dialogisch und kontextbezogen als indoktrinierend über muslimische Identität in Deutschland zu sprechen, treten allerdings leiser. Sie werden deshalb vielleicht auch eher überhört. Einige wenige Beispiele dafür seien notiert: al-sakina.de (Silvia Horsch); musafira.de (Kathrin Klausing); serdargunes.wordpress.com (Serdar Güneş¸); nafisa.de (muslimische Frauen); muslimische-stimmen.de; mutes.de (Muslimisches SeelsorgeTelefon); dunia.de (Akif Şahin); andalusian.de (Hakan Turan).

Lifestyle-Islam und Pop-Muslime: Zwischen Patchwork und Mission

„Style Islam – go spread the word!“ – „Ich bin Muslim, fordere mein Recht und meinen Platz in dieser Gesellschaft!“ – „Islam Is My Way Of Life!“ Diese und ähnliche Slogans stehen für die Ankunft islamischer Jugendkulturen in der Mitte der Gesellschaft. Sami Yusuf, britischer Sänger und Komponist aserbaidschanischer Herkunft, ist einer der großen Stars der Szene, der mit 16 Jahren die Religion für sich entdeckte und seither einen friedvollen Islam und das Vorbild des Propheten Muhammad besingt. Hülya Kandemir war gerade im Begriff, als Liedermacherin und Popsängerin erfolgreich zu werden, als sie eine Hinwendung zu Allah erlebte, die Bühne hinter sich ließ und die Autobiografie „Himmelstochter. Mein Weg vom Popstar zu Allah“ schrieb. Die vielleicht bekannteste Ikone ist der ägyptische Fernsehprediger Amr Khaled (Jahrgang 1967), der seine Botschaften über den islamistischen saudischen Satellitensender Iqra-TV verbreitet. In Schlips und Kragen geht es um einen konservativen Islam in einer modernen Welt. Wortreich, bodenständig, nahe an den Lebensthemen der meist jungen Zuhörer, die in die Zehntausende gehen – so wird die Scharia attraktiv und lebbar gemacht. Modernität mit schariatreuem Islam zu verbinden ist die Zielrichtung. Die Mission heißt: Muslimsein ist hip, Islam ist in.5

So widersprüchlich es scheint: Tradition, Lifestyle und politische Ideologie müssen keine Gegensätze bilden, sie werden zeitgemäß und selbstbewusst kombiniert. In dem schon genannten Buch von Julia Gerlach spricht die Autorin von Pop-Muslimen. Diese seien auch deshalb spannende Gesprächspartner, „weil sie alles durcheinander bringen. Ihre Mischung aus Islamismus und westlichem Lifestyle, die Herausbildung einer eigenen islamischen Etikette, die beispielsweise den Umgang der Geschlechter in islamisch korrekter Weise regelt, und zugleich der unbedingte Wille, in der deutschen Gesellschaft erfolgreich zu sein, sprengen die herkömmlichen Raster ... Der Begriff Pop-Islam steht für den Remix der Lebensstile. Die Jugendlichen greifen westliche Mode, Musik und TV-Kultur auf und versehen sie mit islamischem Vorzeichen.“6

Der mehr oder weniger starke Pragmatismus in „dogmatischen“ Fragen und die Offenheit einzelner Protagonisten für moderne Ausdrucksformen kommen der Lebenswelt junger Pop-Muslime entgegen. Deren Bezugnahme auf die Angebote ist individualistisch und selektiv geprägt. Doch fällt die enorme Resonanz auf, die auf diesem Wege konservative islamische Glaubensinhalte bei der Bildung neuer Frömmigkeitsformen im Spannungsfeld zwischen unpolitisch individualisierenden Symbolisierungen und radikalen islamistischen Parolen finden.

Angesichts der Identitätsprobleme muslimischer Deutscher mit Migrationshintergrund erscheint die (Re-)Islamisierung der Lebenskonzepte als Möglichkeit, biografische Spannungen und Brüche wenn nicht zu überwinden, so doch durch eine übergeordnete Perspektive in eine neue Balance zu bringen. Ein junger Türke sagt es so: „Wenn ich in der Türkei bin, sagen die Leute: Du bist ein Deutscher. Wenn ich hier bin, sagen die Leute zu mir: Du Türke! Aber ein Muslim ist ein Muslim, egal wo er sich gerade befindet!“

Auf dem (Mittel-)Weg zum Euro-Islam

Auf IslamOnline.net gibt es speziell eine Rubrik „Euro-Muslime“. Dort wird neben Yusuf Islam alias Cat Stevens und anderen Tariq Ramadan als vorbildlicher europäischer Muslim vorgestellt, als „Role Model“ für die junge Generation.7 Der Schweizer Sozialphilosoph und Islamwissenschaftler ist einer der umstrittensten Vordenker eines in Europa sich beheimatenden Islam, der als Reformer und Modernist gepriesen oder aber als islamistischer Wolf im liberalen Schafspelz betrachtet wird.#8 Er bezeichnet sich selbst als „Reformsalafist“ und Europa als „Haus des Glaubensbekenntnisses“ (Dar asch-Schahada). Hier gelte es selbstbewusst und aktiv an der westlichen Gesellschaft zu partizipieren, um die universal gültigen (islamischen) Werte und Rechte zur Geltung zu bringen. Im Grunde gehe es nicht um die Islamisierung des Westens, sondern um die Anerkennung der universellen islamischen Werte, die letztlich zur Integration des Westens in die Welt des Islam führe.9

Der Großmufti von Bosnien-Herzegowina, Mustafa Cerić, hat 2003 eine „Declaration of European Muslims“ veröffentlicht10 und sich verschiedentlich zu dem Ziel einer gemeinsamen muslimischen Autorität in Europa bekannt.11 Er betrachtet die Verfassung im Rechtsstaat als unhintergehbare Ordnung, die durch die Scharia zwar keinesfalls ersetzt, aber doch ergänzt werden soll. Denn die Scharia beinhalte moralische Prinzipien, die universal bindend seien. Diese könnten zu einer besseren Balance von „geistigen Werten“ und dem materialistisch-naturwissenschaftlichen Erbe der Aufklärung im Westen beitragen. Die koranische Formulierung „Volk der Mitte“ aus Sure 2,143 verweist auf die Aufgabe, in dieser Hinsicht integrativ vermittelnd zu wirken. Die Auswirkungen der Aufklärung, besonders die negativen, bedürfen demnach in der heutigen Zeit des Gegengewichts bzw. der Ergänzung durch die geistigen Werte der Scharia. So sieht Cerić Europa als das „Haus des Friedens“. Dabei liegt nicht zufällig die Assoziation nahe, „Frieden“ in größtmöglicher semantischer Nähe zum „Islam“ zu verstehen. Die Verwirklichung stellt sich Cerić in einem Gesellschaftsvertrag vor, der seiner komplementären Sicht von Scharia und Verfassungsstaat Rechnung tragen soll.

In wiederum einem ganz anderen, durch türkische Diskurse bestimmten Rahmen bewegt sich das vor allem im Bildungsbereich tätige Netzwerk des türkischen charismatischen Predigers Fethullah Gülen.12 Es versteht sich nicht als politische oder ideologische Organisation, sondern als moderne soziale Bewegung, die freilich religiös motiviert ist. Zeitgemäße säkulare Bildung wird für eine effektive Mitgestaltung der modernen Welt für am besten geeignet gehalten. Ziel dieser Mitgestaltung ist eine (Re-)Islamisierung der Gesellschaft im Sinne einer Rückbesinnung auf islamische Ideale und die Läuterung der Gesellschaft zur islamischen Pflichterfüllung. Gülen will auf diese Weise Rückständigkeit und relative Schwäche des Islam, der Muslime und nicht zuletzt der Türkei überwinden helfen. Der durchaus konservativ sunnitisch-hanafitisch verstandene Islam soll gesellschaftsprägend wirksam werden, und dies auch durch die Muslime in der Diaspora.

Bei aller Unterschiedlichkeit der exemplarisch angesprochenen Konzepte – die in der Kürze nur angedeutet werden konnten – ist festzuhalten, dass alle auf ihre Weise von einem „Mittelweg“ sprechen, der dem Islam in Europa dienen soll. Es geht diesen und anderen Vertretern eines gangbaren Weges für Muslime im Westen um die Stärkung eines europäischen Islam, der sich der westlichen Gesellschaft nicht verschließen soll, zugleich jedoch der als universal und übergeordnet verstandenen göttlichen Ordnung der – wie auch immer im Einzelnen auszulegenden – Scharia durchaus verpflichtet bleibt.

Wurde oben kritisch auf einen „kontextlosen Islam“ hingewiesen, so beinhaltet diese Form der Kontextualisierung, die häufig im Sinne eines Dialogs der Kulturen in den Vordergrund gestellt wird, die subtilere Gefahr, eben aufgrund ihrer „westlichen“ Diktion in ihrer Tragweite verkannt zu werden. Es sind durchweg komplementäre und nicht transformative Denkstrukturen vorherrschend, was das Verhältnis von Scharia und westlicher Gesellschaftsordnung angeht. Das bedeutet, dass man im Grundsatz nicht von einer Wandlung der Scharia auf der Grundlage der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung ausgeht, sondern aus pragmatischen Gründen im Sinne des Allgemeinwohls der Umma (maslaha) kontextbezogene Zwischenlösungen anstrebt, mittel- und langfristig jedoch eine Implementierung von Schariagrundsätzen im Westen verfolgt. In einem Prozess, an dessen Anfang wir immer noch stehen, wird als die beharrlichere, da gottgegebene Prägekraft die unveränderliche göttliche Rechtleitung des Menschen gesehen, die in der Scharia Gestalt gewinnt. Ihr gegenüber muss in dieser Perspektive das säkulare Gesellschaftsmodell, da irdisch und von Menschen gemacht, als der im Moment zwar noch vorherrschende, langfristig aber nicht zu haltende Ausdruck menschlicher Selbstüberhebung über die geistig-moralischen Werte der universalen Religion (sprich: des Islam) gelten.

Es ist also wichtig zu sehen, dass unter dem Stichwort Euro-Islam sehr unterschiedliche Denkmodelle verhandelt werden. Dabei sind die im engeren Sinne theologischen Ansätze, die von einer wirklichen Transformation islamischer Grundsätze im Dialog mit dem säkularen Gesellschaftsmodell ausgehen, zu unterscheiden von islamjuristischen Ansätzen, die zwar häufig als „reformerisch“ bezeichnet werden, in Wirklichkeit jedoch ungeachtet diverser Adaptionen an heutige Lebensverhältnisse im Rahmen der klassischen Interpretationsmuster der Superiorität des ganzheitlich verstandenen politischen Islam bleiben.

Einschätzung

Die „globale Umma“ ist zunächst zweifellos nichts anderes als ein ideologisches Konstrukt. Es gibt sie nicht einfach so, sie besteht zuallererst als Diskursphänomen. Studien zeigen zudem, dass radikale Internetbotschaften nicht eins zu eins umgesetzt werden. Sprachliche Beschränkungen, ideologische Vorbehalte, zu große Abstraktion, zu viele unterschiedliche Umma-Konzepte und -Ansprüche, die im Umlauf sind (so stehen Türken in der Regel in ganz anderen Diskurszusammenhängen als Araber und die wiederum in anderen als Iraner usw.) – all dies wirkt einer tatsächlichen Realisierung der islamischen globalen Umma entgegen und relativiert insofern das Phänomen. Keine einzige der propagierten Ummas verfügt über eine reale territoriale oder politische Basis. Die differenten Vorstellungen und individuellen Zuschreibungen werden kaum je so in Übereinstimmung zu bringen sein, dass ein geeintes Bewusstsein darüber zu erzielen wäre.

Doch diese grundsätzliche Einsicht bedeutet keine Entwarnung, was die Etablierung von Schariastrukturen anbelangt. Neuere Entwicklungen zeigen die Tendenz, in Anknüpfung an und Fortführung von Reformbestrebungen des sogenannten islamischen „Modernismus“ (etwa bei Muhammad Abduh, Raschid Rida) den Islam als die Lösung für zivilisatorische Probleme aller Art zu betrachten. Fortschritt, Wissenschaft, Technik sind demnach nicht nur mit der rationalen Grundhaltung des Islam vereinbar, vielmehr wird der Islam als gleichermaßen prophetische wie politische Reform gleichsam am Ursprung jeden gesellschaftlichen Fortschritts zum Wohle der Menschheit gesehen. Was „der Islam“ in seinem eigentlichen Auftrag ist, soll jeweils durch die konsequente Rückbesinnung auf seine Ursprünge, zuallererst auf Koran und Sunna (die Überlieferungen des Propheten), bestimmt werden. Auf diese Weise wird es einerseits Muslimen erleichtert, sich auf den Diasporakontext der westlichen Hemisphäre einzulassen, und dies in einer globalisierenden „ökumenischen“ Ausrichtung zur Überwindung klassischer, in den traditionellen Rechtsschulen beheimateter Deutungsmuster. Andererseits wird eine (nach „westlichem“ Verständnis) reformorientierte Auseinandersetzung mit diesem Kontext erschwert, insofern die Überlegenheit des islamischen Ursprungsmodells von vornherein feststeht. Was als Dialog der Kulturen firmiert, krankt daher häufig daran, dass von den Beteiligten nicht nur völlig unterschiedliche, sondern teilweise diametral entgegengesetzte Inhalte mit Begriffen wie Dialog, Reform, Modernismus, Euro-Islam, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Toleranz etc. verbunden werden.

So sehr die gesellschaftliche Partizipation von Muslimen zu würdigen und zu begrüßen ist, so dringend erforderlich ist die aktive Reflexion der religiös-weltanschaulich pluralistischen Situation, in der sie sich vollzieht. Dies gilt auch im Hinblick auf ihre verfassungsrechtlichen Implikationen und die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen. Diese Reflexion geht über einen Diskurs im Rahmen des islamischen Modernismus hinaus, indem sie nicht additiv und komplementär denkt, sondern auf der Grundlage der säkularen (nicht säkularistischen, wertneutralen, sondern religiös-weltanschaulich neutralen) Gesellschaftsordnung ganz unterschiedlichen religiösen Diskursen Rechnung zu tragen sucht, die sich gleichzeitig und gleichberechtigt im Widerstreit der Meinungen artikulieren. Dabei gilt: Jene Grundlage versteht sich nicht von selbst, sie ist nicht unerschütterlich. Die Herausforderung für die Mehrheitsgesellschaft besteht darin, für die sie begründenden, stützenden und nährenden Werte streitbar einzutreten.


Friedmann Eißler


Anmerkungen

1 Julia Gerlach, Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland, Bonn 2006.

2 Was unter einer „zeitgemäßen“ Interpretation der Scharia verstanden werden soll und kann, ist auch innerislamisch höchst umstritten. Siehe dazu auch die beiden letzten Abschnitte dieses Beitrags.

3 Uriya Shavit, „Sheikh Google“ – The Role of Advanced Media Technologies in Constructing the Identity of Muslim-Arab Germans, in: José Brunner/Shai Lavi (Hg.), Juden und Muslime in Deutschland. Recht, Religion, Identität, Göttingen 2009, 255-272; ders., Should Muslims Integrate into the West?, in: Middle East Quaterly 14/2007, 13-21.

4 „Die jungen Muslime heute holen sich die Informationen über ihren Glauben von Shaykh Google!“ (www.heise.de/tp/r4/artikel/32/32070/1.html). Der Ausdruck entstammt übrigens der Kritik gegenüber dem Phänomen, einer Kritik, die sowohl von Muslimen als auch von Nichtmuslimen artikuliert wird. Sie sehen die Gefahr, dass Radikalismus und falsche Lehren gesät werden.

5 Vgl. das Themenheft Jochen Müller / Götz Nordbruch / Berke Tataroglu, Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus. Lifestyle – Medien – Musik, hg. von der Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage, Berlin 2008; vgl. auch ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft, Berlin.

6 J. Gerlach, Zwischen Pop und Dschihad, a.a.O., 11.

7 European Muslim Role Models (Share), www.isla monline.net, vgl. dazu www.ufuq.de/newsblog/171-islamonline-rolemodels-funge-muslime-in-europa (7.4.2010).

8 Vgl. Tariq Ramadan, Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft, München 2009; Ralph Ghadban, Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas, Berlin 2006.

9 Vgl. Ralph Ghadban, Ein Dozent des unfreien Denkens. Zum Fall des Philosophen Tariq Ramadan, www.faz.net  (7.4.2010).

10 Siehe www.islamicpluralism.org/texts/2006t/bosni anclericsdeclaration.htm bzw. www.rferl.org/con tent/article/1066751.html.

11 Vgl. Mustafa Cerić, The challenge of a single Muslim authority in Europe, http://springerlink.com (7.4.2010)

12 Vgl. Bekim Agai, Zwischen Netzwerk und Diskurs. Das Bildungsnetzwerk um Fethullah Gülen (geb. 1938): Die flexible Umsetzung modernen islamischen Gedankenguts, Hamburg-Schenefeld 2008; ferner meinen Beitrag in der demnächst erscheinenden Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen: Islamisierung profaner Arbeit als Dienst an der Menschheit. Zum Bildungsideal Fethullah Gülens.