Elke Luise Barnstedt

Was sind Menschenrechte?

Ein Blick auf die alltägliche Arbeit im Bundesverfassungsgericht legt die Vermutung nahe, dass die meinem Beitrag zu Grunde liegende Frage „Was sind Menschenrechte?“ von einer großen Anzahl von Bürgern mit Leichtigkeit beantwortet werden kann. In Verfassungsbeschwerden und Eingaben berufen sich Menschen auf Grund- oder Menschenrechte, um individuelle oder kollektive Rechte gegen den Staat – die Bundesregierung, die Gesetzgebung, Gerichte, Verwaltungen oder andere öffentliche Institutionen –, bisweilen auch gegenüber Mitbürgern oder privaten Institutionen geltend zu machen. Der Arbeitsalltag des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass heute die Wirksamkeit von Grund- und Menschenrechten zumindest in Deutschland unhinterfragt ist und als selbstverständlich angesehen wird. Dass aber die Geltung und vor allem die Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt zum einen ein Blick auf die jüngere Geschichte des deutschen Volkes und damit auf die Zeit des Nationalsozialismus, aber auch auf die der Deutschen Demokratischen Republik, und zum anderen ein Blick in die Gegenwart und damit in die aktuelle Rechtspraxis anderer Staaten. Sowohl dieser Hintergrund als auch die zum Teil unzutreffenden Erwartungen an den Inhalt von Grund- und Menschenrechten, die im Alltag des Bundesverfassungsgerichts deutlich werden, zeigen, dass die Frage „Was sind Menschenrechte?“ mehr als berechtigt und von aktueller Bedeutung ist.

Begriffsbestimmung

Abweichend vom Thema dieses Vortrags ist in den einleitenden Worten nicht nur von Menschenrechten, sondern von „Grund- und Menschenrechten“ die Rede. Obwohl die Veranstaltung aus Anlass der 60. Wiederkehr der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 stattgefunden hat und dementsprechend das Thema sich nur auf die Menschenrechte bezieht, ist – um die deutsche Terminologie einzubeziehen – von „Grund- und Menschenrechten“ die Rede. Oft werden auch beide Begriffe synonym verwendet – dies sind sie aber nur partiell.

Unter Menschenrechten insbesondere im Sinne der AEMR versteht man den Kanon von Rechten, die zum Schutz aller Bürger gegenüber Eingriffen des Staates in jedem Staat Geltung haben sollen. Dieser Kanon ist in Deutschland durch die Grundrechte im Grundgesetz kodifiziert. Die Grundrechte gehen zum Teil über den Mindeststandard hinaus, und vor allem heißen sie in Deutschland deshalb nicht Menschenrechte, weil im Grundgesetz zwischen Menschen- bzw. so genannten „Jedermanns-Rechten“ und Bürgerrechten unterschieden wird. Nicht alle im Grundgesetz geregelten Freiheitsrechte stehen allen Menschen zu. Das Grundgesetz unterscheidet vielmehr zwischen Rechten, auf die sich alle berufen können (so etwa in Art. 2 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“), und Rechten, die nur Bürgern und Bürgerinnen der Bundesrepublik zustehen. Hier ist Art. 8 Abs. 1 GG als Beispiel zu nennen: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“

Schon wegen dieser Differenzierung im Grundgesetz, der nationalen „Menschenrechtsregelung“, können die Grundrechte eben nicht Menschenrechte heißen.2 Das hat eine lange Tradition, denn schon in der ersten deutschen Verfassung, der „Frankfurter Reichsverfassung“ vom 28.3.1849 (auch „Paulskirchenverfassung“ genannt), die aber niemals in Kraft getreten ist, war der die individuellen Rechte garantierende VI. Abschnitt mit der Überschrift versehen: „Die Grundrechte des deutschen Volkes“. Der Begriff „Grundrechte“ hat daher wohl seine Ursache darin, dass durch sie die grundlegenden Rechte formuliert sind.

Die historische Entwicklung der Menschenrechte

Das berühmteste Beispiel erster Ansätze zur Regelung von menschenrechtsähnlichen Rechtsgarantien der staatlichen Gewalt gegenüber ihren Bürgern ist die englische „Magna Carta Libertatum“ von 1215. Diese im Mittelalter zwischen dem Monarchen und den sogenannten „Freien“ ausgehandelten – oder vielmehr von den weltlichen und geistlichen Feudalherren dem damaligen König Johann nach einem verlorenen Krieg abgetrotzten – Rechtsgarantien3 hatten über weite Passagen nichts Neues zum Inhalt, denn es wurden durch diesen Vertrag lediglich die Rechte wieder hergestellt, die den weltlichen und geistlichen Feudalherren durch König Johann genommen worden waren.4 Die Magna Carta Libertatum kann aber vor allem deshalb nicht als den heutigen Menschenrechten entsprechend angesehen werden, weil sie nur den „Freien“ und damit dem Feudalstand Rechte einräumte und nicht der überwiegenden Zahl der Bürger.5 Der Magna Carta fehlt damit ein wichtiges Element der heutigen Menschenrechte: die Gleichheit, wie sie etwa in Art. 7 der AEMR festgehalten ist: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung verstößt, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung.“

Wenn die Magna Carta trotz des lehenrechtlichen Elements als Grundstein der englischen Verfassung und auch der kodifizierten Menschenrechte angesehen wird, so liegt das daran, dass darin über die zeitgebundene Lehenverfassung hinaus Bestimmungen enthalten sind, auf die Jahrhunderte lang im Kampf um die bürgerlichen Rechte gegen die monarchischen Rechte zurückgegriffen wurde. Häufig zitiert wird hier Art. 39, in dem es heißt: „Kein freier Mann soll ergriffen, gefangen, aus seinem Besitz vertrieben, verbannt, oder in irgendeiner Weise zugrundegerichtet werden, noch wollen Wir gegen ihn vorgehen oder ihm nachstellen, es sei denn aufgrund eines gesetzlichen Urteiles seiner Standesgenossen und gemäß dem Gesetz des Landes.“6 Diese Vorschrift enthält – sieht man von der Tatsache der Feudalrechte ab – Elemente, die heute für den Inhalt von Menschenrechten unverzichtbar sind, etwa die Garantie des Schutzes des Eigentums und der persönlichen Freiheit und deren Einschränkbarkeit nur durch ein Gesetz. In der AEMR sind sie z. B. in Art. 9 (Schutz vor willkürlicher Verhaftung); in Art. 11 Nr. 2 (nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz) und Art. 17 Nr. 2 (Schutz des Eigentums) geregelt.

Daneben enthält die Magna Carta auch Formulierungen von Freiheitsrechten und Garantien, die heute zwar von der Grundaussage her auch in Menschenrechtskatalogen enthalten sind, jedoch vom Wortlaut her gegenwärtig befremdlich wirken, so etwa, dass keine Witwe gezwungen werden soll, sich zu verheiraten, solange sie ohne Ehemann leben will. Diesem Freiheitsrecht ist dann noch der Zusatz hinzugefügt, die Witwe solle die Sicherheit leisten, dass sie nicht ohne unsere Zustimmung heiratet, sofern sie von uns Lehen trägt, oder, sofern sie von einem anderen Lehen trägt, nicht ohne Zustimmung des Herrn, von dem sie Lehen trägt.7 In der AEMR findet sich in Art. 16 folgende Formulierung: „1. Heiratsfähige Frauen und Männer haben ohne Beschränkung aufgrund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschließung, während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte. 2. Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden.“

Die heute unverzichtbare und nicht aus den Regelungen von Menschenrechten in allen Verfassungen wegzudenkende Religionsfreiheit war ein wesentlicher Gegenstand des „Agreement of the People“ vom 28.10.1647. Der Anspruch der Independenten auf Eigenständigkeit der Einzelnen und der Gemeinden in Religionsangelegenheiten bildete einen frühen Kristallisationspunkt für die Idee allgemeiner Menschenrechte, d. h. für den Gedanken, dass es eine unantastbare Individualsphäre gibt, über die die Staatsgewalt prinzipiell nicht verfügen darf.8 Als Garantie des Parlaments sollte im „Agreement of the People“ geregelt werden: „dass Angelegenheiten der Religion und Arten des Gottesdienstes von uns in keiner Weise irgendeiner irdischen Macht anvertraut sind, weil wir in dieser Hinsicht ohne vorsätzliche Sünde nicht einen kleinen Schritt von dem zurückweichen oder das übertreten können, was unser Gewissen uns als Geist Gottes vorschreibt: trotzdem ist die öffentliche Art der Unterrichtung der Nation (sofern es nicht zwangsweise geschieht) ihrem Ermessen überlassen.“9

In der Charta der Vereinten Nationen ist die Gewissens- und Religionsfreiheit in Art. 18 festgehalten. Neben dem Element der Religionsfreiheit sollte im „Agreement of the People“ u. a. auch die Gleichheit vor und in dem Gesetz geregelt werden. Das Agreement sollte dem Volk zur Annahme vorgelegt und dann als so genannter Gesellschaftsvertrag abgeschlossen werden. Jedoch blieb das Agreement ein bloßer Entwurf und hat nie Gültigkeit erlangt.10 Der Aspekt der Verabschiedung eines Grundrechtskataloges unmittelbar durch das Volk, etwa mittels einer Volksabstimmung, hat in den letzten Jahren in Deutschland und auf europäischer Ebene neue Aktualität erhalten. So wurde nach der Vereinigung in Deutschland nicht nur die Verabschiedung einer neuen gemeinsamen Verfassung durch das Parlament, sondern auch eine Abstimmung über die Verfassung durch alle Bürger und Bürgerinnen diskutiert. Es wurde erörtert, ob nicht auch die Verträge der Europäischen Union einer Abstimmung durch das Volk bedürfen.

Ebenfalls in England ist ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der Menschenrechte in Gestalt des „Act of Habeas Corpus“ von 1679 zu verzeichnen, der Schutz vor willkürlichen Verhaftungen garantierte. Wie auch schon bei der Magna Carta waren es konkrete Missstände, die zu dieser Garantie führten, denn Sheriffs, Kerkermeister und andere Amtsträger hielten, wie es in der Präambel heißt, Untertanen des Königs „zu ihrem großen Schaden und Verdruß im Gefängnis fest“11, statt sie dem Richter vorzuführen. Mit dem „Act of Habeas Corpus“ wurde verbrieft, dass jeder Gefangene auf Verlangen binnen drei Tagen persönlich dem Lordkanzler oder dem Lord-Großsiegelbewahrer oder dem Gericht vorzuführen sei und dass ihm dort die wahren Gründe seiner Gefangennahme zu bescheinigen seien.12

Im Herbst 2008 war genau die Frage, in welchem Umfang es in Großbritannien zulässig ist, eine Person ohne richterliche Anordnung in Haft zu nehmen, Gegenstand parlamentarischer Beratungen. Nach einem Gesetzesentwurf sollte ein Terrorverdächtiger ohne Anklage statt bisher 28 künftig 42 Tage in Untersuchungshaft festgehalten werden können. Dieser Entwurf wurde im britischen Oberhaus abgelehnt und in der Tagespresse unter der Überschrift diskutiert: „Lords halten Freiheit hoch.“13 Die AEMR regelt dieses Menschenrecht in Art. 9 („Schutz vor willkürlicher Verhaftung“).

Abgerundet und ergänzt wird die Entwicklung der Menschenrechte in England durch die „Bill of Rights“ vom 23.10.1689. Diese enthält in ihrem ersten Teil eine Aufzählung der Missetaten des Stuartkönigs Jacob II. (1685-1688) und – gewissermaßen spiegelbildlich – Verbürgungen durch das neue Herrscherpaar William II. (1689-1702) und Mary II. (1689-1694). Neben den grundlegenden Rechten des Parlaments finden sich einzelne „Individualrechte“, etwa das Recht der Untertanen, „Petitionen an den König zu richten, und daß eine jede Verhaftung oder gerichtliche Verfolgung wegen der Einreichung solcher Petitionen ungesetzlich ist“14. Auch das Petitionsrecht ist heute ein nicht wegzudenkender Regelungsinhalt in Menschenrechtskatalogen. Im Grundgesetz ist es in Art. 17 GG geregelt.

Die exemplarisch dargestellte Entwicklung einzelner Menschenrechte in England zeigt insbesondere, dass die Kodifizierung von Menschenrechten geradezu im Regelfall ein Korrektiv nach massiven Eingriffen des Monarchen und seiner Vertrauten in die Rechte der Untertanen war. Auch die AEMR und vor allem ihr Fundament, die Charta der Vereinten Nationen, sind eine Reaktion auf zwei Weltkriege mit massiven Menschenrechtsverletzungen. Dieser Aspekt, der auch in vielen Menschenrechtskatalogen in Verfassungen wiederzufinden ist, lässt den primären Regelungsgehalt von Menschenrechten zu Tage treten: Sie sind Abwehrrechte des Einzelnen oder von Vereinigungen von Menschen gegen den Staat. Die Beispiele aus der frühen Entwicklungsgeschichte der Menschenrechte in England zeigen auch, dass es damals um die – wenn auch zum Teil abgetrotzte – obrigkeitliche Gewährung von Menschenrechten und nicht um eine vom Parlament gestaltete und verabschiedete Ordnung eines Staates ging.

An diese Entwicklung in England schloss sich im nächsten Jahrhundert geradezu weltweit eine Fortentwicklung der Menschenrechte an, in der insbesondere das feudalherrschaftliche Element entfiel. Als Beispiel ist hier zuerst die nordamerikanische „Virginia Bill of Rights“ (1776) zu nennen. Diese ist die erste vollständige Menschenrechtserklärung der Verfassungsgeschichte. Die neuartige Dimension dieser Menschenrechtserklärung kommt bereits in Art. 1 zum Ausdruck: „Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und haben gewisse angeborene Rechte, deren sie, wenn sie in den gesellschaftlichen Zustand zusammentreten, durch keinen Vertrag ihre Nachkommenschaft berauben oder können verlustig erklären, natürlich sind es die Rechte auf Genuss des Lebens und der Freiheit, Möglichkeit mit den Mitteln Eigenthum zu erwerben und zu besitzen, und Glückseligkeit und Sicherheit zu verfolgen und zu erlangen.“15

In dieser Formulierung wird ein neues Verständnis von Menschenrechten erkennbar: Die Rechte der Menschen können durch Gesellschaftsvertrag zwar eingeschränkt, nicht aber völlig aufgehoben werden. Es werden unveräußerliche Rechte kodifiziert, die durch den Staat nicht beschränkt werden können. Die Unabdingbarkeit und Unverzichtbarkeit grundlegender Menschenrechte ist auch in Art. 79 Abs. 3 GG in Gestalt der so genannten Ewigkeitsklausel enthalten. Danach ist eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig, durch die Art. 1 GG berührt wird. Art. 1 GG regelt, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Im Übrigen enthält die Bill of Rights in Anlehnung an die dargestellten Menschenrechtsregelungen in England Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung, ein Verbot grausamer Strafen, und vor allem wird in Art. 12 bereits ausdrücklich die Pressefreiheit garantiert.16 Dies entspricht Art. 19 AEMR und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG.

Das wohl berühmteste Dokument der modernen Menschenrechtsbewegung ist die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung, die „Declaration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26.8.1789. Sie enthält nahezu alle modernen Menschenrechte. Zu Beginn ist in Art. 1 geregelt: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf dem Gesetz begründet werden.“17

Es folgen dann alle Grund- und Menschenrechte, die dem modernen Staat entgegengesetzt werden können, so etwa die allgemeine Handlungsfreiheit, die Meinungs- und Pressefreiheit und die Gewissensfreiheit. Auch wenn die Menschenrechte angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung und angesichts des technischen Fortschritts, der dem Staat in rasanter Weise neue Möglichkeiten für Eingriffe in die Rechte der Bürger eröffnet, immer wieder neue Dimensionen und Regelungsinhalte erhalten müssen, wurde mit der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung der wesentliche Kanon der Menschenrechte kodifiziert.

Im Folgenden soll kurz auf die Entwicklung in Deutschland eingegangen werden. Die ersten Grundrechtskataloge finden sich in den frühkonstitutionellen Verfassungen Süddeutschlands. Obwohl im Nachbarland Frankreich bereits die Charte Constitutionelle von 1814 galt, die Teile der französischen Menschen- und Bürgerrechterklärung von 1789 aufnahm, enthielten die Grundrechtskataloge in Süddeutschland noch immer Elemente der monarchischen Gesellschaftsstruktur, wenn es in § 7 der Verfassungsurkunde für Baden lautete: „Die staatsbürgerlichen Rechte der Badener sind gleich in jeder Hinsicht, wo die Verfassung nicht namentlich und ausdrücklich eine Ausnahme begründet.“ Indem diese Vorschrift in ihrem zweiten Halbsatz eine Abweichung vom Gleichheitssatz durch die Verfassung zulässt – man spricht von einem Gesetzesvorbehalt –, wurde ermöglicht, dass Privilegien, die in der Regel mit der Geburt erworben wurden, ein zulässiges Differenzierungsmerkmal bleiben konnten, so etwa im Wahlrecht, das an bestimmte Besitzstände anknüpfte.18

Die erste für ganz Deutschland konzipierte Verfassung mit einem Grundrechtskatalog war die bereits erwähnte Paulskirchenverfassung von 1849, die aber nicht in Kraft getreten ist. Die der Paulskirchenverfassung nachgebildete Preußische Verfassungsurkunde von 1850 enthielt ebenso wie ihr Vorbild einen Grundrechtskatalog, doch war sie keine von einem Parlament konzipierte und verabschiedete Verfassung, sondern ein monarchischer Oktrois. Es folgte mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung von 1919 die Regelung eines umfassenden Grundrechtskataloges für ganz Deutschland. Sie gilt auch heute noch teilweise, indem Art. 140 GG bestimmt, dass die Art. 136, 137, 138,139 und 141 Weimarer Reichsverfassung inkorporiert werden. Dadurch wird insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften auch heute noch durch die Weimarer Reichsverfassung geregelt.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen

Die AEMR stellt einen ersten Versuch dar, staatenübergreifend einen ethischen Minimalkonsens der Rechte zu definieren, die einem jeden Menschen gegenüber dem Staat und in der Welt zustehen sollen. Die AEMR ist das bekannteste und auch erste Dokument einer internationalen Menschenrechtscharta. Mit ihr wurde der bereits in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 festgehaltene Zweck der Verneinten Nationen verwirklicht: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen ...“19 Diese mehr programmatische Formulierung wird in der Verpflichtung in Art. 1 Ziff. 3 konkretisiert: „Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: ... 3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen ...“

Deutlich wird an diesen Zitaten, dass die Charta von 1945 und ihr Menschenrechtsbezug, aber auch die Verabschiedung der AEMR 1948, auf den noch sehr gegenwärtigen Erfahrungen zweier Weltkriege beruhen. Wie schwierig aber trotzdem die Einigung über den Inhalt allgemeingültiger Menschenrechte gewesen sein muss, lässt die Rechtsform der AEMR als Resolution vermuten, denn als Resolution der Generalversammlung ist die AEMR nicht verbindlich.20 Eine Resolution ist kein völkerrechtlicher Vertrag, zu dessen Einhaltung sich Staaten durch Ratifizierung verpflichten. Die AEMR ist, wie die Resolution der UN-Generalversammlung „Globale Agenda für den Dialog der Kulturen“ aus dem Jahr 2001 formuliert21, „ein von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal“, eine „Quelle der Inspiration für die weitere Förderung und den weiteren Schutz aller Menschenrechte und Grundfreiheiten politischer, sozialer, wirtschaftlicher, bürgerlicher und kultureller Art, einschließlich des Rechts auf Entwicklung“. Die Menschenrechtserklärung stellt noch heute einen eindrucksvollen ethischen Kodex dar, und ihre Wirkung – auch ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit – zeigt sich darin, dass sie Vorbild für viele neue Staatsverfassungen ist.22

Vielleicht gab aber gerade die unverbindliche Rechtsform als Resolution die Freiheit, einen noch heute aktuellen und geradezu revolutionären Inhalt zu verabschieden, denn die Resolution enthält neben einem umfangreichen Katalog an klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechten auch „soziale Grundrechte“. Zu den „klassischen Freiheits- und Gleichheitsrechten“ zählen insbesondere: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Art. 1), Diskriminierungsverbot (Art. 2), Recht auf Leben und Freiheit (Art. 3), Verbot der Sklaverei (Art. 4), Folterverbot (Art. 5), Anerkennung als Rechtsperson, Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 7), Anspruch auf Rechtsschutz (Art. 8), Schutz vor willkürlicher Haft und Ausweisung (Art. 9), Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 10), Unschuldsvermutung, keine Strafe ohne Gesetz (Art. 11), Schutz der Privatsphäre (Art. 12), Freizügigkeit (Art. 13) und Asylrecht (Art. 14), Recht der Staatsangehörigkeit (Art. 15), Eheschließungsfreiheit und Schutz der Familie (Art. 16), Recht auf Eigentum (Art. 17), Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 18), Meinungsfreiheit (Art. 19), Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 20), allgemeines, gleiches Wahlrecht und politische Teilhabe (Art. 21).

Die darüber hinaus in der Resolution enthaltenen „sozialen Grundrechte“ – die mit ihrem umfassenden und gleichzeitig sehr konkreten Inhalt auch im Grundgesetz nicht enthalten sind – sind insbesondere: das Recht auf soziale Sicherheit sowie der Anspruch von jedermann darauf, „in den Genuss der für seine Würde und freien Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“ (Art. 22); ein Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit und ein Recht „auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der Menschenwürde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist“ (Art. 23); ein „Anspruch auf Erholung und Freizeit, auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub“ (Art. 24); ein „Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistung der sozialen Fürsorge, gewährleistet“, ein „Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter und von anderweitigem Verlust der Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände“ (Art. 25); ein „Recht auf Bildung“ (Art. 26).

Die Verbindlichkeit von Menschenrechtsregelungen

Menschenrechte werden letztendlich nur dann verwirklicht und begrenzen nur dann staatliches Handeln, wenn dazu eine Verpflichtung besteht. Auf völkerrechtlicher Ebene geschieht das in der Regel in Gestalt eines völkerrechtlichen Vertrages. Dieser bindet den vertragsschließenden Staat gegenüber den anderen Staaten oder der supranationalen Institution. Innerstaatlich entsteht die Bindung in Deutschland durch den Erlass eines Gesetzes. Wie bereits erwähnt ist die AEMR eine Resolution und daher ohne Verpflichtung. Von den Vereinten Nationen wurde die Einhaltung von Menschenrechten verbindlich durch den „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ und den „Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“, beide vom 19. Dezember 1966, geregelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist beiden Verträgen beigetreten.23 In ihnen wird die AEMR teilweise in verbindliches Recht gefasst, wobei die Verträge aber im Umfang und im Regelungsgehalt hinter der AEMR zurückbleiben.

Der „Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ verpflichtet die Vertragsstaaten, die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Ausübung aller in dem Pakt festgelegten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sicherzustellen. Er regelt die Anerkennung sozialer Rechte von Bürgern, so auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, auf Bildung von Gewerkschaften. Er bestimmt, dass die Familie zu schützen ist, dass Müttern während einer angemessenen Zeit vor und nach der Niederkunft besonderer Schutz zukommt. Er verpflichtet die Staaten zu Sondermaßnahmen zum Schutz und Beistand für alle Kinder und Jugendlichen ohne Diskriminierung. Ferner wird das Recht eines jeden, einen angemessenen Lebensstandard zu erhalten und vor Hunger geschützt zu sein, geregelt.

Der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ beinhaltet u. a.: das Recht auf Leben, ohne jedoch ein generelles Verbot der Todesstrafe vorzusehen (dies geschah erst durch ein Fakultativprotokoll 1989); das Verbot der Folter und der Sklaverei; das Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit; den Schutz vor willkürlicher Verhaftung und die dazugehörigen Verfahrensgarantien; einen Katalog an Rechten, die ein faires Gerichtsverfahren sicherstellen sollen (Unschuldsvermutung, Verbot der Doppelbestrafung); den Schutz vor willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in das Privatleben, die Familie oder den Schriftverkehr; die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie die Meinungsfreiheit; die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit und den Schutz der Familie. Dieser internationale Pakt kennt im Übrigen auch die Unterscheidung zwischen Rechten, die die Vertragsstaaten allen Menschen zu gewährleisten haben, und solchen, die nur für ihre Bürger gelten. Die letztgenannte Einschränkung ist z. B. bezüglich des Rechts auf Zugang zu öffentlichen Ämtern vorgesehen.

Die Aufzählung der gewährleisteten Rechte zeigt, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sehr konkrete Verpflichtungen für die Vertragsstaaten enthält. Doch werden diese Menschenrechte nicht schrankenlos gewährleistet. Vielmehr regelt der Pakt auch Beschränkungen, die der Staat erlassen kann. Hier differenziert er zwischen einzelnen Rechten. So etwa kann die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, gesetzlich eingeschränkt werden. Das ist aber nur dann möglich, wenn gesetzliche Einschränkungen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, der Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und Freiheiten anderer erforderlich sind.

Eine ähnliche Regelung gibt es auch hinsichtlich des Rechts auf Meinungsfreiheit, indem Art. 19 Abs. 3 vorsieht, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit mit besonderen Pflichten und einer besonderen Verantwortung verbunden ist. Die Meinungsfreiheit kann daher bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die erforderlich sind für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer oder für den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit oder der öffentlichen Sittlichkeit. Die gleiche Unterscheidung ist auch im Grundgesetz enthalten, indem zwischen Grundrechten unterscheiden wird, die mit einem Gesetzesvorbehalt versehen sind, z. B. der bereits zitierte Art. 2 Abs. 1 GG, und solchen, denen kein Gesetzesvorbehalt beigefügt wurde, so etwa Art. 4 Abs. 1 GG (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und Art. 5 Abs. 3 GG (Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre).

In diesen beiden Regelungen kommt eine wichtige Systematik von Menschenrechten zum Ausdruck: Menschenrechte gewährleisten Rechte von Menschen gegenüber dem Staat. Sie schützen Einzelne vor dem Staat und seinem Handeln. Sie können aber eingeschränkt werden bzw. sie bedürfen sogar einer Einschränkung zur Gewährleistung des Staates als solchem – dies kommt in der Möglichkeit der Beschränkung aus Gründen der nationalen Sicherheit zum Ausdruck – oder zum Schutz der Rechte anderer Menschen und damit zum Schutz von Menschenrechten anderer. So kann z. B. die Meinungsfreiheit durch Regelungen eingeschränkt werden, die für die Achtung der Rechte oder des Rufs anderer erforderlich sind. Die individuellen und die kollektiven Rechte sind durch die Möglichkeiten der Einschränkung in das Gemeinwohl eingebunden. Menschenrechte werden und können nicht isoliert garantiert werden, sondern es ist immer ein Rückbezug auf den sie gewährenden Staat, das Gemeinwohl und die Menschenrechte anderer notwendig. In Bezug auf die Kollision von Grundrechten verschiedener Grundrechts-träger erhalten die Grundrechte eine über das Verhältnis von Staat und Bürger hinausgehende, eine „zwischenmenschliche“ Wirkung mit der Folge, dass die Ausübung eines Menschenrechts zurücktreten muss, weil es die Ausübung eines Menschenrechts eines anderen einschränkt.

Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht im sog. „Lüth-Urteil“ (15. Januar 1958) eine weitere, über die Wirkung als Abwehrrechte Einzelner gegen den Staat hinausgehende Wirkung der Grundrechte des Grundgesetzes entwickelt. In dieser Entscheidung wurde Folgendes bestimmt: „Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte unmittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen, wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt.“24

Mit dieser Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht, dass die Grundrechte – und damit die im Grundgesetz geregelten Menschenrechte – von jedem Richter bei der Auslegung des Rechts und vor allem auch bei der Auslegung des Zivilrechts im Rahmen von zivilrechtlichen Streitigkeiten, also von Streitigkeiten zwischen Bürgern zu berücksichtigen sind. Damit gewinnen die Grundrechte nicht nur im Verhältnis von Bürger und Staat eine Bedeutung, sondern sie wirken auch zwischen den Bürgern, indem der Richter bei der Entscheidung eines Rechtsstreits und damit bei der Auslegung von Vorschriften die Grundrechte zu berücksichtigen hat.

Weitere Regelungen von Menschenrechten

Seit der Verabschiedung der AEMR der Vereinten Nationen 1945 sind auf völkerrechtlicher und auf nationaler Ebene zahlreiche weitere Regelungen von Menschenrechten hinzugekommen. Auf nationaler Ebene ist hier zuerst das Grundgesetz zu nennen, das am 24. Mai 1949 in Kraft trat. Es hat damit die Weimarer Reichsverfassung als nationale Regelung von Menschenrechten nach der Zeit des Nationalsozialismus abgelöst. Daneben wurden z. T. in den Verfassungen der (Bundes-) Länder Menschenrechtskataloge geregelt.

Auf internationaler Ebene trat am 3. September 1953 die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“, kurz Europäische Menschenrechtskonvention oder EMRK, in Kraft.25 Mit dem Vertrag von Lissabon entsteht derzeit eine weitere Menschenrechtsregelung. Darin (Art. 6 Abs. 1) erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 3. Dezember 2000 enthalten sind, in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg niedergelegten Fassung an. Damit ist die Grundrechtecharta Bestandteil des Vertragswerkes von Lissabon und wird mit dem Inkrafttreten dieses Vertrages verbindlich.26

Auf der Ebene der Europäischen Union ist in den vergangenen 30 bis 40 Jahren eine weitere Quelle des Menschenrechtsschutzes hinzugekommen – in Gestalt der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften. Dieser hat in zahlreichen Entscheidungen, aufbauend auf einer rechtsvergleichenden Analyse des Menschen- und Grundrechtsschutzes der Mitgliedstaaten sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention, einen Menschenrechtsschutz bei der Anwendung des Europäischen Gemeinschaftsrechts entwickelt.27 Zusammenfassend ist festzustellen, dass heute für Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Regel auf nationaler und auf internationaler Ebene ein umfassender Menschenrechtsschutz gewährleistet ist.

Die Durchsetzung von Menschenrechten

Ein gängiger Satz lautet: „Rechte sind nur so gut, wie sie auch durchsetzbar sind.“ Das gilt besonders für die Menschenrechte. Deshalb wurde zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte 1966 ein weiterer völkerrechtlicher Vertrag geschlossen, das Fakultativprotokoll zum „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“.28 Es regelt die so genannte Individualbeschwerde. Mit ihr kann sich jeder Bürger der Staaten, die den Pakt und das Zusatzprotokoll ratifiziert haben, an den in Teil IV des Paktes vorgesehenen Menschenrechtsausschuss wenden, wenn er meint, durch den Staat in seinen im Pakt geregelten Menschenrechten verletzt worden zu sein. Hält der Ausschuss eine Beschwerde für zulässig und begründet, stellt er das in seiner abschließenden Entscheidung, den so genannten „Auffassungen“ fest. Damit wurde auf internationaler Ebene das verwirklicht, was auf nationaler Ebne die Gewaltenteilung zum Inhalt hat: Es wurde eine unabhängige Instanz geschaffen, die als Gegenüber zu den Staaten und deren Regierungen eine Verletzung der im Pakt geregelten Menschenrechte feststellt.

Die Auffassungen des Ausschusses werden dem jeweiligen Mitgliedstaat mitgeteilt. Der Ausschuss kann konkret zu treffende Abhilfemaßnahmen festlegen, so etwa die Entlassung aus der Haft, die Umwandlung einer Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe, die Änderung internationaler Verträge oder die Leistung einer angemessenen Entschädigung.29 Auf Grund der vertraglichen Verpflichtung hat der Staat die Auffassungen nach Treu und Glauben zu berücksichtigen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und dem Ausschuss gegebenenfalls die Gründe für eine Nichtbefolgung zu erläutern.30 Obwohl im Zusatzprotokoll die Entscheidungen des Ausschusses als „Auffassungen“ bezeichnet werden und sie keine unmittelbare und kassatorische Wirkung entfalten – d. h. dem Pakt widersprechende Gesetze, Urteile oder anderweitige hoheitliche Akte werden durch die Auffassungen nicht automatisch aufgehoben –, wird die Tätigkeit des Ausschusses als quasi-gerichtlich bezeichnet.31 Die Auffassungen des Ausschusses wirken neben ihrer feststellenden Wirkung vor allem durch ihre Veröffentlichung.

In paralleler Weise sieht auch die EMRK ein – jedoch gerichtliches – Verfahren, nämlich die Individualbeschwerde, vor. Diese kann von jedem Bürger und jeder Bürgerin eines Vertragsstaates angestrengt werden. Im Unterschied zum Pakt und zum Zusatzprotokoll entscheidet hier ein Gerichtshof, und in der EMRK werden die Entscheidungen als Urteile bezeichnet. Vom Inhalt her ist aber eine Parallele zu den „Auffassungen“ gegeben, denn die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben ebenfalls keine kassatorische Wirkung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann zwar eine Verletzung der EMRK feststellen und den Vertragsstaat zu einer Entschädigung verurteilen, er kann jedoch nicht den die Menschenrechte verletzenden Rechtsakt aufheben. Beide internationalen Verfahren sehen vor, dass im Anschluss an eine Feststellung, dass Menschenrechte verletzt wurden, ein Berichts- und Überwachungsverfahren stattfindet.

Auch das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sehen in Gestalt der Verfassungsbeschwerde auf nationaler Ebene ein Verfahren vor, mit dem sich Bürger und Bürgerinnen an das Bundesverfassungsgericht wenden können. Im Gegensatz zu den beiden dargestellten internationalen Verfahren haben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kassatorische Wirkung, d. h. das Bundesverfassungsgericht kann die Entscheidung eines Gerichts aufheben und ein Gesetz für verfassungswidrig und damit für nichtig erklären.

Die verschiedenen Verfahren auf nationaler und internationaler Ebene sind aufeinander abgestimmt. Wenn sich ein Beschwerdeführer für eines der beiden international geregelten Verfahren entschieden hat, kann er das verbleibende Verfahren nicht mehr in Anspruch nehmen. Diese Individualbeschwerde ist dann unzulässig. Da beide Verfahren auf internationaler Ebene die Erschöpfung des nationalen Rechtsweges vorsehen, hat insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass vor Einreichung einer Individualbeschwerde auf europäischer Ebene die Verfassungsbeschwerde eingelegt und entschieden worden sein muss. Der Ausschuss nach dem Pakt hat hierzu noch keine Feststellungen getroffen.

Der Wandel von Menschenrechten

Auch wenn die Entwicklung der Menschenrechte nun bereits auf eine fast 800-jährige Entstehungsgeschichte zurückblickt, ist sie nicht abgeschlossen, sondern weiterhin in Bewegung. Diese These soll an dem folgenden Beispiel belegt werden: Art. 2 Abs. 1 GG regelt u. a. die allgemeine Handlungsfreiheit. Er lautet: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“.

1983 hatte das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden, ob die damals durch Gesetz vorgesehene Volkszählung, durch die zahlreiche persönliche Daten erhoben und anschließend verwaltet werden sollten, mit dem Grundgesetz und insbesondere mit den Grundrechten vereinbar ist. Obwohl der Artikel 1949 und damit zu einer Zeit in Kraft getreten ist, als eine Datenverarbeitung, wie sie bei der Volkszählung 1983 vorgesehen war, technisch nicht möglich, wohl nicht einmal denkbar war, hat das Bundesverfassungsgericht 1983 Folgendes hergeleitet: Die „freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfasst. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“32 Mit diesen Worten wurde das heute selbstverständliche Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung“ kreiert. Es war sozusagen die Geburtsstunde der Mutter des heutigen Datenschutzes, und in Folge dieser Entscheidung wurden auf Bundes- und Landesebene zahlreiche Datenschutzgesetze erlassen. Das Grundgesetz wurde nicht geändert, sondern der Datenschutz wurde allein auf der Basis dieser Rechtsprechung fortentwickelt.

Ähnlich wie im Mittelalter hat gerade erst im Jahr 2008 die Ausweitung staatlicher Möglichkeiten und Befugnisse, wenn auch nicht durch monarchisches, sondern durch legislatives Handeln und damit durch Entscheidung der demokratisch legitimierten Gesetzgeber, die Geburtsstunde eines weiteren Grundrechtes eingeleitet. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte in seinem Gesetz über den Verfassungsschutz insbesondere die Möglichkeit des heimlichen Zugriffs auf informationstechnische Systeme, die so genannte „Online-Durchsuchung“ vorgesehen. Im Hinblick darauf, dass die Nutzung der Informationstechnik für die Persönlichkeit und die Entfaltung des Einzelnen eine früher nicht absehbare Bedeutung erlangt hat und die moderne Informationstechnik dem Einzelnen neue Möglichkeiten eröffnet, stellt das Bundesverfassungsgericht eine neuartige Gefährdung der Persönlichkeit fest. Es folgert insbesondere aus der Bedeutung der Nutzung informationstechnischer Systeme für die Persönlichkeitsentfaltung und aus den Persönlichkeitsgefährdungen, die mit dieser Nutzung verbunden sind, dass ein grundrechtlich erhebliches Schutzbedürfnis besteht. Da die im Grundgesetz geregelten Grundrechte nach ihrem Wortlaut diesen notwendigen Schutz nicht gewährleisten können – hierzu zählt auch das eben bereits dargestellte Recht auf informationelle Selbstbestimmung –, sah sich das Bundesverfassungsgericht veranlasst, Folgendes festzustellen: „Soweit kein hinreichender Schutz vor Persönlichkeitsgefährdungen besteht, die sich daraus ergeben, dass der Einzelne zu seiner Persönlichkeitsentfaltung auf die Nutzung informationstechnischer Systeme angewiesen ist, trägt das allgemeine Persönlichkeitsrecht dem Schutzbedarf in seiner lückenfüllenden Funktion über seine bisher anerkannten Ausprägungen hinaus dadurch Rechnung, dass es die Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gewährleistet. Dieses Recht fußt gleich dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG; es bewahrt den persönlichen und privaten Lebensbereich der Grundrechtsträger vor staatlichem Zugriff im Bereich der Informationstechnik auch insoweit, als auf informationstechnische Systeme zugegriffen wird und nicht nur auf einzelne Kommunikationsvorgänge und gespeicherte Daten.“33

Zum Abschluss ist hervorzuheben, dass heute die Beachtung von Menschenrechten selbstverständlich ein unverzichtbares Element des Rechtsstaates ist. Hierzu gehören auch ein Verfahren zur Überprüfung möglicher Grundrechtsverstöße und die Weiterentwicklung der Menschenrechte im Hinblick auf die Veränderungen der Gesellschaft und auf den technischen Fortschritt. Es ist partiell international und vor allem in Deutschland nicht nur die Gewährleistung, sondern auch die gerichtliche Überprüfung der Einhaltung von Grundrechten und damit die Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten eine Selbstverständlichkeit geworden. Soweit Staaten sich diesem Standard nicht anschließen und Grund- oder Menschenrechte verletzen, bemühen sich die den Menschenrechten verpflichteten Staaten, zumindest auf diplomatischem Wege oder durch Handelserschwernisse auch diese Staaten für die Beachtung von Menschenrechten zu gewinnen. Hinzu kommt die Wirkung der Veröffentlichung von Menschenrechtsverletzungen durch die Presse oder durch Menschenrechtsorganisationen, deren Aktivitäten wiederum nur dank der Gewährleistung von Grundrechten in Gestalt der Presse-, Vereinigungs- und Demonstrationsfreiheit möglich sind.


Elke Luise Barnstedt, Karlsruhe


Anmerkungen

1 Vortrag auf der Tagung „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, die vom 14. bis 16. November 2008 in der Evangelischen Akademie Baden, Bad Herrenalb, stattfand. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.

2 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass in Fällen dieser sog. Bürgerrechte Menschen mit einer anderen Staatangehörigkeit nicht rechtlos gestellt sind, sondern z. B. deren Recht, eine Versammlung abzuhalten, von dem sog. Auffanggrundrecht in Gestalt des Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird. Im Ergebnis wirkt sich dies dadurch aus, dass für die beiden Grundrechte die Möglichkeit einer Einschränkung, die u. a. durch den jeweiligen Gesetzesvorbehalt geregelt ist, unterschiedlich ist.

3 Vgl. Reinhold Zippelius, Allgemeine Staatslehre, München 152007, 251.

4 Ebd.

5 Ebd.

6 Magna Carta Libertatum vom 15. Juni 1215, in: Die Verfassungen in Europa 1789-1946, hg. von D. Gosewinkel / J. Masing, München 2006, 89ff (93).

7 Ebd., 90.

8 R. Zippelius, a.a.O., 252.

9 Agreement of the People vom 28. Oktober 1647, in: Die Verfassungen in Europa, a.a.O., 100ff (101).

10 R. Zippelius, a.a.O., 252.

11 Habaes Corpus Akte vom 27. Mai 1679, in: Die Verfassungen in Europa, a.a.O., 112.

12 R. Zippelius, a.a.O. 252f.

13 Berliner Zeitung vom 15. Oktober 2008.

14 Bill of Rights vom 23. Oktober 1689, in: Die Verfassungen in Europa, a.a.O., 119ff (120).

15 Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776, in: Die Verfassungen in Europa, a.a.O., 134.

16 Art. 12 lautet: „Die Freiheit der Presse ist eine der großen Bollwerke jeder Freiheit und kann niemals, außer durch despotische Regierungen, eingeschränkt werden.“

17 Verfassung vom 3. September 1791 (mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789), in: Die Verfassungen in Europa, a.a.O., 165ff.

18 Vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht II, Köln/München 62003, 11.

19 United Nations Conference on International Organization Documents, Bd. XV (1945), 335.

20 Vgl. Bernhard Schäfer, Die Individualbeschwerde nach dem Fakultativprotokoll zum Zivilpakt. Ein Handbuch für die Praxis, Berlin 2004, 12.

21 UN Doc.A/RES/56/6 vom 21. November 2001.

22 Helmut Volger, Die Diskussion über die ethischen Grundlagen der Vereinten Nationen, in: ders. (Hg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, München 2006, 4.

23 Dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte am 3. Januar 1976, BGBl. II, 428, und dem Pakt über bürgerliche und politische Reche mit Ausnahme seines Art. 41 am 23. März 1979, BGBl. II, 1068.

24 BVerfGE 7, 198.

25 Die EMRK wurde am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet. Deutschland hat sie am 5. Dezember 1952 ratifiziert. Sie konnte aber erst 1953 in Kraft treten, weil sie erst zu diesem Zeitpunkt von zehn Staaten ratifiziert worden war. (Diese Bedingung war bei der Unterzeichnung vereinbart worden.)

26 Rudolf Streinz / Christoph Ohler / Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, München 22008, 96.

27 Vgl. Ulf Hommel, Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, Regensburg 2002.

28 Fakultativprotokoll zum internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights) vom 16. Dezember 1966, UNTS Bd. 999, 171, 302; BGBl. II, 1247, abgedruckt in Sartorius II Nr. 20a; bpb, Menschenrechte Nr. 5.1.

29 B. Schäfer, a.a.O., 48f.

30 Ebd., 21.

31 Ebd., 19.

32 BVerfGE 65, 1, (43)

33 BVerfG 1 BvR 370/07 und 595/07, Urteil vom 27. Februar 2008, www.bundesverfassungsgericht.de, Rdnr. 201.