Heinrich Bedford-Strohm

Was kommt nach dem Tod?

Der Umgang mit dem Tod heute

Der Tod ist ein Thema, dessen Erfahrungsbezug garantiert ist. Jeder und jede stirbt einmal. Und es gibt niemanden, der in seiner Lebenszeit nicht mit dem Thema Tod konfrontiert ist. Gleichzeitig gibt es kaum ein Thema, das so viel Hilflosigkeit erzeugt wie das Thema Tod. Eltern geraten ins Stammeln, wenn Kinder fragen, warum der Opa im Himmel ist, wo sie ihn doch gerade in die Erde gelegt haben. Nachbarn wechseln die Straßenseite, weil sie nicht wissen, wie sie den Hinterbliebenen begegnen sollen. Seelsorger verweisen auf den Geheimnischarakter Gottes, wenn sie von Sterbenden gefragt werden, was nach dem Tod kommt. Der Tod hatte für die Menschen schon immer etwas Bedrohliches an sich. In den Religionen hat man daher in ganz unterschiedlicher Weise immer wieder Antworten auf die damit verbundenen Fragen zu geben versucht. Religiöse Inhalte haben den Menschen Sprache für das zu geben vermocht, was die Soziologie „Kontingenzbewältigung“ nennt. Sie haben den Sinn des Lebens gerade angesichts seiner Begrenztheit zum Ausdruck zu bringen versucht. Wo diese Sprache verlernt wird, zerrinnt zunehmend die Fähigkeit, den Tod überhaupt zu thematisieren. So ist es kein Wunder, dass der Tod in den modernen, säkularer werdenden Gesellschaften zunehmend verdrängt, ja zuweilen aus dem Alltag geradezu verbannt wird. Der Umgang mit dem Tod wird an die „Spezialisten“ delegiert. Das Bestattungsunternehmen sorgt dafür, dass der Leichnam so schnell wie möglich aus dem Sterbehaus abtransportiert wird. Wenn der Pfarrer oder die Pfarrerin dann eintrifft, ist die Aussegnung schon nicht mehr möglich.Gleichzeitig werden wir mit Todeserfahrungen aus zweiter Hand medial überschüttet. In Schweden ergab eine Untersuchung bei Kindern im Alter von 6 bis 10 Jahren, dass 40 Prozent von ihnen, geprägt durch Medienkonsum, glauben, Menschen würden nur aufgrund von Mord und Totschlag sterben.2 Die Primärerfahrung fehlt. Erwachsene versuchen, ihre Kinder vor dem Tod abzuschirmen, weil sie selbst nicht damit umgehen können. Bei einer Kinderuni-Vorlesung an der Universität Bamberg im Jahr 2004 zum Thema „Ist Sterben wirklich so schlimm?“ meldeten sich von den ca. 150 anwesenden Kindern nur zwei auf die Frage, wer schon einmal eine echte Leiche gesehen habe. Der eine hatte im Museum eine Moorleiche besichtigt, die andere war ein Aussiedlerkind und hatte, noch in Kasachstan, ihren toten Opa gesehen.Die tiefer liegende Ursache für diese Verdrängung des Todes und die Hilflosigkeit, die sich darin ausdrückt, liegt vermutlich in einer Verschiebung der kulturellen Grundtextur unserer Gesellschaft. Während viele Jahrhunderte lang ein Leitbild des „Menschen als Empfänger“ vorherrschte, steht heute der „Mensch als Gestalter“ im Zentrum. In der Bibel finden sich beide Dimensionen.

Während in früheren Zeiten der Mensch als Empfänger verabsolutiert wurde und ungerechte gesellschaftliche Zustände von kirchlicher Seite als Wille Gottes ausgegeben wurden, der anzunehmen sei, ist das Pendel heute in Richtung einer Verabsolutierung des Menschen als Gestalter ausgeschlagen. Grenzen, wie sie etwa in der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel kritisch thematisiert werden, gelten als inakzeptabel. Trotz aller, zuweilen fast verzweifelter Versuche in der medizinischen Forschung und Praxis, das Leben zu verlängern, bleibt die Grenze des Todes. Das Leitbild des Menschen als Gestalter versagt angesichts der Unkontrollierbarkeit des Todes. Es gilt, wieder neu zu lernen, „Mensch als Empfänger“ zu sein und Leiden und Tod auszuhalten und anzunehmen. Vieles spricht dafür, dass die religiöse Sprachhilfe, die das Christentum in seiner langen Geschichte dazu entwickelt hat, dafür von bleibender, vielleicht sogar von wieder zunehmender Bedeutung ist.Im Folgenden sollen dazu einige Orientierungen gegeben werden. Nach einer Reflexion über den Stellenwert naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu dieser Frage und einer Klärung des Stellenwerts biblischer Orientierungen für einen aufgeklärten Umgang mit dem Phänomen soll genauer untersucht werden, was die biblische und theologische Tradition dazu zu sagen hat.

Gibt es ein Leben nach dem Tod? – Wissenschaftliche Erkenntnisse

Immer wieder sind Forschungen zu Nahtoderlebnissen als Belege für ein Leben nach dem Tod gelesen worden. Patienten, die klinisch tot waren und später an solchen Studien teilnahmen, berichten, sie hätten das Gefühl gehabt, ihren Körper zu verlassen; sie seien völlig schmerzfrei gewesen und hätten sich einem sehr hellen Licht genähert. Auch das Bild des Tunnels, an dessen Ende Licht sei, wird immer wieder genannt. Dass es Nahtoderlebnisse gibt, die von vielen Menschen mit verblüffender Übereinstimmung berichtet worden sind, kann angesichts einschlägiger empirischer Studien als gesichert gelten.3 Wie sie zu interpretieren sind, ist strittig. Die einen wollen darin den Beweis dafür sehen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Die anderen verweisen auf mögliche chemische Prozesse beim Sterbeprozess im Gehirn, die – ähnlich den physiologischen Prozessen beim Gebrauch von Drogen – entsprechende Halluzinationen erzeugen. Aus theologischer Sicht ist dazu zu sagen: Für die Nahtoderlebnisse gilt, was für das Verhältnis Theologie-Naturwissenschaften generell festzustellen ist: Solche Forschungsergebnisse können Hinweise darauf sein, dass die Naturwissenschaften die Möglichkeit für theologische Wirklichkeitsdeutung offen halten. Sie können aber nie Beweise für theologische Wirklichkeitsdeutung sein. Die theologische Rede vom ewigen Leben gründet auf der Beziehung zu Gott, der als Schöpfer der Welt auch Herr über Leben und Tod ist. Der naturwissenschaftliche Beweis ist als Basis für ein Beziehungsgeschehen untauglich, dessen Grundlage und Ziel das Vertrauen ist. Die biblischen Texte sind eine Schule des Vertrauens und daher viel besser geeignet, dem Phänomen Tod konstruktiv zu begegnen, als die am Ende hilflosen Versuche, ein Leben nach dem Tod wissenschaftlich zu begründen. Aus drei Gründen widerspricht ein solcher biblisch gegründeter Umgang mit dem Tod keineswegs der Vernunft und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis:

Erstens weiß die Vernunft gerade dann, wenn sie aufgeklärte Vernunft ist, um ihre Grenzen. Die Vernunft lässt jedenfalls die Möglichkeit definitiv offen, dass es einen Gott gibt und dass dieser Gott größer ist als die Zeit und seine Zeit weiter reicht als die menschliche Zeiterfahrung, die in dem irdischen Leben des Menschen ihren Ausdruck findet. Wenn Gott wirklich Gott ist, also als Schöpfer des Menschen mehr ist als das, was der Mensch erfassen kann, dann kann die menschliche Vernunft ihn sich nicht verfügbar machen. So wenig der Mensch beweisen kann, dass es Gott gibt, so wenig wäre der Mensch in der Lage, Gott mit den Kategorien der Vernunft zu erfassen, wenn es ihn gäbe. Das aber heißt: Der Raum für das Vertrauen dafür, dass es einen Gott gibt, ist philosophisch offen. 

Zweitens muss die Totalisierung einer naturwissenschaftlichen Perspektive, wie sie etwa in den aktuellen Thesen des Neo-Atheismus um Richard Dawkins4 zu identifizieren ist, als ihrerseits religiös (genauer: pseudoreligiös) verstanden werden. John Polkinghorne hat überzeugend aufgezeigt, dass die Aussagen der Neo-Atheisten, was das Verständnis von Religion und Theologie betrifft, in vielen Hinsichten auf Ignoranz beruhen und dass sie sich über die Voraussetzungshaftigkeit ihres eigenen naturwissenschaftlichen Denkens hinwegtäuschen.5 Naturwissenschaft wird dann zur Religion, wenn alle Dimensionen der Wirklichkeit, die darüber hinausgehen, dogmatisch ausgeschlossen werden. Welche Verarmung der Wirklichkeitswahrnehmung damit verbunden ist, mag ein Beispiel veranschaulichen, mit dem der amerikanische Theologe H. Richard Niebuhr Bedeutung und Stellenwert eines auf Offenbarung basierenden Redens beschreibt: Über einen Blinden, der wieder sehen kann, können zwei Geschichten geschrieben werden. Eine naturwissenschaftliche Beschreibung würde sich mit der Frage befassen, was mit seinem optischen Nerv passierte oder welche chemischen Prozesse sich in seiner Netzhaut abspielten, als er blind war. Sie würde dann erläutern, welche Technik der Augenchirurg anwandte, um in diese Prozesse einzugreifen, welche Medikamente er vielleicht benutzte und wie sie funktionieren. Sie würde anschließend schildern, durch welche medizinischen Genesungsphasen der Patient hindurchging und wie sein Auge nun wieder funktioniert. Eine autobiografische Geschichte würde diese Dinge vielleicht kaum erwähnen, sondern beschreiben, was in einem Menschen vorgeht, der sein Leben in Dunkelheit verbracht hat und der nun Bäume, Vögel, den Himmel, den Sonnenuntergang sehen kann, die Gesichter von Kindern und die Augen eines Freundes. Sie wäre eine Geschichte von Trauer, vielleicht von Verzweiflung, in die nun in einem ganz wörtlichen Sinne Licht kam; sie handelte von Glück und Freude, von tiefer Dankbarkeit, vielleicht auch von einem Gefühl von Geborgenheit.6 Beide Perspektiven enthalten wesentliche Dimensionen der Wirklichkeit. Christlicher Fundamentalismus spielt diese Perspektiven ebenso gegeneinander aus wie naturwissenschaftlicher Fundamentalismus. 

Drittens spielt sich gelingendes Leben in Gemeinschaft ab. Das gilt auch für die Gemeinschaft durch die Zeiten hindurch. Nichts anderes als eine solche Gemeinschaft meinen wir, wenn wir von „Traditionen“ sprechen. So wie es Sinn hat, auf Gemeinschaft in der Gegenwart zu bauen, so hat es Sinn, sich auf Gemeinschaft durch die Zeiten hindurch einzulassen. Christlicher Glaube ist das bewusste Sich-Einlassen auf eine Tradition, die sich viele Jahrhunderte lang bewährt hat. Gerade im Hinblick auf das Thema Tod hat sie eine besondere Kraft entwickelt. Sich auf sie einzulassen, gebietet die Vernunft nicht. Die Behauptung, die Vernunft gebiete, sie zu verwerfen, ist aber Unsinn.

Es ist deutlich geworden, dass es gute Gründe gibt, die Sprachlosigkeit angesichts des Todes dadurch zu überwinden, dass wir die Bilder wieder neu zur Sprache bringen, die die jüdisch-christliche Tradition für die Interpretation des Todes und des Lebens nach dem Tod gefunden hat. Eine Kritik der eschatologischen Vernunft à la Kant – so hat Michael Beintker zu Recht festgestellt – „wird der Gefahr des enthemmten Überschwangs eschatologischer Bilder nicht dadurch ausweichen, dass sie solche Bilder in der Nacht der Bildlosigkeit verschwinden lässt und sich auf das pure Faktum des Kommens Christi zurückzieht“.7 Das klare Bewusstsein dafür, dass es sich dabei nur um Bilder für etwas handelt, was dem menschlichen Erkennen empirisch-wissenschaftlich nicht zugänglich ist, nimmt nichts von der Bedeutung des damit zum Ausdruck gebrachten Inhalts. Gelingendes Leben nährt sich aus der Inspiration der neu zur Sprache gebrachten biblischen Bilder.

Was kommt nach dem Tod? – Biblische Bilder

Schon im Alten Testament finden sich Vorstellungen von der Überwindung des Todes. Dabei spielt das Vertrauen auf die Treue Gottes gegenüber seinem Volk eine besondere Rolle. „Den Tod verschlingt er auf ewig“, heißt es in der Jesaja-Apokalypse, „und der Herr wird die Tränen abwischen von jedem Gesicht, und die Schmach seines Volkes wird er von der ganzen Erde hinwegtun“ (Jes 25,8). Sogar von Auferstehung ist die Rede: „Deine Toten werden lebendig, meine Leichen [wieder] auferstehen. Wacht auf und jubelt, Bewohner des Staubes!“ (26,19) Erst im Neuen Testament wird die Überwindung des Todes zur zentralen Vorstellung. Aber der Auferstehungsglaube – diese These hat Thomas Naumann plausibel gemacht – „tritt nicht von außen an die Religion Israels heran, sondern wächst aus ihr heraus, indem er grundlegende Einsichten des überlieferten israelitischen Glaubens unter veränderten Bedingungen neu bedenkt“.8 Für Paulus steht und fällt der Christusglaube mit dem Auferstehungsglauben: „Wenn aber gepredigt wird, dass Christus aus den Toten auferweckt sei, wie sagen einige unter euch, dass es keine Auferstehung der Toten gebe? Wenn es aber keine Auferstehung der Toten gibt, so ist auch Christus nicht auferweckt; wenn aber Christus nicht auferweckt ist, so ist also auch unsere Predigt inhaltslos, inhaltslos aber auch euer Glaube“ (1. Kor 15,12-14). Paulus und die Evangelien bekräftigen: Der Tod hat durch Christus seine Macht verloren: „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist; und jeder, der da lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh 11,25f). Die Liebe ist eine Kraft der Beziehung, die stärker ist als der Tod: „Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38f). Damit ist die grundlegende Basis für den Auferstehungsglauben beschrieben: Es geht bei der Auferweckung der Toten um ein Beziehungsgeschehen. Alles, was die biblischen Texte über das Leben nach dem Tod sagen, ist in diesem Horizont zu sehen. Im Horizont der Liebe Gottes leben heißt, die Grenze des Todes zu überwinden. Aber was kommt nach dem Tod? Anhand von sieben Dimensionen soll dieser Frage nachgegangen werden.

1. Aus dem Tod wächst neues Leben – Identität und Verwandlung: Für die paulinische Vorstellung vom Leben nach dem Tod ist die spezifische Verbindung von Identität und Verwandlung charakteristisch. Paulus spricht von der Auferstehung des Leibes (soma). Es ist nicht irgendeine Geistgestalt oder nur eine „Seele“, die im ewigen Leben bleibt, sondern der ganze Mensch wird auferstehen. Damit ist indessen keineswegs eine Art wundersamer Wiederbelebung gemeint. Die Identität bleibt, aber sie wird verwandelt. Paulus nimmt zur Veranschaulichung das Bild des Samenkorns, das nur dadurch, dass es stirbt, neues Leben schafft: „Es wird aber jemand sagen: Wie werden die Toten auferweckt? Und mit was für einem Leib kommen sie? Tor! Was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und was du säst, du säst nicht den Leib, der werden soll, sondern ein nacktes Korn, es sei von Weizen oder von einem der anderen [Samenkörner]. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er gewollt hat, und jedem der Samen seinen eigenen Leib ... So ist auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät in Verweslichkeit, es wird auferweckt in Unverweslichkeit ...; es wird gesät in Schwachheit, es wird auferweckt in Kraft; es wird gesät ein natürlicher Leib, es wird auferweckt ein geistlicher Leib“ (1. Kor 15,35-44). Auch wenn der Körper des Menschen im Grab verwest oder im Krematorium verbrannt wird, der Leib, also die Geschichte, zu der auch die körperliche Existenz gehört, bleibt und wird verwandelt.

2. Der ganze Kosmos wird neu – die Neuschöpfung: Nicht nur der Mensch wird verwandelt. Auch die Erde und der ganze Kosmos werden in Christus neu. „Das Alte ist vergangen, und siehe, Neues ist geworden“ (2. Kor. 5,17). Der neue Himmel und die neue Erde werden vom Geist Gottes durchwirkt sein. Das Seufzen der Kreatur wird ein Ende haben. Jürgen Moltmann hat dieses „kosmische Richten“ und Neuwerden so beschrieben: „Alle zerrütteten Verhältnisse in der Schöpfung müssen zu Recht gebracht werden, damit die neue Schöpfung auf dem festen Boden der Gerechtigkeit stehen und in Ewigkeit bleiben kann. Das sind die Verhältnisse zwischen den Menschen sowie zwischen den Menschen und der Welt des Lebendigen in der irdischen Schöpfungsgemeinschaft und nicht zuletzt jene Zerrüttungen, die alle Kreaturen auch ohne die Menschen nach Erlösung seufzen und sich sehnen lassen.“9 Der ganze Kosmos ist also an der Verwandlung in die neue Welt Gottes beteiligt. Die Abwertung des Irdisch-Materiellen zugunsten eines Eschatologisch-Spirituellen liegt nicht in der Ziellinie des biblischen Denkens. Die Erde – so Luzia Sutter Rehmann – „muss nicht überwunden werden. Der Unterschied zwischen der jetzigen und der kommenden Welt ist nicht dualistisch metaphysisch gedacht, sondern liegt in der realisierten Gerechtigkeit“.10

3. Die Tränen werden abgewischt – Überwindung des Leidens: Die Überwindung des Leidens gehört zu den wesentlichen Dimensionen, die die Beschreibung des Reiches Gottes und damit auch das ewige Leben kennzeichnen. Jesu Heilungsgeschichten zeigen, wie eng dieses Thema die irdische Existenz und das Eschaton verbindet. Dass Jesus die Kranken heilt und die Ausgestoßenen wieder in die Gemeinschaft hineinholt, sind Zeichen des eines Tages in aller Fülle sichtbar werdenden Reiches Gottes. Die Leidtragenden preist er selig, „denn sie werden getröstet werden“ (Mt 5,4). Die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch der Bibel und so etwas wie ein „Schaufenster in die Ewigkeit“, hat die endzeitliche Überwindung des Leides besonders eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: „Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein ...“ (Offb 21,3f).

4. Unrecht und Leid werden nicht vergessen – Jüngstes Gericht: Es wird ein Gericht geben. Alles andere wäre nicht mit der Vorstellung von Gottes Liebe gerade zu den Schwachen und Entrechteten vereinbar. Den Opfern der Geschichte widerfährt Gerechtigkeit. Was ihnen angetan worden ist, ist Christus selbst angetan worden und kann nicht ohne Folgen bleiben (Mt 25,31-46). Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19-31) verbindet die Gerichtsdrohung mit dem Hinweis auf die rettende Funktion des Gesetzes. Die Täter der Barmherzigkeit sind nach dem Tod mit dem armen Lazarus in Abrahams Schoß. Der reiche Mann bereut bitter, dass er dem armen Lazarus nicht geholfen hat, als er vor seiner Tür lag. Seine noch lebenden Brüder will er warnen. Aber er muss einsehen, dass alles, was zu diesem Thema zu sagen ist, schon im Gesetz zu lesen ist: „Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“ Bei den biblischen Gerichtstexten geht es nicht um die Gewaltphantasien eines Herrschers, der um seine Autorität besorgt ist. Es geht ausschließlich um Gerechtigkeit, noch präziser: um rettende Gerechtigkeit. „Das Gottesgericht“ – so Jürgen Moltmann – „war die Gegengeschichte und das Gegenbild der Unterdrückten zur Welt der triumphierenden Gewalttäter“.11 Am besten lassen sich die Gerichtstexte der Bibel als Warnschilder verstehen. An dem Warnschild „Vorsicht Schleudergefahr“ sei das verdeutlicht. Man sieht darauf ein Auto, das ins Schleudern geraten ist und wahrscheinlich gleich am nächsten Baum landet. Dieses Schild steht natürlich nicht am Straßenrand, damit die Autos ins Schleudern geraten, sondern damit sie sicher durch die kurvenreiche Strecke kommen und die Autofahrer am Leben bleiben. Die biblischen Texte wollen mit den Bildern vom ewigen Feuer und der Hölle gerade verhindern, dass die Menschen so leben, dass das Leben zur Hölle wird. Es gibt indessen auch Hoffnung für die Täter des Unrechts, Gott hat nach paulinischer Vorstellung in Christus die Welt mit sich selbst versöhnt (2. Kor 5). „Von Gott angeblickt“, so Eberhard Jüngel, „wird auch der hässlichste Sünder schon jetzt schön.“12 Jürgen Moltmanns Neuinterpretation des Fegefeuers kann helfen, besser zu verstehen, was mit dem Sünder am Ende passiert. Die Geschichte Gottes mit dem Menschen geht auch nach dem Tod weiter. Es bleibt Raum für die Läuterung auch des schlimmsten Sünders. Das Licht der ewigen Liebe zieht die Menschen „zu Gott. Das Feuer der ewigen Liebe verbrennt alles, was Gott widerspricht und die Seele von Gott trennt“.13 Was dabei geschieht, kann sich klar machen, wer sich vorstellt, was passiert, wenn die Decke von unseren Augen genommen ist, wenn alle Beschönigungen und Selbstrechtfertigungen an ihr Ende gekommen sind, wenn wir unser Leben mit Gottes Augen sehen. Auch das Unrecht, das wir anderen Menschen angetan haben, ohne es überhaupt wahrzunehmen, wird uns vor Augen treten. Und es wird uns eine unendliche Scham erfassen, die wirklich „die Hölle“ sein kann. Die Befreiung der Opfer von den sie bedrängenden Erinnerungen – so hat Gregor Etzelmüller zu Recht festgestellt – „folgt erst ihrer Rechtfertigung in aller Öffentlichkeit und damit der Beschämung der Täter“. 14 Ebenso gilt indessen: Da, wo die Wahrheit ans Licht kommt, ist Läuterung und Versöhnung möglich. Keiner ist verloren. Jeder darf hoffen.

5. Tausend Jahre sind wie ein Tag – Eschatologie und Zeitlichkeit: Wann wird das alles passieren? Im Neuen Testament scheint es darüber unterschiedliche Auskünfte zu geben. Im ersten Thessalonicherbrief geht Paulus von der Vorstellung aus, dass die Toten so lange schlafen, bis der Jüngste Tag anbricht und die Weltzeit zu Ende ist. Der Herr selbst, so Paulus, „wird, wenn der Befehl ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und zuerst werden die Toten, die in Christus gestorben sind, auferstehen (1. Thess 4,16).Im Lukasevangelium dagegen scheint keine Zwischenzeit angenommen zu werden. Dem Verbrecher, der mit Jesus am Kreuz hängt und um Fürbitte nachsucht, antwortet Jesus: Noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein“ (Lk 23.43). Was auf den ersten Blick unvereinbar scheint, hat Martin Luther mit einem Bild zu erklären versucht: Wer in der Nacht plötzlich aufwacht, weiß nicht, ob er Sekunden oder Stunden geschlafen hat. Für einen Moment verschwimmt die Kategorie der Zeit. So – sagt Luther – ist es auch mit dem Leben nach dem Tod. Wenn die Toten am Jüngsten Tag von Christus auferweckt werden, dann wissen sie nicht, wie lange sie geschlafen haben: „Sobald die Augen sich schließen, wirst du auferweckt werden. Tausend Jahre werden sein gleich als du ein halbes Stündlein geschlafen hast. Gleich wie wir nachts den Stundenschlag hören und nicht wissen, wie lange wir geschlafen haben, so sind noch vielmehr im Tod tausend Jahre schnell weg. Ehe sich einer umsieht, ist er schon ein schöner Engel.“15

6. „Ihr Mund wird voll Lachens sein“ – das endzeitliche Freudenmahl: In der Beschreibung des Lebens nach dem Tod finden sich im Neuen Testament immer wieder Bilder von Feiern, Freude und Lobpreis. Die in der Kunstgeschichte so verbreitete Darstellung der himmlischen Engelchöre ist eine besonders sichtbare Konsequenz dieser biblischen Bilder. Die auf die Befreiung des Volkes Israel bezogene Vision des 126. Psalms, dass wir sein werden „wie die Träumenden“ und „unser Mund voll Lachens sein“ wird, ist eine frühe Beschreibung eschatologischer Bilder, wie sie im Neuen Testament kraftvoll entfaltet werden. Zum endzeitlichen Freudenmahl (Lk 14,16-24) sind gerade die eingeladen, die in der Gesellschaft nichts gelten. „Wir haben es bei diesem Bild“ – so Michael Beintker – „mit dem tiefsten Ausdruck für gelingende Kommunikation zu tun, die dem antiken Denken vorstellbar war“.16 Das Abendmahl, das überall in den Kirchen regelmäßig gefeiert wird, kann als Vorgeschmack dieses endzeitlichen Freudenmahls verstanden werden. Und auch die festliche Musik, die in den Kirchen erklingt, lässt ahnen, was uns im ewigen Leben erwartet. Das Lob im Reich Gottes, so hat Eberhard Jüngel – an Karl Barth anknüpfend – formuliert, wird so heiter sein wie bei Mozart: „... das Loben Gottes wird dann gleichzeitig ganz konzentriert und ganz locker, ganz ernst und ganz heiter, ganz andächtig und ganz spielend sein – so als hätte Wolfgang Amadeus Mozart die Töne vorgegeben.“17

7. Wir dürfen hoffen, uns wiederzusehen – Ewigkeit und Identität: Werden wir unsere Lieben wiedersehen? Diese Frage bewegt viele Menschen, die einen Angehörigen verloren haben. Niemand kann darauf eine definitive Antwort geben. Karl Barth sagte mit einer heilsamen Portion Humor: „Ja, aber die anderen auch!“ Es sprechen tatsächlich gute Gründe dafür, mit dem christlichen Glauben auch die Hoffnung auf ein solches „Wiedersehen“ zu verbinden. Wenn Gott der Schöpfer unseres Lebens ist und uns in unserer irdischen wie ewigen Existenz „bei unserem Namen ruft“ (Jes 41), dann verschwindet auch unsere Identität im Eschaton nicht. „Die konkret gelebte biografische Existenz des Menschen wird vom Osterlicht des auferstandenen Christus nicht weggeblendet, sondern heilsam eingeholt.“18 Wir werden – so haben wir anhand des ersten Korintherbriefes gesehen, „verwandelt“ sein (1. Kor 15,51). Unsere Identität geht nicht verloren, sondern wird ins Licht der Liebe Gottes gestellt. Wenn aber die Identitäten nicht verloren gehen, dann muss es so sein, dass wir die Verstorbenen, die wir lieb gehabt haben, wiedersehen. Identitäten können sich begegnen, wie auch immer diese Begegnungen im Eschaton aussehen mögen.

Lebenskunst im Angesicht der letzten Dinge

Die sieben Dimensionen sollten zeigen, mit welchen Vorstellungen und Bildern das Neue Testament die letzten Dinge beschreibt.Es sind nur Bilder, die dort vor Augen gemalt werden, aber im Bewusstsein der Begrenztheit der Aussagemöglichkeiten dürfen und sollen Christenmenschen sich auf diese Bilder einlassen. Denn die Aussicht auf das Reich Gottes wirkt schon heute: „Wer dahin unterwegs ist, der fängt ... schon auf Erden an, wenigstens versuchsweise wie ein Bürger des Reiches Gottes zu leben.“19So ist das bewusste Leben mit der Möglichkeit des Todes keine Minderung des Lebensgenusses; der Tod ist kein Damoklesschwert, sondern, ganz im Gegenteil, es öffnet sich im bewussten Umgang damit ein Fenster zur wahren Lebenskunst. Angesichts der Endlichkeit des Lebens jeden Tag bewusst als Geschenk sehen zu können; die Zeit mit den Menschen, die einem lieb sind, als etwas Kostbares zu erleben; nicht erst bei der Beerdigung zum Ausdruck zu bringen, wie wertvoll diese Menschen waren, sondern es ihnen schon jetzt zu sagen – das sind Beispiele für eine solche wahre Lebenskunst. Das ist es wahrscheinlich auch, was der Psalmbeter gemeint hat, wenn er, damals wie heute aktuell, formulierte: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ (Ps 90,12).


Heinrich Bedford-Strohm, Bamberg


Anmerkungen

1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den der Autor am 2.3.2010 aus Anlass der Ausstellung „Noch einmal leben vor dem Tod“ in der Villa Dessauer in Bamberg gehalten hat.

2 Christoph Scheilke / Friedrich Schweitzer (Hg.), Musst du auch sterben? Kinder begegnen dem Tod, Gütersloh / Lahr 2000, 56.

3 Vgl. dazu Hubert Knoblauch, Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung, Freiburg i. Br. u. a. 2002; Günter Ewald, Nahtoderfahrungen. Hinweise auf ein Leben nach dem Tod?, Kevelaer 32008.

4 Dazu v. a. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, Berlin 2007.

5 John Polkinghorne, Naturwissenschaft und Theologie auf der Suche nach Wahrheit, in: EvTh 70 (2010), 313-319, 313f.

6 H. Richard Niebuhr, The Meaning of Revelation, New York / London 1941, 44.

7 Michael Beintker, Das Leben der zukünftigen Welt, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigen Welt”. Von Auferstehung und Jüngstem Gericht, Neukirchen-Vluyn 2007, 14-29, 14.

8 Thomas Naumann, „... es wird kein Leid mehr sein“. Biblische Bilder von Auferstehung und Gericht, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigen Welt”, a.a.O., 48-64, 48 und, wortgleich in der Zusammenfassung, 63.

9 Jürgen Moltmann, Sonne der Gerechtigkeit. Das Evangelium vom Gericht und der Neuschöpfung aller Dinge, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigen Welt”, a.a.O., 30-47, 41.

10 Luzia Sutter Rehmann, Die Heilung der Welt. Von geöffneten Büchern, der sich öffnenden Erde und dem wägenden Engel im Weltgericht, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigen Welt”, a.a.O., 65-76, 74.

11 Jürgen Moltmann, Sonne der Gerechtigkeit, a.a.O., 36f.

12 Eberhard Jüngel, Evangelischer Glaube und die Frage nach Tod und ewigem Leben, in: Das Wesen des Christentums in seiner evangelischen Gestalt. Eine Vortragsreihe im Berliner Dom, Neukirchen-Vluyn 2000, 112-132, 128.

13 Jürgen Moltmann, Im Ende – der Anfang. Eine kleine Hoffnungslehre, Gütersloh 2003, 123.

14 Gregor Etzelmüller, Die Bedeutung der Weltgerichtsrede Jesu (Mt 25,31-46) für eine realistische Rede vom Jüngsten Gericht, in: Heinrich Bedford-Strohm (Hg.), „... und das Leben der zukünftigen Welt”, a.a.O., 90-102, 98.

15 Zitiert bei Jürgen Moltmann, Im Ende – der Anfang, a.a.O., 124.

16 Michael Beintker, Das Leben der zukünftigen Welt, a.a.O., 26.

17 Eberhard Jüngel, Evangelischer Glaube und die Frage nach Tod und ewigem Leben, a.a.O., 129.

18 Michael Beintker, Das Leben der zukünftigen Welt, a.a.O., 29.

19 Eberhard Jüngel, Evangelischer Glaube und die Frage nach Tod und ewigem Leben, a.a.O., 131.