Walter Sparn

Was ist dem Christentum fremd?

Kriterien zum Umgang mit dem Synkretismus

 

Vermischen sich die Religionen? Unter dieser Fragestellung referierte der Erlanger Systematische Theologe Walter Sparn am 7. Juni 2007 im Rahmen der „Werkstatt Weltanschauungen“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln. Wir danken dem Autor dafür, dass er seinen Text für den MD zur Verfügung gestellt hat.


„Synkretismus“ ist kein Schmuddelwort!

Seit dem 17. Jahrhundert hat die Theologie in Deutschland den ursprünglich positiven Ausdruck Synkretismus (Zusammenhalten gegen äußere Gegner) negativ besetzt. Besonders bei Missionswissenschaftlern im frühen 20. Jahrhundert wurde er zum „Kampfbegriff“, der die angeblich illegitime Vermischung des Christentums mit indigenen Religionen anprangerte. Die in Lateinamerika, Afrika, Indien und Melanesien zu beobachtenden Amalgame des aus Europa und den USA importierten Christentums und einheimischer Religionspraxis (z. B. „Ahnenkult“) galten unter Berufung auf Apostelgeschichte 4,12 („kein anderer Name“) als gefährliche Bedrohung, als polytheistischer „Abfall“ oder als „Zerfallserscheinung“ eines schwach gewordenen Christentums.

In der von vornherein und strikt negativen Wertung jeglichen Synkretismus stecken mehrere Fehler. Erstens: So identifiziert man den „Namen“ Jesu Christi mit dem religiösen Phänomen „Christentum“, genauer sogar: mit der modernen, kirchlichen und bürgerlichen Form des Christentums. Zweitens: Man setzt den Wahrheitsanspruch des Christentums in eins mit kultureller Überlegenheit oder religiöser Alleingeltung des „christlichen Abendlandes“, ist also latent imperialistisch. Drittens: Diese negative Wertung erklärt, da sie ja strikt deduktiv verfährt, eine differenzierte Beschreibung der realen Synkretismen für unnötig. Alles, was anders aussieht als „mein“ Christentum, ist ohne Weiteres unwahr. Diese Einstellung erkennt übrigens auch nicht die antisynkretistischen Prozesse, in denen religiöse Praxis für bestimmte Lebenslagen wieder „entmischt“ wird.

Das Christentum ist selbst eine synkretistische Religion

Zu übersehen, dass das Christentum selbst eine synkretistische Religion ist, darin besteht der größte Fehler der gängigen Synkretismus-Polemik. Wer nach Kriterien christlichen Umgangs mit „dem Synkretismus“ fragt, bezieht sich jedoch nicht auf nur etwas von außen Begegnendes, sondern auf ein Charakteristikum seines eigenen Christentums. Noch mehr als das Judentum und der Islam hat sich das Christentum von Anfang an und immer in dynamischen Prozessen des Austauschs mit umgebenden oder neu begegnenden Kulturen und ihren Religionen formiert. Hierfür gibt es zahllose Beispiele, angefangen von der Übernahme von Sakramenten aus hellenistischen Mysterienreligionen bis hin zu der bis heute einflussreichen Aufnahme griechischer Philosophie in die christliche Theologie.

Diese synkretistischen Prozesse bedeuteten aber stets zugleich die Aneignung von Elementen heterogener Religion oder Weltanschauung und die Abstoßung anderer Elemente; sie führten jeweils zur Transformation des Fremden und des Eigenen zugleich. Es ist einerseits einfach zu sagen, wodurch das Christentum trotzdem immer das Christentum geblieben ist: durch den Gebrauch der kanonischen Bibel und des Glaubensbekenntnisses, durch den Vollzug des gleichen Gottesdienstes, durch die Fortgeltung der kirchlichen Rechts- und Amtsstruktur. Doch andererseits waren auch diese „roten Fäden“ nie statisch fixiert, denn die Bibel wird unterschiedlich ausgelegt, Bekenntnisse gibt es nur in der Mehrzahl, der Gottesdienst kann strittig werden („Wer lädt zum Abendmahl ein?“), die Ämterstruktur verhindert bekanntlich die kirchliche Einheit. Dazu kommt noch das sich wandelnde Verhältnis des Christentums zur politischen Herrschaft, das zwischen Märtyrerkirche und Staatskirche schwanken kann. Nicht zufällig war in den Zeiten der Verknüpfung des Christentums mit politischer Macht das Ausmaß synkretistischer Prozesse weniger stark; Synkretismus war stärker vor der Konstantinischen Wende und ist heute wieder stärker, wo sich das Christentum im Kontext plural koexistierender und medial omnipräsenter Religionen sowie in der Situation einer weitgehenden Individualisierung religiöser Wahl und Entscheidung befindet.

Das synkretistische Charisma des Christentums

Fragt man nach Kriterien für den Umgang mit synkretistischen Phänomenen im Christentum, so muss man sich von der Annahme verabschieden, dass das Christentum je als „reine“, religiös und kulturell unvermischte Religion mit definiten Grenzen existiert habe oder auch als solche existieren sollte. Ein solches „reines“ Christentum gab es nie, es wäre sogar ein Selbstwiderspruch. Man kann sogar von einem synkretistischen Charisma, von einer Begabung des Christentums sprechen, mit Pluralisierung und mit Anders-Werden umzugehen, ja Pluralität und Alterität hervorzubringen.

Der wichtigste Grund hierfür ist, dass das Christentum von Anfang an, seit Pfingsten (man lese Apg 2), eine Religion der Übersetzung ist, der Übersetzung in fremde Sprachen, Verstehenswelten und Kulturen. Das Christentum ist von sich aus auf Inkulturation angelgt, auf die konkrete Gestaltung der religiösen Praxis in der jeweiligen Kultur und deren religiöser Dimension; es ist nie ohne tiefgreifende Transformation gewesen.

Das Christentum hat daher eine offene Flanke: Es ist angewiesen auf das Wehen des Heiligen Geistes, wo und wann dieser will, d. h. auf spirituelle Innovationen, die zugleich die Selbigkeit des Christentums erneuern; und es ist angewiesen auf theologische Reflexion, die doktrinelle und institutionelle Orientierung auch in synkretistischen Prozessen ermöglicht – der christliche Glaube ist immer auch „denkender Glaube“.

Das letztgenannte Charakteristikum hat eine das synkretistische Charisma korrigierende Funktion, es sorgt dafür, dass auch tiefgehende Transformationsprozesse ein authentisches („biblisches“ oder apostolisches“) Christentum zum Ergebnis haben. Man kann die Reflexionsfähigkeit des Christentums daher auch sein prophetisches Charisma nennen.

Wann bleibt ein synkretistisches Phänomen christlich?

Die Kriterien für den Umgang mit synkretistischen Entwicklungen können nicht aus einer fixen „Identität“ des Christentums abgeleitet werden, denn eine solche „A=A-Identität“ gibt es im Leben nicht, schon gar nicht im Leben mit Gott. Es gibt lediglich den bis zum Jüngsten Gericht andauernden Prozess der immer neuen Identifikation des Christlichen in dem jeweiligen Christentum, wie es durch die in ihm und seinem kulturellen Kontext individuell und gemeinschaftlich religiös Handelnden verkörpert wird. Deshalb ist, wie der Theologe Friedrich Schleiermacher zu Recht feststellte, das Christentum – so rechtgläubig es sein will und zweifellos auch sein soll – immer auch mit einem Element der Heterodoxie ausgestattet, d. h. mit einer religiös und kulturell produktiven und innovativen Dynamik.

Das elementare Kriterium der Identifikation des Christlichen ist nichtsdestoweniger sehr klar und einfach. Es ist der Vollzug des christlichen Glaubens an Gott in Gestalt des persönlichen und gemeinschaftlichen Christusbekenntnisses: „Kyrios Jesus“, „Herr (Gott) ist Jesus (der Gekreuzigte)“. Alle dogmatischen Fixierungen einer christlichen Lehre müssen sich auf dieses Jesus-als-Gott-Bekennen zurückführen lassen, alle Veränderungen im Christentum müssen ihre Legitimität an diesem Bekenntnissatz ausweisen, dessen Prädikat „Herr“ oder „Gott“ zwar unterschiedlich verstanden werden kann, dessen Subjekt jedoch dasselbe bleibt: der vor 2000 Jahren gekreuzigte Jesus von Nazaret: Gott ist Jesus.

So bleibt dieses Bekennen, das „Gott“ als durch den Gekreuzigten definiert glaubt, doxologisch immer dasselbe Bekenntnis. Auch das synkretistische Charisma bleibt, wenn es christlich sein will, diesem Bekennen treu: Der christliche Synkretismus ist, mit anderen Worten, asymmetrisch, der Name „Jesus“ (und was in diesem Namen an Worten und Taten überliefert ist) ist nicht austauschbar, da haben die eingangs erwähnten Polemiker Recht („Theokrasie“). Das zeigt sich an einem kritischen Punkt sehr deutlich: Ein Synkretismus, der aus allgemeinem Relativismus oder auch aufgrund neuer Offenbarungen jenes Christuszeugnis unnötig macht und so jede Mission für den Christusglauben und jegliche Konversion zum Christusglauben vergleichgültigt, hat sich vom Christentum als eigen-sinnige religiöse Praxis getrennt.

Das unterschiedliche Gewicht von Synkretismen

Das elementare und einzig exklusive Kriterium dafür, ob synkretistische Entwicklungen christlich bleiben oder aber dem Christentum fremd werden, wird meist im beschriebenen Grenzfall unmittelbar wirksam. Meist liegt jedoch eine Gemengelage vor, weil die genannten Faktoren der Kontinuität des Christentums in seinen Wandlungen, z. B. die Bibel oder das Kirchenrecht, ja nicht einfach das Christusbekennen sind und diesem Bekenntnis auch unterschiedlich nahestehen. Es ist daher nötig, von Synkretismus immer auch deskriptiv zu sprechen, also genau zu beschreiben, wo und wie synkretistische Phänomene auftreten. Sie sind sehr vielfältig und von unterschiedlicher religiöser Bedeutung.

Es ist ein erheblicher Unterschied, ob Synkretismen im Ritus des Gemeindegottesdienstes und in den Symbolen des Glaubens auftreten oder in der persönlichen Frömmigkeit, ob in der kirchlichen Doktrin oder in der Bilder- und Tonsprache christlicher Dichter und Musiker, ob in der Übersetzung kanonischer Texte oder in ihrer aktualisierenden Auslegung und ethischen Umsetzung. So ist nicht nur die „Volksfrömmigkeit“ synkretistisch, sondern auch unsere Gesangbücher, erst recht unsere verfassten Kircheninstitutionen und das Kirchenrecht, sind synkretistische Gebilde – und das doch meist ohne Gefährdung des Christusbekennens. Aber wer weiß, ob unsere volkskirchliche, öffentlich-rechtliche Kirchenorganisation dem Christusbekennen nicht auch Hindernisse in den Weg legt? Wie schwierig die Orientierung werden kann, trat z. B. bei der Diskussion der neuen Bibelübersetzung, der „Bibel in gerechter Sprache“ zutage: Man kann sie loben, weil sie die Bibel in die gegenwärtige kulturelle Situation hinein übersetzt und also indigenisiert; man kann sie auch tadeln, weil der Synkretismus, der mit jedem Übersetzen verbunden ist, in diesem Fall den kanonischen Text und seine Philologie um der aktuellen theologischen correctness willen hinter der Interpretation verschwinden lässt, also eine Auslegung für den Text ausgibt.

Auch sind Prozesse der Inkulturation in der Begegnung des „westlichen“ Christentums mit anderen Kulturen (z. B. Ahnenverehrung) anderer Art als z. B. Prozesse der Hybridisierung heterogener religiöser Traditionen, wie sie in der Auseinandersetzung unserer Kirchen mit spirituellen Einflüssen östlicher Religionskulturen (z. B. Reinkarnationsglaube) oder der nebenchristlichen Esoterik des Westens (z. B. „Wiederverzauberung der Natur“) ausgebildet werden.

Wiederum anderer Art sind die in unserer religiös und weltanschaulich pluralen Welt unvermeidlichen Prozesse der Adaption und Transformation des lebensgeschichtlich erlernten oder erlittenen Christentums im Kontext der marktförmig angebotenen religiösen Optionen (z. B. individuelle religiöse Bricolagen, aber auch die U-Musikszene, Filme usw.). Kurz, ein pauschales Schlagwort „Synkretismus“ hilft nicht weiter; nötig ist das genaue Hinschauen, was wo, wie, wann, durch wen geschieht.

Synkretismus und kanonische Autorität

Um den Abstand zwischen dem Christusbekennen und der geschichtlichen Entwicklung des Christentums zu überbrücken und in den vielfältigen synkretistischen Prozessen orientierungsfähig zu sein, haben die christlichen Kirchen schon früh Richtmaße oder Kriterien der Unterscheidung ausgebildet, mittels derer man jeweils die Grenze zwischen innen („was zu uns gehört“) und draußen („was nicht zu uns gehört“) ziehen kann. Das traditionelle griechische und lateinische Wort dafür heißt Canon, Canones. Dem Christentum wird fremd, was den Raum des Kanonischen verlässt und wer anderes und mehr will als mit den kanonischen Instanzen vereinbar ist. Diese Instanzen sind traditionell, wie schon erwähnt, die Heilige Schrift, das kirchliche Bekenntnis und das bischöfliche Lehramt. Daran, dass sie und besonders das letztere in Gestalt des Papstes in der Reformation strittig geworden sind, kann man sehen, dass die Frage nach dem Umgang mit Synkretismus nicht nur eine Frage der Regeln dafür ist, sondern auch die Frage nach denen, die diese Regeln handhaben oder sie gar neu oder exklusiv formulieren (z. B. das Schriftprinzip). Anders gesagt, die Frage der Kanonizität ist stets auch eine Frage der Macht: Wer hat, wie es früher hieß, die potestas, die Vollmacht zu bestimmen, was christlicher Synkretismus ist, welche religiösen Entwicklungen in der Analogie des Christusglaubens bleiben und welche sich dieser Analogie („Orthodoxie“) entfremden?

Das reformatorische Christentum plädiert aus Gründen, die im Christusbekennen als solchem liegen, gegen die Machtförmigkeit religiöser Autorität zugunsten ihrer Plausibilität, nämlich zugunsten der allen Christen zugänglichen, freien, daher veränderlichen und verbesserlichen Interpretation der Überlieferung des Christusbekenntnisses in Gestalt der Heiligen Schrift. Das evangelische Schriftprinzip sola scriptura besagt, dass religiöse Entwicklungen und Neuerungen im Christentum nur einem relativen, keinem definitiven Urteil von Menschen unterworfen werden dürfen, sondern sich als Auslegung der Bibel in der christlichen Auslegungsgemeinschaft zu bewähren haben. Für diese Auslegung, sofern sie hermeneutisch nachvollziehbar und nicht beliebiges oder vorurteilsgeleitetes („fundamentalistisches“) Hineinlesen ist, lassen sich allerdings Konsense mittlerer Reichweite aufbauen, z. B. in aktuellen Bekenntnisformulierungen, in der kommunikativen und in der ethischen Praxis der Gemeinde, vielleicht sogar in einer besseren Kirchenverfassung. Das definitive Urteil über die vollständige Richtigkeit unserer Bibelauslegung, mithin auch das definitive Urteil über die Christlichkeit der sich entwickelnden oder angestrebten Synkretismen in unserer Kirche behält sich der Heilige Geist vor.

Vermischen sich die Religionen?

Ja, und das werden sie umso mehr, je intensiver sie friedlich koexistieren und sich nicht oder nicht mehr durch institutionelle Macht „rein“ halten können, sondern auf dem weltanschaulichen Markt um Plausibilität werben müssen (der Wechsel vom Paradigma „institutionelle Macht“ zu „weltanschaulicher Markt“ ist gut evangelisch!).

Nein, soweit es ihnen gelingt, sich immer neu in der Entsprechung zu ihrem eigenen Glauben zu respezifizieren. Das Christentum bleibt Christentum in Europa oder Afrika oder sonstwo, wenn sich die synkretistische Vielfalt der jeweiligen Vorstellungen von Gott und der Welt zu dem Bekenntnis „Gott ist Jesus“ findet.


Walter Sparn, Erlangen