Matthias Pöhlmann

Warum Apologetik nötig ist

Plädoyer für ein kirchliches Profil im weltanschaulich-religiösen Pluralismus

Kirchliche Apologetik bewegt sich heute im Spannungsfeld zwischen Kirche, Gesellschaft und Öffentlichkeit. Sie vollzieht sich als religiöse Aufklärung, Seelsorge, Beratung und Bildungsarbeit sowie als kirchliche Publizistik. Herausgefordert wird sie durch Weltanschauungen, säkulare wie neue religiöse Bewegungen, aber auch durch Formen verletzender Religiosität sowie vereinnahmende Gruppen. Tagtäglich erreichen die Weltanschauungsbeauftragten der evangelischen wie der katholischen Kirche vielerlei Anfragen per Telefon, E-Mail oder Brief: Das Spektrum umfasst Informations- wie auch Beratungsanfragen. Hierzu einige Beispiele:

  • Ein besorgter Mann ruft an, weil sich seine Ehefrau einer esoterischen Heilergruppe angeschlossen hat. Er fragt nach Hintergrundinformationen und sucht Rat, wie er mit dieser Situation umgehen soll.
  • Eine Journalistin bittet per E-Mail um eine Einschätzung zur Scientology-Organisation.
  • Eine Kirchengemeinde bittet um einen Vortrag zum Thema christlicher Fundamentalismus.
  • Eine Pfarrerin fragt an, ob die Taufe der Christengemeinschaft von der evangelischen Kirche anerkannt wird.
  • Der Mitarbeiter einer Schulbehörde bittet um eine Einschätzung eines Angebots im Bereich Persönlichkeitsschulung.
  • Eine Aussteigerin aus einer vereinnahmenden Gruppe erbittet ein Beratungsgespräch.


Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltagsgeschäft kirchlicher Weltanschauungsbeauftragter. Auskunfts- und Unterscheidungsfähigkeit sind auch in Kirchengemeinden gefordert. Pfarrerinnen und Pfarrer begegnen im Gemeindealltag, im Tauf-, Trau- und Beerdigungsgespräch, in der Arbeit mit Konfirmandeneltern, in Seelsorge und Bildungsarbeit Menschen, die in Kontakt mit unterschiedlichen weltanschaulich-religiösen Strömungen oder Gemeinschaften gekommen sind. Nahezu jede und jeder begegnet im persönlichen Umfeld Menschen mit esoterischen, neureligiösen oder atheistischen Überzeugungen. So ergibt sich für die Kirche, für kirchliche Mitarbeitende, Ehrenamtliche, ja für alle Christenmenschen eine Vielfalt ganz unterschiedlicher Gesprächssituationen, in denen sie zur Antwort des Glaubens herausgefordert sind.

Apologie der Apologetik

Es war eine kleine Überraschung: Zum Abschluss der zweiten Tagung der 12. Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) im November 2015 wurde in der Entschließung anlässlich der Präsentation des neuen, von der Kirchenleitung herausgegebenen „Handbuchs Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen“ die apologetische Arbeit als Kernaufgabe kirchlichen Handels hervorgehoben, „weil sie eine Grunddimension christlichen Glaubens reflektiert“. Resümierend heißt es: „Um anderen Weltanschauungen offen und urteilsfähig begegnen zu können sowie Stellung zu nehmen, ist es notwendig, sich des eigenen Glaubens gewiss zu sein und darüber Auskunft geben zu können … Angesichts der zunehmenden Pluralisierung unserer Gesellschaft ist es wichtig, dass die apologetische Arbeit durch entsprechende Personalressourcen im Bereich der Weltanschauungsfragen angemessen ausgestattet wird.“1 Apologetik erinnere demzufolge an die Kompetenz, in Kommunikation mit anderen zu treten und das eigene Glaubensverständnis zu anderen Weltdeutungen dialogisch-kritisch in Beziehung zu setzen.

Dass Apologetik und deren praktische Umsetzung – die Apologie – überhaupt in einer aktuellen kirchlichen Verlautbarung zum Thema wird, lässt aufhorchen. Immerhin gehörte dieser Fachbegriff Jahrzehnte lang zu den theologisch eher verdächtigen Begriffen, witterte man dahinter Besserwisserei, Bekehrungseifer und Sorge um den Sieg der Heilsbotschaft.

Was kann Apologetik heute leisten? Ist sie überholt? Erweist sie sich als hemmend oder gar störend im Dialog der Religionen? Prinzipiell kann zwischen einer wissenschaftlich reflektierenden theoretischen Apologetik und einer praktisch orientierten Apologetik (Apologie) unterschieden werden. Im theologischen Fächerkanon war die Apologetik eine Teildisziplin der Systematischen Theologie. Heute wird sie – ähnlich wie in der katholischen Theologie – vereinzelt in der Fundamentaltheologie verortet. Demgegenüber ist praktische Apologetik Teil der Kommunikation des Evangeliums und damit auch Teil des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags. Sie vollzieht sich als seismografische Wahrnehmung von aktuellen geistigen und religiösen Strömungen. Insofern ist Apologetik nötig und reizvoll, weil sie für theologisches Urteilen einen Realitätsbezug zur säkularen wie weltanschaulich-religiösen Gegenwartslage herstellt, um die Kommunikation des Evangeliums zu ermöglichen.

Derzeit scheint diese apologetische Dimension in der wissenschaftlichen Theologie kein Thema zu sein: Die Beschäftigung mit der religiösen Gegenwartskultur, etwa mit Esoterik, Reinkarnationsvorstellungen, neuen Religionen, Sinnangeboten oder mit den Facetten des neuen Atheismus, sucht man im Lehrangebot theologischer Fakultäten vergebens – von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Inwieweit werden Pfarrerinnen und Religionslehrer auf den weltanschaulich-religiösen Pluralismus vorbereitet? Sind sie auskunfts- und unterscheidungsfähig? Sind sie in der Lage, mit spirituell Interessierten dialogisch-kritisch zu kommunizieren? Esoterische Überzeugungen machen, so das Ergebnis der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD, nicht mehr an der Kirchentür halt.2 Ausformungen säkularer wie auch individualisiert-synkretistischer Auffassungen begegnen Pfarrerinnen und Pfarrern in ihrem Gemeindealltag immer öfter, ob in Seelsorge oder Bildungsarbeit. Die Pluralisierung religiös-weltanschaulicher Angebote ist längst kein urbanes Phänomen mehr. Es wäre sicher für Kirchengemeinden und Kirchenkreise lohnenswert, für das eigene Umfeld eine religiös-weltanschauliche Landkarte zu erstellen, um den Pluralismus vor Ort genauer erfassen und vor diesem Hintergrund die Gemeindearbeit im Blick auf missionarisch-apologetische Zielsetzungen reflektieren zu können.

Apologetik hat heute auch eine gesellschaftsdiakonische Aufgabe: Sie bewegt sich mehr oder weniger in einem Spannungsfeld zwischen Kirche und Gesellschaft: In einer Welt mit vielgestaltigen Lebensangeboten, konkurrierenden Sinndeutungen und Heilsversprechen hat die evangelische Apologetik die Aufgabe, Unterschiede im Gottes- und Menschenbild zu benennen und Unterscheidungshilfen zu geben.

Ethik der Apologetik

Die Volkskirche hat ihre Sache im weltanschaulich-religiösen Pluralismus zu vertreten. Dazu gehört, dass sie ihre Botschaft im Gegenüber zu anderen religiösen und spirituellen Angeboten verdeutlicht. Auf dem Markt der Sinnanbieter sind Selbstoptimierungsprogramme und leistungsorientierte Erfolgscoachings derzeit besonders gefragt. Menschliche Grenzen werden ignoriert, die Gebrochenheit menschlicher Existenz schlicht geleugnet. Die aktuelle Bedeutung kirchlicher Apologetik liegt darin, solchen spirituellen, meist egozentrischen Leistungsideologien die Rechtfertigungsbotschaft kritisch gegenüberzustellen und für eine Kultur der Barmherzigkeit und Nächstenliebe einzutreten.

Die kirchliche Apologetik ist nicht ausschließlich ein Spezialgeschäft einzelner Experten oder dazu Beauftragter. Sie hält für Theologie und Kirche die Erinnerung wach, dass Klärungen und Hilfestellungen für die Sprach- und Auskunftsfähigkeit des christlichen Glaubens im Kontext religiös-weltanschaulicher Vielfalt mehr denn je gefordert sind. Das gilt für Kirche und Gemeinden – und nicht zuletzt für jeden einzelnen Christenmenschen, um im Gespräch mit der Zeit Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, die in uns ist (1. Petr 3,15). Diese biblische Stelle gilt als locus classicus für die Sache der Apologetik. Der nachfolgende biblische Vers in 1. Petr 3,16 wird dabei nicht zitiert oder gar übersehen. Er entfaltet gewissermaßen eine Ethik der Apologetik: Das Antworten und Rechenschaftgeben soll mit Milde und Furcht geschehen, d. h. sich „in milder und respektvoller Art, mit gutem Gewissen“ vollziehen. Damit wird „zu einer konzilianten, eben nicht aggressiven Art angehalten“3. Das wurde in der Geschichte der neueren Apologetik leider nicht immer beherzigt.4 Gefragt ist heute eine überzeugende, argumentative, aber auch selbstkritische Auseinandersetzung. Apologetik ist demzufolge „verantwortlich gegenüber Mitmenschen, die wissen wollen, was, warum und wie Christen hoffen und glauben.“5

Apologetik im Wandel

Die Apologetik der Gegenwart hat sich im Vergleich zu früheren Jahrzehnten gewandelt. Sie wird heute im Vergleich zu früheren Jahren und Jahrzehnten mit „mehr Demut“ zu betreiben sein. Was heißt das? Es muss zunehmend darauf geachtet werden, differenziert, sachorientiert und keinesfalls überheblich Kritik an neuen religiösen Bewegungen und Psychogruppen zu äußern.

Doch die Bedingungen für die organisierte Weltanschauungsarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland sind regional unterschiedlich. Die Zahl kirchlicher Beauftragter in diesem übergemeindlichen Arbeitsfeld geht kontinuierlich zurück. Einige Landeskirchen haben Stellen prozentual gekürzt oder verzichten inzwischen ganz auf die Stelle eines Weltanschauungsbeauftragten.

Eine solche Entwicklung hat weitreichende Konsequenzen: Wenn Kirche sich zunehmend aus dem Feld der Apologetik, des öffentlichen Diskurses, der weltanschaulich-religiösen Debatte zurückzieht, dann bleibt sie sich und der Öffentlichkeit etwas schuldig: Hilfen zur religiösen Aufklärung, zur Unterscheidung der Geister. Sie gibt Publizität preis, und sie verspielt die Chance, Orientierungshilfen im religiösen Feld zu geben. Nach innen besteht die Gefahr, den notwendigen dialogisch-apologetischen Selbstklärungs- und Selbstvergewisserungsdiskurs angesichts weltanschaulich-religiöser Vielfalt preiszugeben – mit der Folge, letztlich in der Öffentlichkeit nicht mehr auskunftsfähig zu sein. Mit anderen Worten: Der weltanschaulich-religiöse Kontext, die „Großwetterlage“ (Ernst Lange) zur Kommunikation des Evangeliums kommt mit dem apologetischen Auftrag in den Blick. Heutige Theologie muss auch im verschärften religiös-weltanschaulichen Pluralismus auf der Höhe der Zeit sein, um das unterscheidend und entscheidend Christliche benennen zu können. Gerade deshalb sollte die Kirche ihre apologetische Kompetenz nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.


Anmerkungen

1 Entschließung der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zum Thema „Reformationsjubiläum 2017 – Christlicher Glaube in offener Gesellschaft“ vom 7. November 2015, in: Texte der VELKD Nr. 173, November 2015, 43.
2 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 40ff.
3 Norbert Brox, Der Erste Petrusbrief, EKK XXI, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1979, 160.
4 Vgl. hierzu meine Untersuchung: Kampf der Geister. Zur Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921 – 1937), Stuttgart u. a. 1998.
5 Hartmut Rosenau, Vom Warten – Grundriss einer sapientialen Dogmatik. Neue Zugänge zur Gotteslehre, Christologie und Eschatologie, Berlin/Münster 2012, 17.