Heiko Ehrhardt

„Wahn! Wahn! Überall Wahn!“

Anmerkungen zu Richard Wagner (1813 - 1883)

„Jedes Mal, wenn ich Wagner höre, bekomme ich Lust, in Polen einzumarschieren.“ Worte Woody Allens, die prägnant das Unbehagen in Sprache fassen, das den Bayreuther Komponisten und sein Werk bis heute begleitet. Und mit seinem Unbehagen ist Woody Allen nicht allein in Hollywood. So unterschiedliche Regisseure wie Francis Ford Coppola und John Landis haben in Blockbustern („Apocalypse Now“ und „Blues Brothers“) Wagners „Walkürenritt“ in Schlüsselszenen eingesetzt: Beim Angriff der Helikopter auf ein vietnamesisches Dorf der eine, beim „Todesflug“ der amerikanischen Nazis der andere. Bittere Satire also, martialischer Kriegsfilm und eher slapstickhafter Umgang mit dem Thema „Nationalsozialismus“: Immer ist Wagners Musik die scheinbar angemessene Untermalung. Und immer artikuliert sich ein Unbehagen.

Dass es nicht seine Musik ist, der dieses Unbehagen gilt – das ist inzwischen Common Sense. Eher im Gegenteil: Die Neuerungen1, die Wagner in die Opernwelt eingebracht hat, reichen aus, ihn als genialen Opernschöpfer und als innovativen Neuerer aller europäischen Opernbühnen zu feiern. Auch wenn manche dieser Neuerungen zu Beginn einen handfesten Skandal wert waren (so vor allem die als „schräg“ bzw. atonal empfundene Harmonik im „Tristan“), auch wenn man sich vor Augen halten muss, dass fast das gesamte Werk des Meisters nur auf Pump und durch rücksichtslose Ausbeutung seiner zahlreichen Gönner entstand: Richard Wagner hat die Oper verändert wie niemand vor oder nach ihm. Musikhistorisch betrachtet ist sein Werk aller Ehren wert und nicht hoch genug zu schätzen. Eine derartige Würdigung freilich kann nicht Aufgabe eines Aufsatzes in einer Zeitschrift sein, die über Weltanschauungsfragen nachdenken will. Sie müsste von anderer Seite und durch berufenere Kenner erfolgen.

Zu hinterfragen ist aber sehr wohl das Weltbild Wagners – und dies nicht nur deshalb, weil es immer wieder Regisseure zu handfesten Skandalen provoziert hat.2 Um die folgenden Punkte dieses Weltbildes soll es im Folgenden gehen: Wagners politisches Weltbild, seinen Antisemitismus, seinen Umgang mit germanischer Mythologie und sein Verhältnis zum Christentum.

Wie viel Hitler ist in Wagner?

„Es ist viel Hitler in Wagner.“3 Dieses provokante Zitat Thomas Manns, das das einleitende Zitat Woody Allens illuminiert, gilt es auszuhalten. Denn die Verflechtungen zwischen Bayreuth, hier speziell Wagners Witwe Cosima und seiner Schwiegertochter Winifred, und dem Dritten Reich und hier speziell dem „Führer“ Adolf Hitler lassen in ihrer Eindeutigkeit keinen Spielraum für Interpretationen: „Die Wagners waren Nazis der ersten Stunde.“4 Oder anders, und mit den Worten Brigitte Hamanns, gesprochen: Der Bayreuther Geist der zwanziger Jahre war ein Gemisch aus „reaktionären, monarchistischen, deutschvölkischen, antisemitischen Elementen mit ständiger Nachbeterei der Chamberlain-Thesen und der seiner Epigonen“.5

Dass Wagner der verehrte Lieblingskomponist Adolf Hitlers war (speziell der vom Volk verratene Fürst im „Rienzi“ war für Adolf Hitler eine ideale Projektionsfläche), auch das kann man nicht bestreiten. Und dass es im Werk Wagners immer mal wieder heftig „deutschtümelt“, so etwa im Schlusschor „Ehr Eure deutschen Meister“ der „Meistersinger von Nürnberg“, und dass Wagner sich – anders als die klassischen Opern vor ihm – vor allem an deutschen Sagen und germanischer Mythologie orientierte, mit Helden, die nicht gebrochen daherkommen oder eine Entwicklung erfahren, sondern die vielfach durchgehend als heroische Helden auftreten, die politisch leicht missbraucht werden konnten: Auch das ist nicht zu bestreiten und zugleich eine breite Einflugschneise für ein nationalsozialistisches Weltbild.

Zugleich gilt aber auch: Richard Wagner war zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme schon ein halbes Jahrhundert tot und ist natürlich nur bedingt für das verantwortlich zu machen, was seine Familie nach ihm getrieben hat. Denn der 1883 verstorbene Richard Wagner war viel zu sehr Kind der revolutionären Umbrüche des 19. Jahrhunderts, als dass er einfach als Wegbereiter des Nationalsozialismus herhalten könnte. Der berühmte „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau und Pierre Boulez aus dem Jahr 1976 hat genau diese revolutionäre Absage an den entstehenden Kapitalismus und die entstehende Industrialisierung ins Bild gefasst. Diese Geschichtsdeutung mag man destruktiv nennen, vielleicht auch totalitär-übergriffig. Und natürlich ist die Orientierung am europäischen Mittelalter eher als reaktionär denn als fortschrittlich zu werten. Aber sie atmet gleichwohl immer noch den Geist der revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts – nicht den braunen Atem des NS-Staates.6 Darüber hinaus muss man Wagner zugutehalten, dass er sich bewusst als „Weltbürger“ gegeben und verstanden hat, der zeit seines Lebens ohne große Scheuklappen da gewohnt hat, wo es für ihn gerade opportun war – dass dieser Mensch dem simplen Deutschtum oder gar der germanischen Herrenmenschenmentalität des Dritten Reiches gehuldigt hätte, erscheint mir als eher unwahrscheinlich.

Zugestanden: Mit ein wenig Spekulation kann man behaupten, dass Wagner sich der Vereinnahmung Bayreuths durch die Nationalsozialisten nicht entgegengestellt hätte – allein schon wegen der zu erwartenden finanziellen Unterstützung, auf die er zeitlebens angewiesen war. Aber ob ihn das zu einem Nationalsozialisten gemacht hätte, darf doch mit Fug und Recht bezweifelt werden. Dafür war er einfach zu sehr auf die Freiheit seiner Kunst bedacht und in seinem Leben zu nonkonform.7 Im Bereich der Politik jedenfalls ist er von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden und das, so denke ich, wohl eher gegen seinen Willen. Anders freilich sieht es aus, wenn man nach seinem Antisemitismus fragt.

„Das Judenthum in der Musik“8

Kann man über die geistige Vorläuferschaft Wagners zum Dritten Reich durchaus geteilter Meinung sein, so gibt es bei der Einschätzung seiner Stellung zum Judentum keinen Spielraum: Wagner war Antisemit durch und durch. Hier gibt es denn auch sehr viel „Hitler in Wagner“. Und dies geht so weit, dass in Bayreuther Kreisen nicht nur die Schriften Otto Glagaus (1834 – 1892, Gründer der volkstümlichen Zeitschrift „Die Gartenlaube“), Wilhelm Marrs (1819 – 1904, er popularisierte den Begriff „Antisemitismus“) und Adolf Stoeckers (1835 – 1909, der spätere preußische Hofprediger) genauestens gelesen wurden – nein: Mit einem gewissen Recht konnte Cosima Wagner stolz verkünden, dass Wagners „Aufsatz über die Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht hat“.9 Zwar behandelte Wagner in seinem grundlegenden Aufsatz von 1850 „nur“ die Rolle „des Judenthums in der Musik“ – also noch nicht das, was dann später sein Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain an rassetheoretischem Unsinn als Unterfütterung lieferte, zwar klingt die Grundthese, wonach der Jude als Ausländer, der die modernen europäischen Sprachen eben nicht als Muttersprache spreche10, naturgemäß nur nachahmen, nicht aber schaffen könne, noch verhältnismäßig moderat – allein: Stellt man dies in den Kontext der Zeit und beachtet man, mit welcher bornierten Dummheit schon zu Lebzeiten Wagners jüdische Künstler in Bayreuth ausgegrenzt wurden, dann fällt das Urteil anders aus. Schon die bloße Behauptung, bei den Juden handele es sich um „Ausländer“, die der deutschen Sprache nicht mächtig seien, war angesichts von mehr als 1000 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland schlichter Unfug. Dass dann in späteren Jahren im Hause Wagner nicht nur die vergleichsweise „soften“ Forderungen der „Antisemitenpetition“ von 1880 (Beschränkung der Zuwanderung von Juden und Ausschluss der Juden von führenden Positionen in Justiz- und Schulwesen) Gehör fanden, sondern auch die Gedanken Paul de Lagardes (1827 – 1891), der als einer der Ersten einen exterminatorischen Antisemitismus vertrat, wundert kaum noch.11 Zumindest dann nicht, wenn man sieht, mit welcher Energie jüdische Künstler schon zu Lebzeiten Wagners von einem Engagement in Bayreuth ausgeschlossen wurden. Es besteht daher kein Zweifel, dass Wagner ein klarer, entschiedener und auch nicht durch Missverständnisse oder Fehlinterpretationen zu entschuldigender Antisemit war.

Die Frage, die sich bei diesem Befund spätestens seit Auschwitz stellt, ist, ob die Werke dieses Komponisten überhaupt noch spielbar sind. Es mag in den Ohren treuer Wagnerianer wie Frevel klingen – und doch muss die Frage erlaubt sein, wieso das Werk Wagners angesichts seines Antisemitismus nicht ebenso klar geächtet wird wie z. B. Rainer Werner Fassbinders Machwerk „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Die Antwort auf diese Frage sollte man sich nicht zu einfach machen. Die Aussage des bedeutenden Wagner-Dirigenten Christian Thielemann etwa, dass er „einen Quartseptakkord weder antisemitisch noch philosemitisch, weder faschistisch noch sozialistisch noch kapitalistisch spielen oder dirigieren“12 könne, ist so richtig wie sinnlos. Denn Wagner war nun mal kein Schöpfer rein instrumentaler Werke, sondern Komponist, Textdichter, Regisseur und Dirigent in einer Person, ein „Gesamtkunstwerk“ – ein Jahrhundert, bevor Joseph Beuys diesen Begriff prägte. Zu beurteilen ist daher das Gesamtgefüge. Und dieses kann man sehr wohl antisemitisch gestalten – oder eben dem Antisemitismus Wagners einen Spiegel13 vorhalten.

Zu beachten ist auch, dass namhafte jüdische Dirigenten (in der Vergangenheit Hermann Levi und Bruno Walter, in der Gegenwart Daniel Barenboim und James Levine) sowie eine Reihe herausragender jüdischer Solisten und Instrumentalisten aller Anfeindung zum Trotz herausragende Wagnerinterpretationen schufen, aber auch, dass die vor Jahren geplante Wagner-Aufführung in Israel unter der Leitung von Daniel Barenboim zu einem heftigen Streit und schließlich dann zu einem Verbot führte. Eine Beurteilung von Wagners Antisemitismus muss auch diese Aspekte im Auge behalten.

Es bleibt dann vor allem die Frage, ob es festmachbare Antisemitismen in den Opern Wagners gibt. Zunächst einmal ist da eine Negativanzeige zu machen: Juden kommen in Wagners Opern erkennbar nicht vor. Dies hat seinen Grund natürlich darin, dass Wagner sich an germanischer Mythologie und an Stoffen des europäischen Mittelalters orientierte, in denen es naturgemäß keine Juden gibt. Von daher könnte man mit einer erheblichen Blauäugigkeit sagen, dass die Opern Wagners an sich frei von Antisemitismen sind. Doch das ist zu einfach geurteilt. Nicht nur, weil Wagner zum „Fliegenden Holländer“ von Heinrich Heines Schrift „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“ inspiriert wurde (so viel zum Thema, „der Jude könne nur nachahmen, nicht selbst schaffen“ – in diesem Fall war Wagner der Nachahmer) und damit die Frage im Raum steht, ob nicht die Figur des Holländers an den Mythos des Ahasver, des „ewigen Juden“, angelehnt ist, ist zu untersuchen, ob nicht konkrete Bühnenfiguren als Karikatur von Juden angelegt sind. Auch wenn diese, vor allem auf Adorno zurückgehende, Interpretation heftig umstritten ist – ganz von der Hand weisen kann man sie nicht.14

Nimmt man etwa die Figur des Sixtus Beckmesser in den „Meistersingern“, dann liegt dieser Verdacht sogar sehr nahe. Hintergrund der Figur ist der bedeutende Kritiker Eduard Hanslick. Auch wenn dieser gar kein Jude war, sondern lediglich einen jüdischen Schwiegervater hatte, und auch wenn Hanslick Wagner anfangs sehr positiv beurteilen konnte, so kam es doch in späteren Jahren zum Zerwürfnis und zu unsachlichen Anwürfen Wagners gegen den „jüdischen Kritiker“. Untersucht man nun die Rolle Beckmessers in den Meistersingern, dann stellt man schnell fest, dass Beckmesser exakt das tut, was Wagner in seiner Schrift von 1850 den Juden vorwirft: Künstler ist er nicht, sondern pedantisch und kleinkariert. Das Neue, das mit Walther von Stolzing kommt, ist er nicht in der Lage zu erkennen. Da seine Kreativität begrenzt ist, greift er im Wettstreit auf ein Preislied von Hans Sachs zurück. Dieses hätte er dem Meister fast noch gestohlen, hätte der es ihm nicht generös geschenkt. Allerdings scheitert Beckmesser dann am nächsten Tag vor großem Publikum auf das Allerlächerlichste an diesem Lied – wogegen der deutsche Ritter Walther von Stolzing und der „deutsche Meister“ Hans Sachs einen Triumph sondergleichen feiern. Deutlicher geht es kaum. Zugleich aber – und das macht die Ambivalenz dieser Figur aus – sind die Auftritte Beckmessers mit Musik unterlegt, die bei aller Albernheit „moderner“ und ambitionierter klingt als viele andere Passagen der Meistersinger.

Anders gelagerte, aber ähnlich auffallende Ambivalenzen wird man beim „Holländer“ finden und auch bei Kundry im „Parsifal“. Beides sind Figuren, bei denen immer wieder erwogen wurde, ob sie stellvertretend für „den Juden“ stehen. Holländer wie Kundry sind dabei keine einlinig negativen Gestalten – sie sind Schuldiggewordene, die aufgrund ihrer Schuld zutiefst auf Erlösung angewiesen sind – eine Erlösung, die sie am Ende auch finden. Diese freilich ist in beiden Fällen identisch mit dem Ende des Lebens. Hier aber eine Linie festmachen zu wollen („Der Jude findet Erlösung, indem die Welt von ihm erlöst wird“), ist denn doch der Unterstellung zu viel.

Die Frage nach der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ist zentrales Thema Wagners. Dies wird umso deutlicher, wenn man sich dem Hauptwerk Wagners, seinen Opern also, zuwendet.

Den Göttern dämmert was …

Nicht nur kompositorisch und konzeptionell hat Wagner mit der ihm vorgegebenen Operntradition gebrochen. Neu sind auch der von ihm verwendete Stoff und die Intention seiner Werke: Wurden die Libretti bis zu Wagner oft aus der europäischen Antike, aus zeitgenössischen Romanen oder schlicht der Fantasie entnommen, so orientiert sich Wagner – von den Frühwerken „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“, die je auf ihre Weise der Tradition verhaftet sind, einmal abgesehen – an germanischer Mythologie und Epen des deutschen Mittelalters.15

Diesen Stoff bearbeitet er aber mit einer großen Freiheit und vor allem immer so, dass es seiner Weltsicht entspricht: Letztlich ist der Mensch den Irrungen und Wirrungen dieser Welt ausgeliefert und auf Erlösung angewiesen, eine Erlösung, die in liebender Annahme besteht und durchweg in den (gemeinsamen) Liebestod mündet.16

Besonders deutlich wird dies an Wagners Hauptwerk, dem „Ring des Nibelungen“. Wie immer man zu Wagner und seinem Werk steht: Der „Ring“ ist ein Werk von imposanter Größe, das die Opernwelt revolutioniert hat. Dadurch, dass sich Wagner nicht am mittelhochdeutschen „Nibelungenlied“, sondern an der Überlieferung der Edda orientiert hat, sind die historischen Hintergründe weitgehend abgeschnitten.17 Damit weitet sich der Blick von einer menschlichen Tragödie zu einem Drama von kosmischen Ausmaßen. Und entsprechend diesem Anspruch enthält Wagners „Ring“ dann eine Zeitlinie, die von der Schöpfung der Welt (die freilich nicht explizit geschildert wird, sondern nur immer wieder anklingt) bis zur „Götterdämmerung“ reicht. Diese ist allerdings nicht das endgültige Ende, dem dann – wie in der christlich-jüdischen Überlieferung18 – ein „neuer Himmel und eine neue Erde“ folgen, nein: Am Ende des „Rings“ wird der Urzustand wiederhergestellt. Die Götter, allen voran der durch und durch intrigante Göttervater Wotan, haben durch das Ende ihrer Burg Walhall und ihren Tod gebüßt, der Ring ist zu den Rheintöchtern zurückgekehrt; Riesen, Drachen und andere missliebige Kreaturen existieren nicht mehr, auch der titanische Übermensch Siegfried und der üble Schurke Hagen sind abgetreten, und der immense Schatz des Rheingolds ist nur noch eine Erinnerung. Das Zeitalter der Götter wurde durch das Zeitalter der Menschen abgelöst. Es ist nun an den Menschen, es besser zu machen. Loriot drückt dies am Ende seiner Fassung des „Rings“19 ebenso scharf- wie feinsinnig aus: „Noch bleibt uns die Hoffnung, dass unseren Göttern etwas dämmert, bevor der Vorhang fällt.“

Doch „unsere Götter“, die „Götter“ also, die Walhall ablösen – im Duktus des „Rings“ sind es keine transzendenten Gestalten mehr. Sie sind menschgemacht und unterliegen von daher auch dem menschlichen Willen und der menschlichen Kontrolle. Der Mensch, so wie er nach der Götterdämmerung in der Welt steht, ist nicht mehr der Spielball willkürlicher, zerstrittener, arroganter, sogar dummer „Götter“ (wie im „Ring“, wie in den griechischen Tragödien). Nun, nach der Götterdämmerung, ist es Sache des Menschen, die Welt nach Willen und Vorstellung zu gestalten. Mit der schlussendlichen Erkenntnis, dass der Mensch fürderhin für sein Schicksal selbst verantwortlich ist, setzt Wagner den religionskritischen Überlegungen Feuerbachs und Nietzsches im Ring eine künstlerische Krone auf. An sich ist diese Weltsicht nicht mehr auf „Götter“, nicht mehr auf Religion angewiesen. Es ist Sache des Menschen, die Welt zu gestalten und sich selbst zu erlösen.

Doch diese Linie, die sich vor allem der Religionskritik des 19. Jahrhunderts verdankt und die Wagner als überzeugten Kämpfer für die Revolution von 1848 bei der Arbeit am „Ring“ von Anfang an begleitete, hat er selbst nicht durchgehalten. Denn neben das revolutionäre Aufbegehren, das die willkürlich zuschlagenden Götter am Ende im selbstgebauten Scheiterhaufen verbrennen lässt, tritt durchgehend eine andere Linie, eine Linie, die Erlösung sucht und diese in einer weitgehend selbstgemachten Kunstreligion findet. Deshalb soll abschließend gefragt werden, wie es um das Verhältnis Wagners zum Christentum steht.

„Erlösung dem Erlöser“

Das Thema „Erlösung“ überlagert die Opern Wagners von Anfang an. So ist es auch nicht verwunderlich, dass am Ende seines Gesamtwerkes mit dem „Parsifal“ ein Werk steht, dass das Thema „Erlösung“ noch einmal breit entfaltet und zugleich auf eine religiöse Ebene hebt – eine Ebene, die sich durch ihre Symbolik und Metaphorik unverhohlen christlich gibt, die aber faktisch Ausfluss einer hochindividualisierten „Kunstreligion“20 ist. Vordergründig drückt sich diese durch christliche Versatzstücke aus: Taufe, Taube, Abendmahl, Karfreitag, der Gral, die heilige Lanze, Keuschheit und Erlösung. Diese Melange hat in der Wirkungsgeschichte dazu geführt, dass der „Parsifal“ an einigen Orten nur am Karfreitag aufgeführt wird, dass er in einer fast sakralen Stimmung rezipiert wird, dass während des Werkes und zum Teil sogar am Ende des Stückes nicht geklatscht wird, sodass man insgesamt das Gefühl hat, eher einem Gottesdienst als einer Oper beizuwohnen. Diese Rezeption war von Wagner durchaus beabsichtigt – dass der „Parsifal“ ein durch und durch religiöses Werk war, ergibt sich schon daraus, dass es sich gemäß Wagners Anweisung um ein „Bühnenweihfestspiel“ handelt, dessen Aufführungen allein Bayreuth vorbehalten sein sollten.

Sieht man allerdings hinter die Kulisse, dann findet man viel religiöses Drumherum, aber wenig wirklich christliche Substanz. Der Gral und die heilige Lanze sind zwar fest im christlichen Mittelalter verankert21 – im Neuen Testament allerdings spielen beide Gegenstände absolut keine Rolle. Und Wagner, der den „Parsifal“ erst in seinen letzten Lebensjahren vollendet hat, hätte den Stand der kritischen Bibelwissenschaft seiner Zeit durchaus kennen können. Auch sonst war er ja auf der Höhe seiner Zeit. Und für kritische Bibelauslegung spielen Reliquien, gleich welcher Art, kaum eine Rolle. Im „Parsifal“ dagegen dominiert eine Reliquiengläubigkeit, die schlicht nicht ins 19. Jahrhundert passt. Und die geschehende „Erlösung“ hat mit Weltentsagung und – im Falle Kundrys – sogar mit dem Tod zu tun. Würde jede Taufe mit dem Tod enden, hätten die Kirchen schon lange ein echtes Problem. Dazu steht die menschliche Tat – die Weltentsagung – vor der göttlichen Tat der Erlösung. Die Gnade folgt also dem Werk des Menschen nach. Christlich ist das nicht.

Das, was hier christlich erscheint, sind also letztlich Versatzstücke von Wagners Hoffnung auf Erlösung, die gleichwohl von seiner „Gemeinde“ als integrale Bestandteile einer neuen Erlösungsreligion antizipiert wurden. Ungeachtet der christlich verbrämten Stücke und der weitgehend großartigen Musik wird hier ein Mix angerührt, der schwer verdaulich bleibt.

„Running up that Hill“

Am Ende wird man nicht umhin kommen, Wagners Werke gebrochen wahrzunehmen und diese Gebrochenheit auch deutlich in Begleittexten bzw. Inszenierungen zu formulieren. Ein bloßes „Gutfinden“, eine naive Trennung zwischen Person und Werk, eine Interpretation, die nicht um die schrecklichen Folgen jedweden Antisemitismus weiß – dies sollte sich von selbst verbieten – und tut es heute in der Regel ja auch. Eine Interpretation aber, die dieser Gebrochenheit Rechnung trägt, muss m. E. möglich sein und auch genossen werden können, auch und gerade auf dem „Grünen Hügel“ in Bayreuth.


Heiko Ehrhardt, Hochelheim/Hörnsheim


Anmerkungen

1 Vier Neuerungen stechen heraus und sind unbedingt zu erwähnen: die „unendliche Melodie“, die die zuvor starre Aufteilung in Arien, Rezitative, Chöre und Erzählpassagen in durchgehende Musik auflöst, die „Tristan-Harmonik“, die den Weg in die Musik des 20. Jahrhunderts weist, die Technik der Leitmotive, die Personen, Gegenständen und Themen ein immer wiederkehrendes Motiv zuweist, und die Vorstellung vom „Gesamtkünstler“, der Text, Musik und Inszenierung in einer Hand vereint und der die vorherrschende Trennung von Librettist, Komponist und Regisseur aufhebt.

2 Zuletzt und besonders heftig bei der Düsseldorfer „Tannhäuser“-Aufführung im Frühjahr 2013.

3 Das berühmte Zitat Thomas Manns wird zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Wagner 

4 So das Fazit von Volker Ulrich in: ZEIT Geschichte 1/2013: Richard Wagner, 86.

5 Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München/Zürich 2002, 156.

6 Dies wird durch ein Zitat Gustav Stresemanns anlässlich der Festspiele 1925 verdeutlicht. Die Anwesenheit Adolf Hitlers kommentiert er: „Hat sich der Geschmack des Menschen verändert? Oder macht die Festleitung Torheiten, indem sie Politik mit Musik vertauscht und den alten Demokraten Wagner als modernen Hakenkreuzler auffrisiert?“ Zit. nach Brigtte Hamann, Winifred Wagner, a.a.O., 142.

7 Allein schon seine zahlreichen Affären passen überhaupt nicht zur NS-Familienideologie.

8 So der Titel von Wagners zentralem antijüdischen Pamphlet. Dass es sich nicht um einen einmaligen Totalausfall handelt, sondern um ein Lebensthema, zeigt schon der Umstand, dass Wagner diesen 1850 geschriebenen Text im Jahr 1869 noch einmal neu herausgegeben hat.

9 Diesen Tagebucheintrag Cosimas vom 11. Oktober 1879, zitiert Micha Brumlik in: ZEIT Geschichte 1/2013: Richard Wagner, 74.

10 Einen späten Reflex dieser doch recht hanebüchenen These habe ich vor Jahren erlebt, als sich in der Pause des „Parzifal“ eine Dame maßlos darüber erregte, dass die Rolle des Parsifal von Placido Domingo gesungen wurde, der doch kein Deutscher sei, des Deutschen auch nicht mächtig und der deshalb diese Rolle einfach nicht singen dürfe.

11 Markus Schwering zitiert im Magazin des Kölner Stadtanzeigers Nr.113 vom 17. Mai 2013, 6, eine Äußerung Wagners, wonach alle Juden in einer Aufführung von Lessings „Nathan der Weise“ verbrennen sollen. Deutlicher geht es kaum.

12 Noch einmal Markus Schwering im Magazin des Kölner Stadtanzeigers Nr.113 vom 17. Mai 2013, 6.

13 Ein beeindruckendes Beispiel dafür durfte ich an der Deutschen Oper in Berlin erleben: Götz Friedrichs Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ identifizierte den rast- und ruhelosen Holländer mit den Juden, die nach 1945 auf der Suche nach einer neuen, sicheren Heimat überall abgewiesen wurden. Als sich dann das Schiff zur schlussendlichen Erlösung auftut, verlassen deutlich als Flüchtlinge gezeichnete Männer, Frauen und Kinder mit ihrem dürftigen Gepäck das Schiff in dem Wissen, endlich im sicheren Hafen angekommen zu sein. Diese Interpretation stellt eine deutliche und akzeptable Humanisierung des Wagner’schen Werkes dar.

14 Die Besetzungspraxis in Bayreuth, wonach jüdischen Sängern, wenn überhaupt, nur die „finsteren“ Rollen (etwa Mime, Alberich, Kundry) überlassen wurden, war lange vor 1933 von Cosima Wagner eingeführt und dann von ihrem Sohn Siegfried fortgeführt worden. Damit zeigt sich indirekt, dass Adorno mit seinen Einschätzungen so falsch nicht liegt.

15 Die „Meistersinger von Nürnberg“ stellen einen Ausreißer dar, der aber auch im Mittelalter spielt und der im „Tannhäuser“ sein Gegenstück hat.

16 Abgesehen von den „Meistersingern“ überlebt bei Wagner nicht ein Liebespaar: Irene und Adriano im Rienzi, Senta und Der Holländer, Elisabeth und Tannhäuser, Isolde und Tristan, Brünnhilde und Siegfried, dazu Elsa und Kundry – ihre Erfüllung findet die (weibliche) Liebe immer erst im Opfer, im Tod. Dass Liebe Quelle des Glücks und des Lebens sein kann – Wagner hat es in seinem Privatleben gewusst, in seinen Opern aber konsequent verleugnet. Oder war er auf der Suche nach einer Liebe, die er – trotz aller Frauen, mit denen er zu tun hatte – nie gefunden hat? Und selbst bei Rienzi kann man erwägen, ob es nicht die unerwiderte Liebe des Volkes ist, die diesen das Leben kostet.

17 Der gesamte zweite Teil des Nibelungenliedes, also die Rache Kriemhilds, der mit Dietrich von Bern/Theoderich und Attila/Etzel konkret festmachbare Personen enthält, entfällt bei Wagner. Auch wenn diese historischen Zuordnungen natürlich legendarischen Charakter haben und in der Forschung hinsichtlich ihrer Aussagekraft umstritten sind, so lässt sich doch das Nibelungenlied in Zeit und Raum verorten. Es handelt sich um ein menschliches Drama, kein kosmisches.

18 Und auch die „Lieder-Edda“ und die „Snorra-Edda“ sind in der heute vorliegenden Form in ihrer Eschatologie deutlich christlich beeinflusst.

19 Loriot hat es auf sich genommen, die komplexe Geschichte des „Rings“, inklusive wesentlicher musikalischer Stücke, an einem einzigen Abend auf die Bühne zu bringen. Wer immer sich Wagner annähern will, findet hier die beste Einführung.

20 Martin Gregor-Dellin, Richard Wagner, München 1980, beschreibt Wagners Weltbild als „verkappte Religion“, die er in der deutschen idealistischen Philosophie verortet. Konsequent versteht er dann die „Wagnerianer“ als Sekte. Man muss dieser harschen Einschätzung nicht folgen, um Wagners Religion als selbstgemachte Kunstreligion zu verstehen.

21 Man beachte nur die Rolle, die die vermeintliche Auffindung der heiligen Lanze im ersten Kreuzzug hatte.