Reinhard Hempelmann

Von Gott reden in einer multireligiösen Stadt

Predigt über Apostelgeschichte 17,16-34

Liebe Gemeinde,

was heißt es, in einer multireligiösen und durch weltanschauliche Vielfalt geprägten Stadt von Gott zu reden? Davon spricht unser Predigttext. Wir lernen etwas über öffentliche Glaubenskommunikation in einem durch Skepsis und Neugierde geprägten Umfeld. Religiös-weltanschauliche Vielfalt gab es bereits vorkonstantinisch. Athen ist jedoch nicht nur eine multikulturell geprägte Stadt. Sie ist Metropole griechischer Bildung und Kultur. In der von Lukas überlieferten Predigt des Paulus begegnet das Evangelium der griechischen Weisheit. Theologie trifft auf Wissenschaft. Der christliche Glaube kommt ins Gespräch mit der philosophischen Vernunft – am Fuße der Akropolis. Politisch und ökonomisch hatte Athen bereits an Bedeutung verloren. Die Stadt war gleichwohl ein Anziehungspunkt für Wissenschaftler. Im Ranking stand Athen weit oben. In Athen studierte man, so wie heute etwa in Harvard und Cambridge.

Stoiker und Epikureer repräsentieren Optionen, die Welt zu verstehen. Bis in unsere Gegenwart lässt sich der Streit zwischen Weltdeutungen verfolgen. Regiert der Geist die Materie oder regiert die Materie den Geist? Kehren wir „nach dem Schauspiel unserer Selbstinszenierung … in den endlosen Kreislauf der Atome und Moleküle“ (Joachim Kahl) zurück? – So die atheistische Variante. Oder sind wir Teil einer geistigen Kraft, Spielball einer göttlichen, spirituellen Energie, die sich in allen Religionen und Weltanschauungen manifestiert? – So die esoterische Variante. Wie reagieren Kirchen und Gemeinden auf den spirituellen Hunger der Menschen oder auf ein religionskritisches Eiferertum? Wie viel Annäherung gegenüber anderen Religionen ist möglich, wie viel Abgrenzung ist nötig? Wann werden naturalistische Weltzugänge zum Religionsersatz? Wann wird Wissenschaft zur Religion? In der berühmten Areopagpredigt klingen drei Zugänge zur religiös-weltanschaulichen Vielfalt und zur öffentlichen Rede von Gott an.

1. Der dialogische Zugang zur religiös-weltanschaulichen Vielfalt und zur Rede von Gott

Das Brückenbauen ist wichtig. Den Athenern wird religiöser Ernst zuerkannt. Die Predigt setzt auf Kommunikation, nicht auf Konfrontation. Kreaturerfahrungen werden als Brücke ins Gespräch gebracht. Die Fürsorge des Schöpfers bezieht sich auf alle Menschen. Der Schöpfer lässt sich von seinen Geschöpfen nicht trennen. „In ihm leben, weben und sind wir.“ „Wir sind seines Geschlechts.“ Der „unbekannte Gott“ ist kein anderer als der nahe Gott, von dem der Psalmbeter sagte: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“ (Ps 139,5). Aus der Perspektive des Schöpfungsglaubens ergeben sich Möglichkeiten des Dialoges und der Begegnung. Jedem Menschen kommt als Ebenbild Gottes eine unverwechselbare Würde zu. Es gibt ein universales Wir, das nicht geteilt werden muss in „Wir“ und die „Anderen“. Alle Menschen sind von Gott geschaffen. Alle Menschen sind berufen zum Glauben, Hoffen und Lieben. Wir staunen darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Bei der Geburt eines Kindes können wir den Schöpfer auf „frischer Tat ertappen“ (nach Martin Luther). Wir erfahren als Wunder wenn uns das Leben erneut geschenkt wird, etwa nach einer besorgniserregenden Diagnose. Das Leben selbst ist ein Wunder, das uns über uns hinaus verweist. In dem Geheimnis von Sein und Nichts begegnet Gott (Gerd Theißen). In den elementaren Lebensakten ist das menschliche Ich ein empfangendes Ich. Keiner hat sich selbst geschaffen. Jedes Ich verdankt sich einem Du, ohne das es nicht leben könnte. Niemand lernt sprechen, ohne zuvor angesprochen zu werden. Niemand lernt vertrauen, ohne dass ihm zuvor Vertrauen entgegengebracht wurde. Niemand lernt lieben, ohne zuvor Liebe erfahren zu haben. Das ist die Passivität des menschlichen Selbstvollzuges (Karl Rahner). Der Mensch wird am Du zum Ich (Martin Buber).

Der Altar für den unbekannten Gott hat einer weltanschaulichen Richtung den Namen gegeben: Agnostizismus. Auf die Gottesfrage antworten Agnostiker nicht mit ja oder nein. Sie sagen: Ich weiß es nicht. Die Areopagpredigt sucht das Gespräch mit ihnen. Agnostizismus muss nicht Ausdruck von Gleichgültigkeit sein. Es kann ein anonymes Christentum in dem Sinn geben, dass Menschen eine Nähe zu Gott haben, ohne dies zu wissen. „Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt.“ Das Brückenbauen ist wichtig. Wer redend und hörend im Kontakt mit anderen steht, nimmt sie wahr, bringt ihnen Interesse und Aufmerksamkeit entgegen und kommuniziert auf Augenhöhe.

2. Der kritische Zugang zur religiös-weltanschaulichen Vielfalt und zur Rede von Gott

„Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“, sagt der Apostel gemäß der lukanischen Überlieferung. „Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte … Wir sollen nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.“

Diese philosophisch-theologische Religionskritik ist heute so nötig wie einst. Die religiöse Rede kann Gott verfehlen. Niemand kann über Gott verfügen. Gott lässt sich in kein festes Bild einfügen. Wenn wir Gott mit dem identifizieren, was wir sehen, verfehlen wir ihn. Gott ist unsichtbar. Seine Verehrung darf nicht an Äußerlichkeiten festgemacht werden. Die Verehrung des Heiligen kann zum Götzendienst werden. Jüdische, philosophisch-hellenistische und christliche Religionskritik Seite an Seite: Gottesbilder sind nicht Gott. Unterscheidungsfähigkeit ist gefragt. Zum biblisch inspirierten Gottesglauben gehören Kritik und Selbstkritik. Nicht jeder Glaube ist lebensdienlich.

Trotz Aufklärung, trotz Entzauberung – die selbstgemachten Götzen sind lebendig. Ihre Namen mögen sich ändern. Heute heißen sie: Lebenssteigerung, Selbstoptimierung, Sicherheit, Volk, Macht, Konsum, Gesundheit, Geld ..., eben „alle Dinge“, die so bestimmend und wichtig werden, dass von ihnen der Sinn des Lebens erwartet wird. „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“ (Martin Luther). „Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ (Mt 6,21). Nie waren die Götzen etwas anderes als Mittel menschlicher Existenzsicherung, geboren mal aus Angst, mal aus Hochmut. Immer verfehlten sie Gott und zugleich den Menschen. Für den Gott, von dem die biblische Tradition spricht, gab es nie zwingende Beweise. Immer war er der unverfügbare, der verborgene Gott, bis in Jesu Leben, Leiden und Sterben und Auferstehen hinein. Biblisch inspirierter Gottesglaube deckt die Zweideutigkeit von Religion auf, auch die der eigenen religiösen Praxis. Auch der Glaubende kann im Vollzug seiner Religiosität bei sich selbst bleiben oder seine Berufung zur Freiheit verleugnen und verlieren. Nirgends in der Welt können und dürfen wir uns bergen, weder in den Dingen noch in uns selbst noch in anderen Menschen. Zum christlichen Leben gehört die ständige Bewegung weg von falschen Zufluchts- und Trostorten, hin zum Schöpfer des Lebens. Wer unterwegs ist, hat das Ziel noch vor sich. Die Gottsuche trennt die Glaubenden nicht von den Nichtglaubenden.

3. Der profilierte Zugang zur religiös-weltanschaulichen Vielfalt und zur Rede von Gott

Es ist der Auftrag der Kirche, in der Öffentlichkeit von Gott zu reden. Es ist ihre Aufgabe, das Schweigen von Gott zu durchbrechen. Beides ist dazu wichtig: Hörfähigkeit gegenüber anderen und Auskunftsfähigkeit. Die christliche Gottesrede verzichtet nicht auf das Christuszeugnis. Sie erkennt im Wirken Jesu Christi die Menschenfreundlichkeit Gottes. Die Bibel selbst hält die Gottesrede im Fluss. Sie redet von Gott in vielfältigen Bildern und Geschichten. Sie bindet das von Gott zu Sagende an das Bild zurück, in dem der Schöpfer im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi verlässlich begegnet. In der Areopagpredigt ist die christliche Gottesrede mit dem Hinweis auf das Gericht und dem Umkehrruf zum Leben verbunden. Das Gericht ist die Aufrichtung der Wahrheit, die Beendigung von Täuschung, Ausdruck der Hoffnung auf Gerechtigkeit. Von Gott reden heißt den Menschen an seine Freiheit und Verantwortung erinnern.

Der Erfolg von Predigten ist nicht messbar. Die Skepsis, die Paulus nach seiner Predigt erfährt, entspricht heutigen Erfahrungen. Missverständnisse und Misserfolge lassen sich nicht vermeiden. Die Rede von Gott im öffentlichen Raum bleibt ein Wagnis. Mit der Wahrnehmung der Sehnsucht und Skepsis der Menschen fängt jede Kommunikation über die Gottesfrage an. Ohne Erkennbarkeit und christliche Profilierung bleibt sie belanglos.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

 

Anmerkungen

Reinhard Hempelmann hielt diese Predigt am 4. April 2019 in der Berliner Vorstadtkirche St. Elisabeth im Gottesdienst anlässlich seiner Verabschiedung in den Ruhestand.