Christian Ruch

Von der „Weltkommunikation“ zur „Community“

Warum leben wir in einem „Land voller Propheten“?

In einem zweiteiligen Beitrag haben sich Hansjörg Hemminger, Annette Kick und Andrew Schäfer an dieser Stelle mit dem Phänomen beschäftigt, dass die religiöse Szene immer mehr zersplittert und die Gruppen, mit denen man es in der Weltanschauungsarbeit zu tun hat, immer zahlreicher und gleichzeitig immer kleiner zu werden scheinen.1 Zu beobachten sei eine „Privatisierung und Atomisierung von Religion“, Deutschland sei inzwischen ein „Land voller Propheten“, d. h. es gebe „immer mehr Gruppen und Grüppchen ..., die sich in eher familiärer Weise um einen angeblichen Meister scharen ... Diese Gruppen umfassen weniger – manchmal weit weniger – als 100 Personen, und sie sind nur lokal oder höchstens regional aktiv.“2 Und: „Die Zeit der großen, nach außen hin geschlossenen und zumindest im Kern fanatischen Gruppen scheint abzulaufen.“3 Im Folgenden soll – sozusagen als Ergänzung – aus einer soziologischen Perspektive gezeigt werden, warum das eigentlich so ist.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass der von Hemminger, Kick und Schäfer beschriebene Trend auch andernorts beobachtet wird. So heißt es etwa im jüngsten Jahresbericht der Zürcher Fachstelle „infoSekta“: „Der Trend zu esoterisch ausgerichteten Einzelanbietern und Kleingruppen ... blieb auch 2007 ungebrochen.“4 Denn „noch ausgeprägter als in den Vorjahren zeichnet sich die Fragmentierung des Weltanschauungsmarktes ab: 82% der Anfragen betreffen kleine Vereinigungen und Einzelanbieter wie Heiler, spirituelle Medien, Lebensberaterinnen, Psychotherapeuten, esoterische ‚Akademien’, Hauskreise, Persönlichkeitscoachs, selbsternannte Propheten u. a. Es handelt sich dabei oft um Anbieter, zu denen die Ratsuchenden kaum kritische Unterlagen im Internet finden und sich daher eine Stellungnahme der Fachstelle wünschen.“5

Geht man davon aus, dass auch kleine esoterische und neureligiöse Zirkel soziale Systeme sind und soziale Systeme in erster Linie aus Kommunikation bestehen – wohlgemerkt: aus Kommunikation, nicht aus Menschen!6 –, scheint es sinnvoll, die veränderten Kommunikationswege und -bedingungen zu betrachten, um zu verstehen, warum sich die religiöse Szenerie auf die genannte Weise verändert. Und weil ich glaube, dass die neuen Kommunikationsmedien wie das Internet die Kommunikation und damit die Struktur sozialer Systeme in einem Maße beeinflussen und verändern werden, dessen Dimension wir noch gar nicht richtig abschätzen können, ist es unumgänglich, sich mit dem Phänomen der sogenannten „Weltkommunikation“ zu befassen.

Was bedeutet Weltkommunikation?

Leitmedium der Weltkommunikation ist das Internet. Es degradiert die anderen Medien immer mehr zu Medien zweiter Ordnung, da man heute fast jede Zeitung im Internet lesen, dort auch fast jeden Radiosender hören und beinahe alle Fernsehsendungen abrufen kann – und dies oft gratis und nahezu unabhängig vom Zeitpunkt und Ort des Erscheinens bzw. der Ausstrahlung. Das Internet ermöglicht also eine Kommunikation jenseits von Zeit und Raum: Doch wenn die Zeit und vor allem der Raum an Bedeutung verlieren, hat dies Konsequenzen für unsere Weltwahrnehmung. Herbert Marshall McLuhan brachte dies auf die schöne Formel vom „global village“: Wie in einem Dorf kennt jeder jeden (oder meint ihn zu kennen), und es können (zumindest im Prinzip) alle mit allen kommunizieren. Doch das Ganze hat auch eine Kehrseite: Genauso wie die Entfernungen der „realen“ Welt auf die Größe eines virtuellen Dorfes zusammenschrumpfen, verflüchtigt sich die „reale“ Nähe. „Kommunikation in die Ferne gelingt immer besser – Nahkommunikation wird immer schwieriger“, schrieb der deutsche Medienphilosoph Norbert Bolz.7

Die Folge: Die Welt zerfällt bzw. die Kommunikation zentriert sich in „tribes“ und „communities“, also Stämme und kleine Gemeinschaften, in denen nicht mehr eine traditionelle soziale und räumliche Gebundenheit die Zusammengehörigkeit definieren, sondern zeitweilig geteilte gemeinsame Interessen und Anliegen. Das Internet lässt also Gemeinschaft jenseits räumlicher Begrenzung entstehen – zumindest für eine gewisse Zeit. Denn das ist der entscheidende Unterschied zu traditionellen Sozialbeziehungen: Während die Zugehörigkeit zu familialen und territorialen Strukturen die Menschen über lange Lebensabschnitte prägt – man ist ein Leben lang Deutscher und in der Regel sehr lange in Familienbeziehungen, etwa zu Geschwistern und Eltern, gebunden –, ist die Bindung an einen „tribe“ oder eine „community“ zeitlich begrenzt, und dies in doppelter Hinsicht: Einerseits nimmt die Zugehörigkeit zu einer „community“ in der Regel nur einen gewissen Lebensabschnitt in Anspruch (im Freizeitclub für Singles ist man nur bis zur nächsten Partnerschaft), zum andern bezieht sich die „community“ meistens nur auf einen gewissen Lebensbereich, bindet also keinen allzu großen Teil an Lebenszeit, so dass man auch noch Zeit für anderes hat – und sei es für die Teilhabe an anderen „tribes“ und „communities“.

Bevorzugter Ort der „community“ ist die Newsgroup im Internet, wobei die ernsthafte Forendiskussion und der lustvolle Chat als bevorzugte Konversationsmedien dienen, letzterer vergleichbar dem früheren Tratsch auf dem Markt- oder Dorfplatz.

Diese Tribalisierung, d. h. der Aufbau interessengeleiteter „Stämme“ ist also nicht zu unterschätzen und wird wohl immer wichtiger. Denn wahrscheinlich ist sie sowohl Ausdruck als auch Kompensation für die „placeless society“, die ortlose Gesellschaft, in der wir leben. Wo Staaten und Sozialgefüge bedeutungslos werden oder sogar zu verschwinden drohen – man denke etwa an das allmähliche Verlöschen der ganz „normalen“ mitteleuropäischen Kleinfamilie! – schlägt die Stunde der „tribes“ und „communities“. „Community“ – so der bereits erwähnte Norbert Bolz – „signalisiert Nestwärme, Menschlichkeit, überschaubare Verhältnisse, Tradition, Zugehörigkeit.“8 Die gemeinsame Wanderung am Sonntag wird vom urbanen Single mangels Partner und Kinder nicht mehr spontan am familiären Frühstückstisch geplant, sondern man verabredet sich schon Tage vorher im Internet, geht dann zusammen wandern, genießt also die „reale Nähe“ unter „realen“ Menschen und geht am Sonntagabend wieder auseinander, zurück in eine schützende Distanz.

Überforderung durch Kontingenz

Die Sehnsucht nach „realer“ Nähe scheint der vorhin erhobenen Behauptung, dass das „global village“ diese „reale“ Nähe verschwinden lasse, zu widersprechen. Doch dem ist nicht so: Gerade weil die Gesellschaft die „reale“ Nähe immer weiter einschränkt, wird sie gesucht, sei dies nun virtuell im Internet oder in einem Austausch von Angesicht zu Angesicht. Die Nähe als Kompensation für die „placeless society“ verhindert allerdings nicht, dass die Weltkommunikation überfordert. Denn wenn ich theoretisch mit allen kommunizieren kann, muss ich eine Auswahl treffen. Aber wie und nach welchen Kriterien? „Weltkommunikation eröffnet eine Optionsvielfalt, die in keinem Verhältnis zu unseren Zeitressourcen steht“ (Norbert Bolz).9 Hinzu kommt, dass sich die jeweilige Entscheidung erst später als richtig oder falsch erweisen wird – wer sich tatsächlich schon einmal auf Partnersuche im Internet begeben hat, kann ein Lied davon singen. So zeichnet sich die postmoderne Weltgesellschaft, die auf Weltkommunikation basiert, durch zwei Erscheinungen aus: Komplexität und Kontingenz. Was ist damit gemeint?

Das Leben vieler Menschen ist zu einer undurchschaubaren „black box“ geworden, was nicht zuletzt daran liegt, dass in vielen Bereichen keine sozialen Leitplanken mehr existieren, die Orientierung gewährleisten könnten. So haben beispielsweise die heute Vierzigjährigen eine Erwerbs- und Partnerschaftsbiographie, die sich von jener ihrer Eltern grundlegend unterscheidet, und sie können sich deshalb nicht mehr an den Lebensentwürfen voriger Generationen anlehnen. Es gilt sich zurechtzufinden im Multioptionsdschungel und aus einer unendlich scheinenden Vielzahl von Möglichkeiten auszuwählen. In der Soziologie nennt man diese Vielzahl von Möglichkeiten Kontingenz. Und wie der verstorbene Bielefelder Systemtheoretiker Niklas Luhmann zeigen konnte, steigt diese Kontingenz parallel zur zunehmenden Komplexität der Gesellschaft. Um es an einem Beispiel darzustellen: Ein an den Hof, die Sippe und die Leibeigenschaft gebundener Bauer des Mittelalters hatte einen Bruchteil der Wahl- und Entscheidungsfreiheit, aber auch natürlich der Wahl- und Entscheidungszwänge im Vergleich zum urbanen, mobilen Single des 21. Jahrhunderts. Dem Single geht es deshalb aber nicht notwendigerweise besser als seinem mittelalterlichen Vorfahren, denn diese zunehmende Kontingenz überfordert. Und weil sie dies tut, strebt der Mensch nach Kontingenzreduktion. Die unüberschaubare Vielzahl der Entscheidungsmöglichkeiten soll reduziert werden, und neue religiöse Gruppierungen bzw. die Esoterik bieten scheinbar eine ganze Palette von solchen Mitteln zur Kontingenzreduktion, sei dies nun (um nur einige Beispiele zu nennen) Astrologie, Tarot, Channeling, Hellsehen, Pendeln, Marienbotschaften oder die „Technologie“ eines L. Ron Hubbard. Durch sie scheint das Unberechenbare im wahrsten Sinne des Wortes berechenbar zu werden, denn auf der Grundlage von Botschaften vermeintlich göttlicher oder zumindest höherer, klügerer und weiserer Wesen scheinen plötzlich Signale zu existieren, durch deren Beachtung sich die Weichen für die Fahrt in die Zukunft scheinbar risikolos (oder zumindest risikoloser) stellen lassen.

Es lässt sich beobachten, dass es durch die Inanspruchnahme solcher Mittel zur Kontingenzreduktion vor allem in den hochkontingenten Lebensbereichen Partnerschaft, Gesundheit und Beruf zum Versuch kommt, die Komplexität zu reduzieren. Denn die Kontingenz dieser Lebensbereiche ist deshalb so hoch, weil es nicht nur eine unüberschaubare Vielzahl von Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt, sondern die Gestaltung dieser Lebensbereiche von Faktoren mitbestimmt wird, die sich dem eigenen Einfluss entziehen: Das Gelingen einer Liebesbeziehung hängt nicht zuletzt vom kontingenten Verhalten des Partners ab, beruflicher Erfolg von kontingenten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie vom ebenfalls kontingenten Verhalten des Chefs – der immer auch anders kann! –, und auch die Gesundheit lässt sich nur zu einem Teil beeinflussen. Es überrascht also nicht, dass angesichts dieses hohen Kontingenzdrucks gerade in diesen Bereichen Medien und Meister, Gurus und Scharlatane kontaktiert werden, um sich Lebenshilfe, die also wie gesagt in erster Linie Entscheidungshilfe ist, zu holen.

Das Fatale daran ist, dass die Entscheidung für das jeweilige Mittel, die Kontingenz zu reduzieren, selbst höchst kontingent ist. Wer sich schon mit Hilfe von Google oder einer anderen Suchmaschine auf die Suche nach Informationen begeben hat, weiß, dass man manchmal verzweifeln kann: Selbst zu den exotischsten Dingen landet man Tausende von Treffern, aus denen man dann wieder auswählen muss – Kontingenz und Komplexität also auch hier. „Weniger wäre mehr. Man kann nicht alles wissen wollen, was man wissen könnte“, so Norbert Bolz.10 Dieser Umstand verlangt nach Selektion: Ich muss wissen und vor allem entscheiden, was ich wissen will.

Fassen wir zusammen. Weltkommunikation heißt:

• Kommunikation jenseits von Raum und Zeit;

• „Tribes“ und „communities“ ersetzen zunehmend traditionelle Sozialformen;

• Überforderung durch Komplexität und Kontingenz;

• Zwang zur Selektion.

Was heißt das für die Religion?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass alle Religion eine Strategie zur Kontingenzbewältigung und -reduktion ist. Das unwägbare Schicksal des Lebens soll durch die Bindung an eine höhere Macht ein wenig von seinem Schrecken verlieren oder sogar – man denke an den Bereich des Okkultismus und der Magie – beeinflussbar werden. Das gelingt natürlich nur zu einem ganz geringen Teil, d. h. alle Religiosität schützt nicht vor den Wechselfällen des Lebens (auch wenn in vielen religiösen Gruppierungen bisweilen das Gegenteil behauptet wird). „Die Religion“, so Niklas Luhmann, „sichert heute weder gegen Inflation noch gegen einen unliebsamen Regierungswechsel, weder gegen das Fadwerden einer Liebschaft noch gegen wissenschaftliche Widerlegung der eigenen Theorien“.11 Dem Christentum gelang es immerhin, durch die Vorstellung von einem personalen Gott die unbestimmte in eine bestimmbare Kontingenz zu transformieren. „Die Kontingenz und Selektiertheit der Welt selbst aus einer Vielzahl anderer Möglichkeiten wird akzeptierbar, weil in Gott zugleich die Garantie der Perfektion dieser Selektion liegt“, schrieb Luhmann an anderer Stelle.12 Man weiß nun also wenigstens, wen man für sein Unglück verantwortlich machen kann. Dass damit neue Probleme auftauchen, liegt auf der Hand (Stichwort: Theodizee-Problem).

Außerdem hat die Weltkommunikation den Selektionszwang längst auch in die Sphäre des Glaubens eindringen lassen, der damit selbst kontingent geworden ist. Früher war es noch einfach: Da ging man zum Pfarrer, wenn man nicht weiterwusste und Rat brauchte. Heute gilt es, sich erst einmal durch den Dschungel esoterischer, spiritueller und neureligiöser Methoden und Lehren zu kämpfen und auszuwählen, was einen anspricht – nota bene ohne dann schon zu wissen, was „hilft“ und was eher schädlich ist! Die Globalisierung der Spiritualität gewährt durch die Möglichkeiten der Weltkommunikation unendlich viele Möglichkeiten, die Kontingenz und Komplexität des Lebens zu reduzieren – und erhöht sie dadurch nur noch; auch hier also Kontingenz und Komplexität. Früher war ein Krebskranker auf Gedeih und Verderb den ihn behandelnden Ärzten seiner Region ausgeliefert – heute verfügt wohl fast jeder philippinische Geistheiler über seine eigene Homepage bzw. E-Mail-Adresse und konkurriert mit den heimischen Ärzten um Aufmerksamkeit und Zubilligung von Kompetenz.

Es gilt daher auszuwählen zwischen einer unübersichtlichen Vielzahl von Kirchen, Kulten, „Sekten“ und Ritualen, die sich auch scheinbar mühelos kombinieren lassen. Damit ist das konfessionelle Zeitalter, das mit der Glaubensspaltung (16./17. Jahrhundert) seinen Anfang nahm, definitiv zu Ende. Dieser Prozess setzte übrigens nicht erst mit den „Jugendreligionen“ und dem Esoterik-Boom Ende der 70er Jahre ein, sondern bereits im 19. Jahrhundert, als die Umbrüche im Zuge der Industrialisierung soziale Gefüge brüchig werden ließen und so eine Individualisierung einsetzen konnte, die sich nicht zuletzt in abweichendem religiösen Verhalten niederschlug. Die damals neu entstandenen Glaubensgemeinschaften wie Mormonen oder Adventisten sind Beispiele für diesen Prozess. Heute hat sich die Entwicklung noch intensiviert, denn zur Entstehung neuer religiöser Gruppierungen kommt es nun auch, weil solche „Neubildungen ... auf unterschiedliche Situationen reagieren und auf unterschiedliche Gründe für Widerstand gegen das, was die moderne Gesellschaft an Formen moderner Leben nahe legt“13 – religiöser Pluralismus sozusagen als Antwort auf die zahlreichen Zumutungen der Moderne und der Weltkommunikation.

Heute treiben die daraus resultierende Kontingenz und die Verpflichtung zur Selektion im religiösen Bereich Blüten, die für frühere Generationen unvorstellbar gewesen wären: Zum Beispiel kann man mittlerweile scheinbar problemlos Christ und Buddhist sein. Dass heute immer noch viele Menschen formal Mitglied einer Landeskirche sind, darf nun nicht den tröstenden Eindruck erwecken, dass es mit der religiösen Kontingenz und Selektion so schlimm schon nicht sei. Eine Schweizer Untersuchung brachte es sehr deutlich auf den Punkt: „Das Bekenntnis einer Person zu einer Kirche oder einer anderen religiösen Gemeinschaft zeugt weder von der exklusiven Loyalität gegenüber dieser Gruppierung, noch davon, dass die Glaubensinhalte der angegebenen Gruppierung bekannt sind und gelebt werden.“14

Doch woran liegt das? Die technischen Möglichkeiten der Weltkommunikation sind sicher eine Ursache dafür – man reist zu den Gurus oder die Gurus reisen zu uns, und wenn das nicht geht, kommuniziert man mit ihnen eben via Internet. Doch neben diesen technischen Möglichkeiten ist es vor allem die Säkularisierung, die für den Multioptionsdschungel des Religionsmarktes verantwortlich ist. Mit der gängigen Definition von Säkularisierung als Zurückdrängung des Religiösen aus den gesellschaftlichen Teilbereichen lässt sich allerdings nicht erklären, warum es gleichzeitig zur viel beschworenen Renaissance des Religiösen kommen kann. Diesem scheinbaren Widerspruch entgeht man, wenn man sich Niklas Luhmanns Säkularisierungsdefinition zu eigen macht, derzufolge Säkularisierung als die gesellschaftliche Folge einer „Privatisierung religiösen Entscheidens“15 zu begreifen ist. „Für den Religionsbereich bedeutet Privatisierung, dass die Beteiligung an geistlicher Kommunikation (Kirche) ebenso wie das Glauben des Glaubens zur Sache individueller Entscheidung wird, dass Religiosität nur noch auf der Grundlage individueller Entscheidungen erwartet werden kann und dass dies bewusst wird. Während vordem Unglaube Privatsache war, wird jetzt Glaube zur Privatsache“ und „auf Institutionalisierung des Konsenses verzichtet“.16

Auf der Grundlage dieser Definition lässt sich leicht verstehen, warum es mit der Zurückdrängung der Religion aus den gesellschaftlichen Teilbereichen und der Renaissance des Religiösen zu zwei gleichzeitig ablaufenden, aber gegenläufigen Entwicklungen kommt:

• „Das Religiöse wird privat“ bedeutet, dass der individuelle Religionsvollzug immer weniger von nicht-privaten Institutionen bestimmt werden kann (nota bene auch und gerade nicht von der Kirche!), ja dass man sich die Einflussnahme dieser Institutionen sogar explizit verbittet.

• Gleichzeitig wird aber auch das Private religiös, d. h. dass religiöse Momente zwar im gesellschaftlichen Kontext an Bedeutung verlieren, im individuell-persönlichen Bereich aber an Bedeutung gewinnen (und sei es nur, indem man die Gestaltung des Schlafzimmers als locus privatissimus an den Gesetzen des Feng Shui ausrichtet).

Somit ist die Paradoxie, dass die Kirchen Mitglieder verlieren und die Gottesdienste immer schlechter besucht sind, die Menschen aber gleichzeitig Religion wieder- oder sogar neu entdecken, nur ein scheinbarer Widerspruch. „Unter Religionssoziologen gilt heute als ausgemacht, dass man zwar von ‚Entkirchlichung’ oder ‚De-Institutionalisierung’ oder auch von Rückgang des organisierten Zugriffs auf religiöses Verhalten sprechen könne, nicht aber von einem Bedeutungsverlust des Religiösen schlechthin.“17 Damit ist auch nachvollziehbar, warum sich die religiöse Landschaft immer mehr individualisiert und ausdifferenziert: Wenn mir niemand mehr in meine Weltanschauung hineinredet, kann ich sie problemlos, d. h. nach eigenem Belieben mit den unterschiedlichsten Versatzstücken versehen.

Die Konsequenzen sind – vor allem für die Kirchen – ebenso weitreichend wie fatal: Denn wenn Religion nur noch Privatsache ist, gelangt sie „in den gegen Arbeit abgegrenzten und dadurch bestimmten Bereich der Freizeit“ (Niklas Luhmann).18 Das heißt: Die religiösen Angebote konkurrieren nicht nur untereinander, sondern müssen sich auch noch gegen andere Möglichkeiten der Freizeitgestaltung behaupten. Warum die feierliche Osternachtsmesse am Wohnort besuchen, wenn das lange Wochenende zu einem Kurzurlaub im Tessin einlädt? Oder auch: Warum den sonntäglichen Gottesdienst besuchen, wenn man endlich einmal ausschlafen kann? Einige Gemeinden, vor allem im freikirchlichen Segment, versuchen diesen Konkurrenzdruck dadurch zu entschärfen, dass Religion und Freizeit kombiniert werden. Ein schönes Beispiel dafür bietet die charismatisch ausgerichtete Jugendkirche „International Christian Fellowship“ (icf), die regelmäßig sehr aufwendige Freizeit- und sogar Urlaubsangebote im Programm hat.19

Doch wenn die Religion quasi zur Freizeitbeschäftigung degradiert wird, bedeutet dies implizit auch, dass man problemlos ohne Religion leben kann. Während die Menschen der westlichen Welt gezwungen sind, an gesellschaftlichen Teilsystemen wie Recht, Bildung oder Wirtschaft teilzuhaben, gilt dies für die Religion gerade nicht. Das hat zur Konsequenz, dass sich Religion heute nicht mehr nur gegen andere Religionen im Sinne einer spirituellen Konkurrenz wehren muss, sondern gegen Gleichgültigkeit und Desinteresse. Wie dramatisch der Bedeutungsverlust etwa der katholischen Kirche in den gesellschaftlichen Milieus der Bundesrepublik geworden ist, hat kürzlich erst die sehr ernüchternde Sinus-Studie zutage gefördert.20

Fassen wir nochmals zusammen. Religion im Zeitalter der Weltkommunikation heißt:

• Religion als Mittel zur Kontingenzreduktion wird selbst kontingent;

• diese Kontingenz in Form der Globalisierung von Spiritualität zwingt zur Selektion;

• Religion wird privatisiert und Privates religiös, d. h.

• Religion wird auf eine Freizeitbeschäftigung reduziert und konkurriert mit anderen Freizeitangeboten.

Konsequenzen für das Spektrum der Sondergemeinschaften und der neuen religiösen Bewegungen

Auch das Spektrum der Sondergemeinschaften und der neuen religiösen Bewegungen ist, wenn nicht alles täuscht, dem Individualisierungs-, Differenzierungs- und Privatisierungsprozess unterworfen. Große Sondergemeinschaften wie die Neuapostolische Kirche oder die Zeugen Jehovas scheinen langsam aber sicher vor ähnlichen Problemen zu stehen wie die beiden großen Kirchen: Festzustellen sind Ermüdung, Lustlosigkeit und in Folge sinkende Mitgliederzahlen. Zwar ist die Immunisierung der eigenen Anhänger gegen unerwünschtes kontingentes Verhalten noch immer hoch, doch scheinen sich erste Risse im Beton bemerkbar zu machen, denn interessanterweise hat dieser Trend selbst jene Organisationen erfasst, die von ihren Mitgliedern noch vor wenigen Jahren problemlos Disziplin einfordern konnten. Bereits 2003 registrierte die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) bei den Zeugen Jehovas und der Neuapostolischen Kirche eine rückläufige Mitgliederentwicklung in Westeuropa.21 Letztere gesteht dies übrigens auch freimütig ein; so berichtete „Unsere Familie“, die Mitgliederzeitschrift der Neuapostolischen Kirche, über die abnehmenden Mitgliederzahlen in der Schweiz: Gemeinden „werden kleiner, oft fehlt es an Amtsträgern“. Ein Grund dafür sei „der Wunsch nach mehr Freizeit“.22 Diese Formulierung verrät, dass man die religiöse Praxis (noch) nicht als Teil der Freizeit betrachtet (vielleicht auch nicht betrachten kann oder will), doch immerhin hat man begriffen, dass die Kirche gegen andere Freizeitaktivitäten konkurrieren muss und dabei nicht selten den Kürzeren zieht.

Die genannten Gemeinschaften weisen zwar mitunter immer noch beachtliche Zuwachsraten auf, dies aber vor allem in osteuropäischen Staaten und in der sogenannten „Dritten Welt“. Das ist eigentlich auch nicht weiter erstaunlich – denn je mehr diese Regionen Anschluss an die Moderne und die Weltkommunikation finden, desto mehr stellt sich in ihnen auch das Phänomen neuer religiöser Bewegungen ein. Man könnte sogar – wie Niklas Luhmann dies getan hat – die These vertreten, dass das Auftauchen neuer religiöser Bewegungen Ausdruck eines Modernisierungsprozesses ist. „Es kommt zu neu entstehenden Kulten, neuen Formen des Aberglaubens und religiösen Bewegungen, die aber nur subkulturelle Bedeutung gewinnen und im Partikularen verharren. Erst jetzt entsteht eine für ältere Gesellschaften undenkbare Differenzierung nach Hochreligion und Subkultur innerhalb des Religionssystems.“23 Die Entstehung der großen Sondergemeinschaften im 19. Jahrhundert scheint dies ebenso zu bestätigen wie ein Blick ins Mittelalter, in dem es zwar hin und wieder zeitlich und regional begrenzte häretische Bewegungen gab, aber längst nicht eine so ausgeprägte und vor allem permanente religiöse Vielfalt wie heute.

Interessant an Luhmanns Analyse ist die Feststellung, dass die neuen religiösen Bewegungen „nur subkulturelle Bedeutung gewinnen und im Partikularen verharren“. Damit erfüllen sie das, was zuvor als „community“ beschrieben wurde: ein freiwilliger Zusammenschluss Gleichgesinnter, für viele auch nur ein Zusammenschluss auf Zeit, wobei es allerdings nur zu einem begrenzten Wachstum kommen kann, da eine „community“, um erfolgreich zu sein, gar nicht über ein gewisses Maß hinaus wachsen darf. Nur so lässt sich gewährleisten, dass der Religionsvollzug privat bleiben kann, was für viele wie gesagt zur Bedingung für die Akzeptanz von Religion geworden ist. Andererseits wird durchaus ein gewisser, wenn auch niederschwelliger Organisationsgrad benötigt, denn das Praktizieren der individuellen Religion tendiert zur Bestätigung durch Gleichgesinnte – dies schon deshalb, weil in der heute feststellbaren Patchwork-Religiosität meist auch ein Quantum Unsicherheit mitschwingen dürfte, zumindest im Vergleich zu jenen, die einer kirchlichen Orthodoxie folgen. Man darf nicht vergessen: „Bewusstseinszustände, ob auf Erleben oder Handeln bezogen, sind immer individuell und instabil.“24 Niklas Luhmann spricht daher vom Bedürfnis nach „punktuellen sozialen Stützpunkten“, also etwa „Selbstfindungsseminare, Informationsblätter oder Freundschaftsgruppen mit ähnlichen Präferenzen. Man könnte ... von schwacher Institutionalisierung sprechen.“25 Denn „Gleichgesinntheit ist in der modernen Gesellschaft eine Ausnahmeerscheinung, eine überraschende, eine erfreuliche Erfahrung, die den Einzelnen dazu führen kann, sich einer Gruppe anzuschließen, in der man mit Wiederholung dieser Erfahrung rechnen kann.“26 Im „realen“ Leben findet also etwas Ähnliches statt wie in der virtuellen Welt des Internets: Die traditionelle Sozialform (in diesem Falle der Religion), also Kirchen, große Sondergemeinschaften, klassische Sekten, weicht der Tribalisierung in Gestalt kleiner „communities“ – also genau dem, was von Hemminger, Kick und Schäfer so zutreffend beschrieben wurde.

Man sollte sich trotz eines zweifellos vorhandenen Problem- und Konfliktpotenzials in solchen Grüppchen vor einer generalisierenden Dramatisierung hüten. Denn bei der Zuwendung zu einer „Community“ handelt es sich meistens eben „nicht mehr um ein erschütterndes Großereignis im Stile Saulus/Paulus, das von außen kommt und auf die gesamte Lebenslage durchgreift ..., sondern um eine individuelle Entscheidung, sich auf ein Angebot einzulassen ... Konversion ist in dieser Form nicht mehr Statusveränderung, sondern folgt eher dem Typus einer (geglückten oder missglückten) Karriere ...“, so Niklas Luhmann.27

Zum Schluss eine vielleicht gewagte Prognose: Ich denke, die Zeit der Großorganisationen ist tatsächlich vorbei. Ich glaube sogar, dass Organisationen wie etwa die Zeugen Jehovas – zumindest in der Form, wie wir sie heute kennen – langfristig gesehen „Auslaufmodelle“ sind, weil sich ihre kaum vorhandene ideologische Flexibilität als zunehmend inkompatibel mit den Erfordernissen der Weltkommunikation erweisen wird und sie durch ihren hohen Leistungsdruck auch das wachsende Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Privatleben bzw. einem selbstbestimmten und selbstdefinierten privaten Vollzug der Religiosität ignorieren. Vor uns liegt eine völlig unübersichtliche, fragmentierte Religionslandschaft, also tatsächlich wohl ein „Land voller Propheten“. Für die Beratungs-, Beobachtungs- und Präventionsarbeit sind dies keine guten Aussichten, denn sie dürfte damit in Zukunft einen Schwierigkeitsgrad bekommen, den wir uns jetzt noch kaum vorstellen können.


Christian Ruch, Chur / Schweiz


Anmerkungen

1 Hansjörg Hemminger / Annette Kick / Andrew Schäfer, Ein Land voller Propheten. Neureligiöse und spirituelle Kleingruppen um Medien, Gurus und erleuchtete Meister, in: MD 5/2008, 163-173, sowie MD 6/2008, 203-212.

2 Ebd., 164ff.

3 Ebd.

4 InfoSekta-Jahresbericht 2007, 5.

5 Ebd., 17.

6 Gerade diese Sichtweise macht wohl eine der Schwierigkeiten der Systemtheorie von Niklas Luhmann aus. Siehe dazu Niklas Luhmann, Soziale

Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1987, 288f.

7 Norbert Bolz, Weltkommunikation, München 2001, 34.

8 Ebd., 39.

9 Ebd., 54.

10 Ebd., 77.

11 Zit. nach Walter Reese-Schäfer, Luhmann zur Einführung, Hamburg 1996, 147.

12 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1996, 131f.

13 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2002, 272.

14 Claude Bovay in Zusammenarbeit mit Raphaël Broquet, Eidgenössische Volkszählung 2000: Religionslandschaft in der Schweiz, Neuchâtel 2004, 99. Dieser Befund dürfte auch für Deutschland gelten.

15 Luhmann, Funktion der Religion, a.a.O., 232.

16 Ebd., 238f.

17 Luhmann, Religion der Gesellschaft, a.a.O., 279.

18 Luhmann, Funktion der Religion, a.a.O., 239.

19 www.icf.ch/church-life/camps.html (9.5.2008).

20 Siehe dazu http://kirchensite.de/index.php?myELEMENT=126479 (21.4.2008).

21 Siehe dazu Andreas Fincke, Zurückgehende Mitgliederzahlen, in: MD 7/2003, 269ff.

22 Die Zukunft hat begonnen. Gebietsreform im westlichen Teil der Schweiz, in: Unsere Familie 5/2008, 30.

23 Luhmann, Funktion der Religion, a.a.O., 48.

24 Luhmann, Religion der Gesellschaft, a.a.O., 296.

25 Ebd., 294f.

26 Ebd., 295.

27 Luhmann, Religion der Gesellschaft, a.a.O., 297.