Philipp Kohler

Verkaufsstrategien in der Esoterik-Szene

Analyse eines Vortrags bei den Esoterik-Tagen in Stuttgart

Die „Esoterik-Tage Stuttgart“ feiern 30-jähriges Jubiläum: ein guter Grund für einen Besuch vor Ort. Dieser Bericht1 bietet neben grundsätzlichen Informationen zu den Esoterik-Tagen hauptsächlich Beobachtungen und Überlegungen zu den spezifischen Verkaufs- und Überzeugungsstrategien der Esoterik-Szene2.Anhand einer kommunikativ-rhetorischen Perspektive3 wird exemplarisch der Verlauf eines Vortrags4 untersucht. Einerseits, so die These, werden dort von der Form her allgemein anerkannte, für Verkaufsgespräche typische kommunikativ-rhetorische Strategien eingesetzt. Andererseits wird in deren inhaltlicher Füllung und der Deutung der Welt auf ein der Esoterik-Szene eigenes Referenz- und Überzeugungssystem rekurriert.

Die Esoterik-Messe in Stuttgart

Unter dem Thema „Spiritualität & Heilen“ wurde am 7./8. Oktober 2017 in die Liederhalle in Stuttgart geladen.5 Wie für eine Esoterik-Messe üblich, lag der Fokus auf dem Verkauf von Produkten und Dienstleistungen, die hauptsächlich als Heilungs-, Lebenshilfe- oder Wellnessangebote präsentiert wurden.6 Veranstalterin war die Münchner „Eso-Team Messe- und Kongress GmbH“ (Geschäftsführer: Franz Prohaska), die jedes Jahr im Frühjahr und Herbst in diversen Städten in Deutschland und Österreich Esoterik-Messen anbietet.7 Auch wenn es sich dabei nur um acht bzw. sechs Messestandorte handelt, gehören die Esoterik-Tage zu den größten Esoterik-Messen im deutschsprachigen Raum.8 Die „Esoterik-Tage Stuttgart“ gehören dabei zu den kleineren Veranstaltungen.9 Während meines Aufenthalts befanden sich durchgängig ca. 100 Besucher im Messebereich. Ein Großteil davon besuchte die stündlich stattfindenden Vorträge.

Der Erfolg der Branche

Die Esoterik-Branche boomt. Laut Schätzungen werden zwischen 15 und 25 Milliarden Euro im Jahr umgesetzt, Tendenz stark steigend.10 Wie hoch der Umsatz tatsächlich ist, kann wohl niemand genau sagen. Denn trotz der marktförmigen Strukturierung der Branche11 gibt es kaum Transparenz: Wer wovon wie viel und für wie viel Geld verkauft, bleibt verborgen. Es gibt keine Global Player, die ihre Umsatzzahlen in einem Geschäftsbericht o. Ä. offenlegen müssen. Die Szene besteht mehrheitlich aus kleinen Anbietern, die ihre Produkte größtenteils auf Messen und im Internet an ein kleines, treues und wohlgesinntes Publikum verkaufen. Das geschieht oft unauffällig, aber erfolgreich und mit gewaltiger Gewinnmarge.

Der Erfolg der Branche hat viele Ursachen.12 Ein zentraler Faktor ist zweifelslos die Art und Weise des Produktverkaufs. Wie dieser konkret aussehen kann, sollen die folgenden Beobachtungen schildern. Als Grundlage dient der Vortrag „Aura sehen kann jeder! Auch du! Mit Livedemonstrationen!“ von Diana Wuttke, Geschäftsführerin der Firma RodiaVital13 und Generalvertrieblerin der „Phi-Lambda-Technology“14 in Deutschland.15 Der Vortrag kann in drei Phasen gegliedert werden: Phase der Aufmerksamkeitserzeugung, erste und zweite Verkaufsphase.

Phase der Aufmerksamkeitserzeugung

Diana Wuttkes erster Schritt bestand darin, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Denn so trivial es auch ist: Etwas verkaufen kann sie nur dann, wenn auch jemand zuhört.16 Bei den Esoterik-Tagen hatten die Anbieter zusätzlich zu der Standwerbung auch noch die Möglichkeit, einen Platz im parallel stattfindenden Vortragsprogramm zu erwerben. Da allerdings immer drei Vorträge gleichzeitig stattfanden, war das noch keine Garantie für Publikum.

Für Diana Wuttke bestand also die Herausforderung darin, das Vortragsthema so interessant wie möglich zu gestalten. Mit dem Schlagwort „Aura-Sehen“ und dem Verweis auf praktische Übungen hat sie einerseits geschickt ein in der Szene anerkanntes und beliebtes Thema angesprochen und andererseits die primäre Motivation der Besucher aufgegriffen, praktische Lebenshilfe zu erfahren. Beim Vortragsbeginn musste sie darauf achten, diese Erwartungen auch zu erfüllen. Nur so konnte sie Interesse, Wohlwollen und Glaubwürdigkeit erzeugen bzw. aufrechterhalten. Ein Verweis auf den beabsichtigten Verkauf ihres Produkts, des Aura-Balance-Akkus, wäre an dieser Stelle vermutlich kontraproduktiv gewesen.

Erste Verkaufsphase

Der Vortrag begann informativ und praktisch, zuweilen auch humoristisch. In der Einleitung wurde versichert, dass man erfahre, was eine Aura sei, wie sie entstehe, wie man sie sehen und letztlich auch beeinflussen könne. Die Besucher hatten die Möglichkeit, eigene Erfahrungen und Fragen einzubringen. Und so stellte sich schnell heraus: Nur wenige waren bisher in der Lage, eine Aura zu sehen, und falls doch, dann meist nur in weißen Umrissen.

An dieser Stelle bewies Diana Wuttke Geschick: Bevor eine Besucherin sagen konnte, dass es sich um eine weiße Aura handle, warf Wuttke dies bereits ein. Damit ging sie ein gewisses Risiko ein, denn nicht immer tritt dieser Effekt zuerst auf. Ist es aber der Fall, kann sie damit ihr Expertentum zeigen und Glaubwürdigkeit gewinnen, die sie dann später beim Verkauf ihrer Produkte ausspielen kann. Da kurz darauf genau diese weiße Aura vonseiten des Publikums genannt wurde, hatte sie für ihre Behauptung eine unabhängige Stützung von Dritten. Und mit dem Hinweis, dass das „Weiß-Sehen“ nur eine Vorstufe sei, konnte sie Erwartungen und Interesse schüren und erste Werbung für sich und ihr Angebot platzieren.

Auf die Einleitung folgten zwei praktische Übungen, die den Beweis fürs Aura-Sehen erbringen sollten. Und tatsächlich: Danach hat (fast) jeder im Raum eine Aura erkennen können bzw. das Gesehene als solche gedeutet.17 Dass die Übungen auch als Beweis anerkannt wurden, hängt mit der für die Esoterik-Szene typischen Sichtweise zusammen, dass das subjektive Erleben als Rechtfertigung für eine Behauptung ausreicht (s. u.). Mit den Übungen selbst konnte Wuttke nicht nur ihr Expertentum bestätigen, sondern auch die Existenz von Auren als anerkannte Tatsache etablieren – eine wichtige Grundlage für die spätere Verkaufsargumentation.

Durch die gelungenen Übungen – es herrschte eine hohe Zufriedenheit und Offenheit bei den Besuchern vor – war ein geschickter Zeitpunkt gekommen, einen ersten Werbeblock für das Produkt einzuschieben. Dieses, so Wuttke, verbessere die Aura-Sehfähigkeiten und helfe, Ungleichgewichte in der Aura auszugleichen. Besonders wichtig sei dabei das eigene Ausprobieren. Denn nur so könne bestimmt werden, ob die Produkte halten, was sie versprechen. Aufgrund der Geld-zurück-Garantie von drei Monaten gebe es dafür auch genügend Zeit.

Wuttke fuhr gewissermaßen eine zweigleisige Verkaufsstrategie. Einerseits sollten die Besucher ihre eigenen Erfahrungen machen und sich selbst von den Produkten überzeugen. Andererseits baute sie Glaubwürdigkeit auf, damit die Besucher sich von ihren Ausführungen über die Wirksamkeit des Produktes überzeugen lassen.

Zweite Verkaufsphase

Im Anschluss an den Werbeblock gab es einige spärliche Informationen zum Thema Aura. So gebe es eine Aura, weil wir sie sehen könnten. Sie entstehe nicht von innen heraus, sondern sei feinstofflich. Ihre Entstehung könne rein physikalisch durch Bewegungsenergie erklärt werden. Und für die weitere Argumentation war vor allem wichtig: Eine Aura sei immer in Bewegung und dadurch in stetiger Veränderung begriffen.

Wenn die Annahmen über die Aura stimmen, dann könne es – und das sei durch zahlreiche Studien bewiesen18 – Zustände geben, in denen wir entweder eine starke oder eine schwache Aura haben. Eine schwache Aura heiße, dass wir gerade besonders wenig Energie besitzen, eine starke, dass wir besonders viel davon haben. Damit wurde geschickt eine dualistische Perspektive für die Deutung unseres Wohlbefindens eingeführt: Entweder wir haben Energie und fühlen uns gut oder eben nicht. Zwischenstufen oder Mischformen, wie sie in der Realität häufig vorkommen, wurden ausgeblendet.

Den Dualismus aufnehmend folgte die rhetorische Frage, ob wir alle nicht Momente kennen, in denen wir uns schwach oder müde fühlen. Kaum einer wird darauf mit Nein antworten können. Die Begründung dafür lieferte Wuttke gleich hinterher: An jeder Ecke wimmele es von Energieräubern. Das seien Personen oder Gegenstände, die Energie von anderen Wesen oder Objekten abziehen und für sich beanspruchen. Der Grund für unser Unwohlsein liege in unserer (durch Energieräuber verursachten) unausgeglichenen Aura. Zum Glück gebe es Techniken, die für deren Ausgleich und damit für unser Wohlbefinden sorgen könnten. Besonders gute Erfahrungen habe sie – und damit wurde der die nächsten 30 Minuten in Anspruch nehmende Verkauf eingeläutet – mit dem Aura-Balance-Akku gemacht.Seit sie diesen kenne, habe sie keine Energieprobleme mehr.

Auf dem 3 mm dicken Akku in A4-Format19 seien, so Wuttke, unerschöpfliche Bioenergien mittels Quantenphysik20 aufgeprägt. Die eigene Aura könne also bei Energieverlust auf den Vorrat des Akkus zurückgreifen und sich dadurch in ständiger Balance halten – egal, wie viele Energieräuber es um uns herum gebe.

Im Anschluss daran bekam jeder einen Akku zum Testen. Schon am Ende des Vortrags sollten erste Verbesserungen spürbar sein, so die Versprechung. Die Verteilung des Akkus erfolgte anhand einer Abfrage einzelner Krankheitssymptome sowie Müdigkeits- und Erschöpfungserscheinungen und zuletzt für jeden, der ihn einfach mal testen wolle. Durch die Abfrage bestätigte Wuttke noch einmal die Behauptung des Energiemangels und zeigte zugleich auf, dass der Akku für viele/alle Lebenssituationen konkrete Hilfe leisten könne. Da sie sich aber nicht darauf verlassen konnte, dass am Ende des Vortrags tatsächlich alle eine „Hilfs“-erfahrung gemacht haben würden, führte sie weitere Punkte an, um die Wirksamkeit des Akkus zu bekräftigen.

Sie begann mit der Krankengeschichte ihrer eigenen Tochter und deren wundersamer Heilung mithilfe des Aura-Balance-Akkus. Die Krankheit eines Kindes erregt in einem hohen Maße Mitgefühl; Zweifel an einer solchen Geschichte sind rar (denn wer lügt, wenn es um Kinder geht?). Wie für ein persönliches Erlebnis üblich, sprechen meistens nicht Fakten, sondern die Glaubwürdigkeit des Erzählers für die Plausibilität. Das Erlebnis wurde noch mit zahlreichen weiteren Hinweisen gespickt. So wurden z. B. die Topoi der „schädlichen Impfung“ und der „nutzlosen Schulmedizin“ eingesetzt. Die Krankheit ihrer Tochter, so Wuttke, sei kurz nach einer Impfung aufgetreten, und zahlreiche Arztbesuche hätten nicht geholfen. Beide Topoi sind in der Szene weitestgehend anerkannt und hatten die Funktion, Glaubwürdigkeit zu schaffen. Außerdem konnte Wuttke durch die Erzählung der persönlichen Geschichte Sympathie erzeugen (fürsorgliche Mutter) und die Alternativlosigkeit des Akkus aufzeigen (kein Arzt konnte helfen).

Wuttke wies auf die Selbstlosigkeit des Erfinders des Aura-Balance-Akkus hin. Dieser habe ihr zehn solcher Platten geschenkt, obwohl er sie gar nicht gekannt habe. Vermutlich sollte damit dem möglichen Einwand der Profitorientierung, der oft gegen Anbieter im Esoterik-Sektor angebracht wird, entgegengewirkt werden.

Im Anschluss an die Geschichte der Tochter führte Wuttke einen Analogieschluss durch: Wenn es bei der Tochter gewirkt hat, dann, so habe sie gedacht, müsse es auch bei ihr selbst wirken. Und so sei es auch gewesen. Implizit war damit angedeutet: Wenn es bei uns beiden wirkt, dann wohl auch bei allen anderen.

Als weitere Stützung führte sie ihre eigene Persönlichkeit an: Sie selbst sei eine große Zweiflerin. Deswegen habe sie nicht nur zahlreiche Stunden mit dem Erfinder über die Funktion und die Struktur des Akkus gesprochen, sondern selbst eine (Blind-)Studie (mit zehn Probanden) durchgeführt. Alle seien zu Beginn schwer krank, aber nach nur kurzer Zeit vollständig geheilt gewesen. Belege dafür gab es aber keine, so musste auch hier der Aussage von Diana Wuttke geglaubt werden.

Um zu erklären, warum das Produkt trotz seiner Wirksamkeit so unbekannt sei, führte sie vor allem zwei Gründe an. Erstens sei der Erfinder umgebracht worden: als Warnung für alle, die mit dem Produkt handeln und daran arbeiten, aber auch um die weitere Verbreitung zu verhindern. Zweitens verwies sie auf das Vertriebsverbot hier in Deutschland (es habe eine von der Pharmaindustrie21 gesteuerte Klage gegeben), welches sie aber ignoriere, weil sie den Menschen helfen wolle.

Erneut erfolgte die Aufforderung, das Produkt selbst zu testen und sich nur auf das eigene Urteil zu verlassen, sowie der Hinweis auf die dreimonatige Geld-zurück-Garantie. Der Vortrag wurde dann mit einer Auswertung der Erfahrungen mit dem Akku und einer Fragerunde beendet, in der z. B. der Preis, 224 Euro, erstmalig genannt wurde. Auf die Frage einer Besucherin, ob der Akku auch bei Depressionen helfe, wurde versichert, dass er bei allen Krankheiten helfe, insbesondere dann, wenn er so platziert werde (Wirkradius 1,40 m), dass die betroffene Person von dessen Existenz nichts wisse (z. B. unter die Matratze).

Wie sich am Ende zeigte, war der Vortrag ein Erfolg: Einige Besucher kauften den Aura-Balance-Akku.

Überzeugungsstrategien im Vortrag

Eine Antwort auf die Frage, wieso dieser Verkaufserfolg möglich ist, kann eine kommunikativ-rhetorische Perspektive liefern. Rhetorik, so Aristoteles, ist die „Fähigkeit …, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen“22. Um zu überzeugen (Persuasion), kann der Rhetoriker Ethos (Charakter), Pathos (Emotion) und Logos (Vernunft) einsetzen.23 Knape sieht die moderne Rhetoriktheorie in der Tradition von Aristoteles24, wenn er „Persuasion“ als „technischen Kern der Rhetorik“ bezeichnet. Persuasion sei, so Knape weiter, „struktural der Wechsel von einem mentalen Zustand in einen anderen“ 25 und solle „Ordnung im Denken und Fühlen“26 etablieren. Der Persuasionsprozess wird als interaktives Kommunikationsgeschehen zwischen zwei Akteuren verstanden, in dem (mindestens) einer der Akteure versucht, seine Sichtweise (Botschaft) als Antwort auf eine strittige Frage bzw. Positionsdifferenz (Quaestio) zu etablieren.27 Das zentrale Überzeugungsmittel ist der „Text“, ein „begrenzter und geordneter Zeichenkomplex“, der in kommunikativ-persuasiver Absicht konzipiert und gestaltet wird.28

Wie erfolgreich ein solcher Text ist, hängt laut Luppold entscheidend von dessen „rhetorischer Textstrategie“ ab, die wiederum in Kern- und Auxiliarstrategien unterteilt werden kann. Die Kernstrategie ist für die Botschaftsübermittlung und deren Plausibilisierung zuständig. Plausibilität entsteht durch das Anführen von persönlichkeitsbasierten (Ethos), emotiven (Pathos) oder rational-argumentativen Gründen (Logos). Die Auxiliarstrategien dienen der Kooperationssicherung und der Rezeptionsoptimierung.29 Diese Systematik dient zwar primär als umfassender Textgestaltungsplan in der Produktionsphase eines Textes, kann aber auch als Analyseraster eingesetzt werden.30

Wird dieses Raster auf die Beobachtungen angewandt, entsteht ein eindeutiges Ergebnis. Viele Messebesucher haben die grundlegende Frage (Quaestio) nach praktischer Lebenshilfe. Die meisten befinden sich auf der Suche nach einem hilfreichen Angebot für ihr persönliches Problem. Diana Wuttkes Ziel ist es, möglichst viele Aura-Balance-Akkus zu verkaufen. Für einen erfolgreichen Verkauf muss sie lediglich die Besucher überzeugen, dass der Aura-Balance-Akku die Antwort auf die Frage der Besucher ist. Ihre Botschaft lautet also: „Der Aura-Balance-Akku ist die Lösung für dein ganz spezielles Problem.“ Viele Anbieter auf der Messe haben allerdings ähnliche Botschaften. Deswegen muss Wuttke gute Gründe anführen, warum ihre Botschaft stimmt (Kernstrategie), und stets um die Aufmerksamkeit der Besucher kämpfen, deren Kooperation sichern und für optimale Rezeptionsbedingungen sorgen (Auxiliarstrategien).

Bei der Kooperationssicherung kommt Diana Wuttke entgegen, dass es sich bei den Messebesuchern hauptsächlich um sogenannte Gebrauchsesoteriker handelt, die zwar esoterische Angebote in Anspruch nehmen, aber selten eine feste weltanschauliche Überzeugung haben.31 Sie haben kein festes Glaubenssystem, sondern höchstens einige esoterische Grundüberzeugungen,32 welche innerhalb eines gewissen Spektrums weltanschauliche Offenheit und Handlungsflexibilität ermöglichen.33 Würde eine solche Offenheit nicht vorliegen, müsste Wuttke erst noch die Gültigkeit der vorhandenen Überzeugungen der Besucher „angreifen“ und in Zweifel ziehen (Infestation).34 Da die Besucher aber in der Regel offen sind, kann sie – nachdem sie die Aufmerksamkeit der Besucher gewonnen hat – gleich mit dem Kern des Überzeugungsprozesses anfangen.

Wie wird dann der folgende Überzeugungsprozess von Diana Wuttke gestaltet? Im Kern wird ihre Botschaft rational-argumentativ begründet und mehrheitlich durch persönlichkeitsbasierte Überzeugungsmittel gestützt. Emotive Gründe finden sich hingegen wenig bis gar nicht. Von der Struktur her gleicht das rational-argumentative Persuasionsmittel dabei der klassischen Vorstellung einer Argumentation (Behauptung, Stützung, Konklusion)35; allerdings wird das Schlussverfahren modifiziert. Nicht mehr die Prinzipien eines allgemeinen Rationalitätspostulats – dass Äußerungen vernünftig und begründbar sind – gelten36, sondern die Schlüssigkeit eines Arguments wird durch das eigene Erleben, die persönliche Erfahrung beurteilt. Das Erlebnis wird dann generalisiert, und die spezifische Situation wird unterkomplex erklärt, indem die positiven Wirkungen, wie z. B. das plötzliche Wohlbefinden, monokausal dem Produkt zugeordnet werden.

Wird von einem solchen Rationalitätsverständnis ausgegangen, gibt es letztlich nur zwei Möglichkeiten, wie ein Gebrauchsesoteriker argumentativ überzeugt werden kann. 1. Er selbst muss die Erfahrung machen, dass das Produkt wirkt. Oder 2. Er muss die (positive) Erfahrung, die ein Dritter mit dem Produkt gemacht hat, zu seiner eigenen Erfahrung machen. Sobald mit dem Produkt ein positives Erlebnis verbunden wird, muss er dann, seiner eigenen Logik folgend, das Produkt als reale Hilfe einstufen. Der zweite Fall ist für den Anbieter herausfordernder und braucht deshalb auch deutlich mehr (argumentative) Unterfütterung. Denn hier muss der potenzielle Kunde dem Anbieter glauben, dass die Erfahrungen auch tatsächlich zutreffen und das Produkt für alle Personen (gleich) wirksam sein kann.

Die Beobachtungen bei Wuttkes Vortrag lassen sich im Wesentlichen einem der zwei Muster zuordnen. Einerseits bot sie den Besuchern den Aura-Balance-Akku zum Testen an und bezog alle positiven Erfahrungen, die (in der Testphase) gemacht worden sind oder die sich in ferner Zukunft einstellen werden, auf die Wirkmächtigkeit des Akkus. Andererseits bot sie auch viele Identifikationsmöglichkeiten mit positiven Erfahrungen von Dritten an, die sie in unterschiedliche Begründungszusammenhänge/Narrative eingebunden hat, sodass sich möglichst viele unterschiedliche Anknüpfungspunkte bilden konnten. Dass sie hauptsächlich Erfahrungen von sich selbst oder ihrer Familie präsentierte, kann mit der angestrebten Herstellung von Glaubwürdigkeit und einer höheren Wahrscheinlichkeit auf Adaption als eigene Erfahrung erklärt werden.

Hat das Produkt überzeugt, bleibt für den Gebrauchsesoteriker nur noch der Kauf übrig. Denn seine Maxime lautet: Ich kaufe alles, was hilft.


Philipp Kohler
 

Anmerkungen

  1. Erfahrungsberichte über die außergewöhnlichen Produkte und Dienstleistungen gibt es schon zahlreiche. Diese gehen von wohlwollend über kritisch bis hin zu polemisch. Eine kleine Auswahl mit unterschiedlichem Einschlag: www.ardmediathek.de/tv/Landesschau-Baden-Württemberg/Auf-der-Esoterikmesse-Mannheim/SWR-Baden-Württemberg/Video?bcastId=250286&documentId=40116788 ; www.sueddeutsche.de/wirtschaft/esoterik-wer-am-geschaeft-mit-dem-seelenheil-verdient-1.3596195#redirectedFromLandingpage ; www.youtube.com/watch?v=3HW4mfafPkk  (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 5.11.2017).
  2. Vgl. zur Terminologie und zur näheren Beschreibung: Matthias Pöhlmann/Christine Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, Gütersloh 2015, 561-68, 711-721.
  3. Vgl. dazu grundsätzlich Joachim Knape: Was ist Rhetorik?, Stuttgart 22012.
  4. Dabei handelt es sich um persönliche Aufzeichnungen während des Vortrags. Auf die Subjektivität und die begrenzte Verallgemeinerungsfähigkeit sei hiermit ausdrücklich hingewiesen.
  5. Vortrags- bzw. Händlerübersicht: www.esoterikmesse.de/esoterikmesse/cms/Vortragsprogramme/VP_Stuttgart_LH_H2017.pdf 
  6. Vgl. Pöhlmann/Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen (s. Fußnote 2), 711.
  7. Vgl. www.esoterikmesse.de/esoterikmesse/cms/43.16.Kalender%3A+Besucher.html .
  8. Vgl. www.psiram.com/de/index.php/Esoterikmesse .
  9. Kleiner war 2017 nur Hannover. In Berlin z. B. gab es ca. zweimal so viele Anbieter. Vgl. auch www.esoterikmesse.de/esoterikmesse/cms/92.62.Vortragsprogramme+Hauptseite.html .
  10. Vgl. www.psiram.com/de/index.php/Esoterikmarkt .
  11. Vgl. Matthias Pöhlmann/Reinhard Hempelmann: Esoterik als Trend, EZW-Texte 198, Berlin 2008, 8-13.
  12. Vgl. Pöhlmann/Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen (s. Fußnote 2), 563, 711.
  13. Die Internetseite zur Firma gibt es allerdings nicht mehr. Vermutlich könnte das an einem auch im Vortrag erwähnten Prozess gegen sie liegen. Der Verkauf findet nun über www.auras-vital.de  statt. Dort werden Diana Wuttke und auch RodiaVital im Impressum angegeben.
  14. www.philambdatechnology.com ; kritisch: www.psiram.com/de/index.php/Phi-Lambda-Technology .
  15. Vgl. www.auras-vital.de/shop_content.php?coID=4&XTCsid=2i3givji441tvcl4uovpfpskd1 .
  16. Vgl. Daniel Seebert: Rhetorik und Aufmerksamkeit – der unsichtbare Orator, Berlin 2017.
  17. Das verwundert nicht, weil bei beiden Übungen mit der selektiven Anpassung der Lichtempfindlichkeit der Augenrezeptoren gespielt worden ist. Diese brauchen bei entsprechenden Kontrasten und Lichtverhältnissen einige Zeit, um sich auf die neue Umgebung einzustellen. Wenn dann z. B. für längere Zeit ein dunkles Objekt vor einer weißen Wand steht und das Objekt entfernt wird, bleibt i. d. R. der (weiße) Umriss des Objekts für eine gewisse Zeit „erhalten“. Das wird dann gerne als Aura bezeichnet. Und weil das nicht nur mit Personen, sondern auch mit Objekten geht, herrscht in den meisten Fällen die Ansicht vor, dass jeder Gegenstand „lebt“ und deswegen eine Aura ausstrahlen kann.
  18. Auch wenn Wissenschaftlichkeit tendenziell abgelehnt wird, wird gerne mit dieser argumentiert. Geglaubt wird ihr hauptsächlich dann, wenn sie die eigene Überzeugung bzw. das eigene Erleben bestätigt.
  19. Vgl. www.auras-vital.de/index.php?cat=c844_Aura-Balance-Akku-Aura-Balance-Akku.html .
  20. Die Funktion könne sie nicht genau erklären. Sie sei ja keine Quantenphysikerin. Zwar habe sie viel mit dem Erfinder gesprochen, aber nicht alles verstanden. Schließlich habe dieser ja auch 35 Jahre daran geforscht.
  21. Dass die Pharmaindustrie den Verkauf des Produkts verhindern wolle, liege nicht daran, dass sie mehr Geld verdienen wolle. Vielmehr solle verhindert werden, dass die Menschen zum wahren Bewusstsein kommen. Ein geschicktes Argument, weil Wuttke damit von einer materialistischen Begründung zu einer ideologischen wechselt. Das schafft „Verbrüderung“, auch die Heroisierung ihrer Person trägt dazu einiges bei. Deutlich wurde das besonders durch die laute Zustimmung, als Wuttke die Pharmaindustrie als vermeintliche Urheberin erwähnte.
  22. Arist. Rhet. l, 2, 1355b.25 (Aristoteles: Rhetorik, Übersetzung: Gernot Krapinger, Stuttgart 2007).
  23. Vgl. Arist. Rhet. l, 2, 1356a.
  24. Diese ars persuadendi (Kunst des Überzeugens) wich in postaristotelischer Zeit sukzessive einer ars bene dicendi (Kunst des schönen Redens), bis sie im Mittelalter beinahe gänzlich verschwand.
  25. Beide Zitate bei Joachim Knape: Persuasion, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, Berlin 2003, 874f.
  26. Joachim Knape: Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300 – 1700, Wiesbaden 2006, 12.
  27. Vgl. Knape: Was ist Rhetorik? (s. Fußnote 3), 16; Stefanie Luppold: Textrhetorik und rhetorische Textanalyse, Berlin 2015, 35.
  28. Vgl. Knape: Was ist Rhetorik? (s. Fußnote 3), 107ff.
  29. Vgl. Stefanie Luppold: Textstrategien. Zur Theorie der Textrhetorik, Berlin 2015; s. zur Übersicht: 226.
  30. Vgl. Luppold: Textrhetorik und rhetorische Textanalyse (s. Fußnote 27), 279-298.
  31. Im Gegensatz dazu stehen sog. Systemesoteriker, die oft strikt an ihr Denk- und Glaubenssystem gebunden sind. Zur Systemesoterik gehört z. B. die Anthroposophie. Vgl. Pöhlmann/Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen (s. Fußnote 2), 568-594.
  32. Vgl. ebd., 712ff.
  33. Gebrauchsesoteriker sind hauptsächlich an praktischer Lebenshilfe interessiert, und deswegen wird die weltanschauliche Komponente oft von dem Angebot getrennt. Vgl. ebd., 716.
  34. Und dieser Schritt erschwert die Persuasion signifikant. Vgl. Joachim Knape: Das Othello-Reaktiv. Zur Funktion des Zweifels im rhetorischen Persuasionsprozess, in: Frank Duerr u. a. (Hg.): Kognition, Kooperation, Persuasion, Berlin 2015, 151-180.
  35. Vgl. Luppold: Textrhetorik und rhetorische Textanalyse (s. Fußnote 27), 126-130.
  36. Vgl. Alexander Baur / Simon Wolf: Beweislast, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10, Berlin 2012, 130.