Hanna Fülling

Utopien und utopische Gemeinschaften als Thema der Weltanschauungsarbeit

Ein Tagungsbericht

Auf der diesjährigen Jahrestagung der EZW für landeskirchliche Beauftragte für Weltanschauungsfragen1, die vom 7. bis 9. Mai 2018 im Augustinerkloster zu Erfurt stattfand, wurde das Thema „Utopien und utopische Gemeinschaften“ diskutiert. Es haben 34 hauptamtliche Mitarbeitende der evangelischen Kirche sowie einige Kollegen der katholischen Kirche aus verschiedenen Regionen Deutschlands und aus Österreich teilgenommen.

Der Regionalbischof des Propstsprengels Gera-Weimar Diethard Kamm begrüßte die Tagungsteilnehmenden in Erfurt. Er setzte in seinem Grußwort mit einer zeitgenössischen Beobachtung ein und beschrieb unsere Gegenwart als eine utopiearme Zeit, die von pragmatischem und kurzfristigem Denken geprägt sei. Obwohl diese Diagnose deutlichen Zuspruch unter den Teilnehmenden erfuhr, muss bereits die Themensetzung der Tagung als Hinweis darauf verstanden werden, dass sie nicht ausnahmslos gilt.

Utopien: ideale Gegenwelten

Doch bevor entsprechende Ausnahmen diskutiert wurden, ermöglichte der Leiter der EZW, Reinhard Hempelmann, durch eine Einführung in die entscheidenden Entwicklungen und Merkmale des Utopiebegriffs, diesen mehrdeutigen Terminus klarer zu fassen. Hempelmann zufolge entwerfen Utopien ideale Gegenwelten und beinhalten somit „kritisches und auf Veränderung und Umgestaltung zielendes Potenzial“.2 Auf Menschen können sich Utopien ambivalent auswirken: sie können sowohl Hoffnung geben und zum Handeln motivieren als auch einschüchternd und lähmend wirken. Da der Mensch ein Hoffnungswesen ist, kann er Hempelmann zufolge nicht auf die Entwicklung von idealen Gegenwelten verzichten und wird immer eine „Leidenschaft für das Mögliche“3 in sich tragen. Das größte Risiko in utopischem Denken sieht Hempelmann in der Vernachlässigung der Gebrochenheit des menschlichen Lebens. Dass die Unvollkommenheit des Menschen in zahlreichen Utopien unterschätzt wird, könne als eine wesentliche Ursache für das Scheitern von Utopien betrachtet werden.

Hempelmann veranschaulichte die Risiken und Ambivalenzen von Utopien an unterschiedlichen historischen Beispielen: am Marxismus/Kommunismus, an identitären Gesellschaftskonzeptionen, an transhumanistischen Utopien sowie an Beispielen für religiöse Utopien wie Chiliasmus und perfektionistische Strömungen. Allein diese Beispiele belegen die Bedeutungsvielfalt und die zahlreichen möglichen Zugänge zum Thema. Doch obgleich im Verlauf der Tagung immer wieder Verbindungen zu diesen Utopien hergestellt wurden, standen auf der Tagung selbst utopische Gemeinschaftsbildungen in alternativen Lebensentwürfen im Fokus.

Verschiedene weltanschauliche Kontexte

Solche Gemeinschaften streben danach, Ideale und Visionen gemeinschaftlich im Zusammenleben zu verwirklichen. Sie wurden auf der Tagung als utopische, intentionale und ideale Gemeinschaften diskutiert und können in verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Kontexten verortet werden. Zur Veranschaulichung dieses Themenschwerpunkts wurden kurze referatsspezifische Impulsvorträge durch die EZW-Referenten vorgetragen.

Michael Utsch stellte mit dem Gut Saunstorf eine Klostergemeinschaft der Satsang-Bewegung vor. Sie zentriert sich um den inneren Weg des Advaita-Lehrers Cedrik Parkin, der für sich beansprucht, den Zustand der Dualität überwunden zu haben.

Kai Funkschmidt erörterte unter Rekurs auf Umfrageergebnisse der Soziologin Eileen Barker4 sozialstrukturelle Probleme in Gemeinschaftsbildungen der neureligiösen Bewegungen. Die Altersversorgung kristallisiert sich dort zunehmend als Problem heraus. Da Mitglieder häufig nicht vorgesorgt haben – entweder aufgrund einer konkreten Endzeiterwartung oder weil sie ihr Vermögen bei Eintritt in die Gemeinschaft abgegeben haben und keiner Lohnarbeit nachgekommen sind –, stellt sich das Problem Altersversorgung mit zunehmender Dringlichkeit. Hieran zeigt sich, dass der utopische Impetus der Gemeinschaftsbildung für den Einzelnen auch zur dystopischen Erfahrung werden kann.

Wie es sich mit idealen Gemeinschaftsbildungen in der islamischen Religion verhält, erörterte Friedmann Eißler am Beispiel von sufistischen Gemeinschaften. Diese verstehen sich nicht als utopische Gegenwelt, sondern beanspruchen – basierend auf Koran und Sunna –, in ihren Ordensstrukturen und ihrer Religionspraxis abzubilden, wie der Wille Gottes für die Menschen Gestalt gewinnen soll. Hiervon ausgehend entwickelte Eißler eine Perspektive auf die Beschreibung der idealen Gemeinschaft im Koran und zeigte, wie sich der umma-Begriff in der medinensischen Periode zu einem zentralen Referenzkonzept der frühislamischen Identitätsbildung entwickelte.

Reinhard Hempelmann erörterte atheistische Utopien. Die Vision einer religionsfreien Gesellschaft findet sich insbesondere im sogenannten neuen Atheismus, wie er etwa von Richard Dawkins („Der Gotteswahn“) im englischsprachigen oder von Michael Schmidt-Salomon („Manifest des evolutionären Humanismus“) im deutschsprachigen Raum konzipiert wird. Hempelmann fragte, wie präsent die Vision einer religionsfreien Gesellschaft unter den säkularen Humanisten und Atheisten in Deutschland ist. Anhaltspunkte für eine Präsenz dieser Vision sieht er in der Broschüre „Gläserne Wände“5 von Michael Bauer und Arik Platzek. Darin werden 33 Forderungen zur Gleichberechtigung nichtreligiöser Menschen in Deutschland erhoben – wie etwa eine flächendeckende Versorgung mit Kindertagesstätten mit weltlich-humanistischem pädagogischem Profil sowie die Umwandlung von Bekenntnisschulen in reguläre Gemeinschaftsschulen oder in weltliche Schulen in humanistischer Trägerschaft, je nach Anteil der Bevölkerung.

Mein eigener Beitrag beschrieb utopische Gemeinschaften als Gruppierungen, in denen sich Individuen auf Basis einer Vision für ein besseres Leben zusammenschließen. Darin werden zwei scheinbar gegensätzliche Trends von modernisierten und pluralisierten Gesellschaften miteinander verbunden – ein starker Individualismus mit einer hohen Gemeinschaftsaffinität. Für die Einordnung und Bewertung stellte der Beitrag den Umgang mit der Individualität als ein maßgebliches Kriterium heraus: Es muss sichergestellt werden, dass die Individualität einer Person nicht der Reinheit der jeweiligen Idee, für die eine utopische Gemeinschaft steht, zum Opfer fällt.

Evangelische Kommunitäten

Aufbauend auf diesen referatsspezifischen Impulsen erfolgte durch Peter Zimmerling eine konzentrierte Beschäftigung mit Visionen gemeinschaftlichen Lebens im Protestantismus. Zimmerling ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig und war viele Jahre Pfarrer bei der Offensive Junger Christen (OJC), die sich selbst als ökumenische Kommunität bezeichnet.6

Das Verhältnis der evangelischen Kirche zu Kommunitäten war lange Zeit negativ konnotiert. Dies änderte sich jedoch. Zimmerling konstatiert, dass die EKD mit der Denkschrift „Evangelische Spiritualität“ (1979) einen doppelten Paradigmenwechsel eingeleitet habe: Sie brach zum einen vorbehaltlos mit der aus der Reformationszeit herrührenden Ablehnung monastischer Lebensformen und erkannte zum anderen die Frage der Spiritualität als wichtiges Thema für Christen an. Dieses Bekenntnis kommt in dem EKD-Text „Verbindlich leben“ (2007), an dem auch Zimmerling beteiligt war, noch deutlicher zum Ausdruck. Darin bekennt der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, dass man inzwischen erkannt habe, „dass auch evangelische Spiritualität auf Gemeinschaften angewiesen ist, die dem gemeinsam geteilten Leben gewidmet sind“.7

Die Spiritualität von Kommunitäten beschreibt Zimmerling als Streben nach einer „ganzheitlichen Verwirklichung des Glaubens“8, die durch feste Rituale (persönliches Gebet, Schriftmeditation, Tagzeitengebete und Gottesdienste) und Symbole (z. B. Kruzifixe) geprägt ist und im Rahmen des gemeinsamen Lebens praktiziert wird. Kommunitäre Spiritualität orientiere sich am „Zweiklang von Kontemplation und Aktion bzw. von Gottes- und Weltbezogenheit“.9

Zimmerling knüpft die Relevanz von Kommunitäten an die Bedeutung der Spiritualität. Diese Bewertung möchte er nicht als Aufruf zur „Verklösterlichung“ der Gesellschaft missverstanden wissen, denn auch das kommunitäre Leben sei auf die Freiräume der Gesellschaft angewiesen, die durch bürgerliche Familien- und Berufspflichten entstehen. Er sieht die Relevanz des kommunitären Lebens vielmehr darin, wichtige Impulse für die Verbindung von Freiheit und Verbindlichkeit sowie von Selbstbestimmung und Gemeinschaft in die Kirchen zu tragen. Dass die Realisierung dieses Ideals auch Gefährdungen in sich birgt, macht Zimmerling deutlich, wenn er darauf hinweist, dass aufgrund des hohen Idealbildes kommunitärer Gemeinschaften sowohl Alltagsprobleme übersehen werden können als auch die Demokratisierung des Glaubens verloren gehen kann sowie dass sich interne Sonderlehren entwickeln können.

Ökodörfer

Iris Kunze10 referierte aus einer doppelten Perspektive – der einer promovierten Soziologin sowie der einer Bewohnerin des Ökodorfes „Sieben Linden“11 – über Vergemeinschaftung in Ökodörfern. Solche neuen Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bewertet Kunze als eine Reaktion auf die Auflösung von Gemeinschaftsstrukturen, die durch die Verstaatlichung der Gesellschaft bedingt seien. Weltweit gibt es laut dem Global Ecovillage Networt (GEN) ca. 74 Ökodörfer und 15 000 Einzelmitglieder. Sie werden in der Forschung als posttraditionale Gemeinschaften oder alternativ-progressive Gegen-Vergemeinschaftung beschrieben.

Kunze zeigt durch eigens erhobene Daten, dass Menschen in Gemeinschaften vor allem Freiheit, Selbstbestimmung und aktive Mitbestimmung suchen. Hieran lässt sich erkennen, dass das gemeinschaftliche Zusammenleben von den Befragten12 mehrheitlich nicht als in Konflikt stehend mit der persönlichen Freiheit, sondern vielmehr als Ermöglichungsraum derselben betrachtet wird. Anders verhält es sich hingegen mit dem Glauben. Zwar bezeichnen sich 75 Prozent der Befragten als spirituell, doch nur 7 Prozent verstehen sich als religiös und wollen ihre Spiritualität an eine Religionsgemeinschaft binden. Die hohe Affinität zur Spiritualität in Ökodörfern zeigt sich Kunze zufolge durch spirituelle Praktiken und Orte (z. B. an der Kapelle vom Lebensberg Steyerberg e. V.13 oder dem Tempel der Lebensgemeinschaft Damanhur in Italien14).

Das Ökodorf Sieben Linden beschreibt Kunze als einen Experimentierraum mit heterogenen und flexiblen Strukturen, die, im Rahmen von „Ökologie und Selbstversorgungsorganisation“15, eine Vereinbarkeit verschiedener Wohn- und Lebensformen ermöglichen – nach dem Prinzip „Vielfalt in der Einheit“. Gemeinschaftsangelegenheiten werden konsensorientiert entschieden und Entwicklungsprozesse der Gemeinschaft gemeinsam reflektiert und diskutiert. Die Gemeinschaft selbst stellt einen hohen Wert dar, und der Zusammenhalt der Bewohner wird über einzelne dogmatische Entscheidungen, wie etwa eine vegetarische Ernährungsweise im Ökodorf, gestellt. Derzeit leben dort 100 Erwachsene und 40 Kinder und Jugendliche.

Utopisches Potenzial schimmert bei Kunze vor allem auf einer Vortragsfolie durch, auf der sie in einer Grafik zwischen der Pseudogemeinschaft auf der einen und der echten Gemeinschaft auf der anderen Seite unterscheidet. Die Ordnung der Pseudogemeinschaft gehe von den „Egos der Herrschenden“ aus und produziere Entfremdung, Machkämpfe und Konflikte. Dem daraus entstehenden Chaos könne durch eine äußere Ordnung beigekommen werden, durch einen autoritären Staat – dieser produziere allerdings Burnout und Aussteiger. Eine Alternative zu diesem verordneten Weg sieht Kunze in der Selbstreflexion der kulturellen Muster, die zu einem Übergang von einem „harten zu einem weichen Individualismus“ führen können. In diesem Umfeld könne eine echte Gemeinschaft wachsen, die neue, pluralistische Kulturlogiken schaffe. Mit dieser Gegenüberstellung bettet Kunze intentionale Gemeinschaften wie das Ökodorf Sieben Linden in den Kontext gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Konflikte ein und grenzt sie als „echte Gemeinschaft“ von der Pseudogemeinschaft analytisch und normativ ab.

Der Lebenslernort am Windberg – eine alternative Gemeinschaftsbildung

Weitere Einsichten in intentionale Gemeinschaftsbildungen vermittelte die Begegnung mit Andreas Lorenz und Armin H. Klein, zwei Bewohnern des Lebenslernortes am Windberg. Dieser ist ein sehr junges Projekt. Nachdem sich die erste Gründungsgruppe nach einem Jahr wieder aufgelöst hatte, entschlossen sich im Herbst 2014 zwei Drittel der derzeitig aktiven Kerngruppe, das Gelände zu kaufen und die Gemeinschaft dort aufzubauen.16 Am Lebenslernort am Windberg leben derzeit 14 Erwachsene und fünf Kinder. Die Mitglieder definieren das Zusammenleben als intergenerationales, „zukunftsfähiges, nachhaltiges und heilsames Miteinander von Menschen, Tieren, Pflanzen“17. Sie finanzieren sich gegenwärtig vor allem durch Einnahmen des Seminarbetriebs, des Gartenbaus und der Landwirtschaft. Die Werte der Gemeinschaft wurden in Gemeinschaftsvereinbarungen übersetzt, und es wurden bislang drei verbindliche Gemeinschaftsregeln definiert: kein Fleisch, kein Alkohol, keine Drogen. Diese Ideale sind vor Ort verpflichtend, ihre Missachtung kann zur Ausweisung führen.

Anders als Sieben Linden betrachten die Bewohner des Lebenslernortes am Windberg ihr Projekt als ein dezidiert spirituelles, das die „zeitlose Weisheit“ der verschiedenen Weisheitstraditionen und Religionen erforscht und realisiert.18 Spiritualität wird „überkonfessionell“ und „ohne dogmatische und spirituelle Vorschriften“ verstanden. Religiöse und spirituelle Traditionen werden als ein Markt von Möglichkeiten betrachtet, die ausprobiert und auf ihre Eignung geprüft werden. Diese Offenheit kann als eine Erklärung dafür gesehen werden, warum die Gemeinschaft am Windberg ihr Gelände der Anastasia-Bewegung für deren jährliches Festival zur Verfügung gestellt hat.19 Inzwischen hat sich die Gemeinschaft am Windberg von dieser Entscheidung distanziert.

Im geistigen Zentrum der Windberg-Gemeinschaft steht die Annahme, dass es ein starkes Unterbewusstsein gibt, das nur durch die Gemeinschaft transparent gemacht werden kann. Hieran wird die starke Kopplung von Individuum und Gemeinschaft deutlich: Für die eigene geistige Weiterentwicklung ist das Individuum auf die Gemeinschaft angewiesen, bzw. es bindet sich an die Gemeinschaft. Diese Verbindung findet auch in den spirituellen Grundannahmen der Gemeinschaft Ausdruck: Es wird davon ausgegangen, dass jedes individuelle Bewusstsein in ein kosmisches Bewusstsein eingebunden ist und dass deshalb fast jeder ein Bewusstsein von etwas Höherem besitzt.

Chancen und Gefahren des Utopischen

Im Anschluss an die Inneneinsichten in die Gemeinschaft Sieben Linden und den Lebenslernort am Windberg konnten die Tagungsteilnehmenden durch den Vortrag von Michael Gabel diese speziellen Formen von intentionalen, utopischen Gemeinschaften noch einmal auf allgemeine Überlegungen zu den Chancen und Gefahren des Utopischen zurückbeziehen. Gabel ist seit 2003 Professor für Fundamentaltheologie und Religionswissenschaft an der Universität Erfurt.

Er stellt über die Figur des „neuen Menschen“ vor allem die personale Dimension von Utopien heraus. Gabel greift die Forschungen des neomarxistischen Philosophen Ernst Bloch auf. Dieser beschreibt Utopien als Charakteristikum des Menschen, als antizipierte Realität, als das Noch-nicht-Sein, das aber in der Gegenwart angelegt ist und an die Alltagserfahrung der Menschen anknüpft. Für Bloch liegt der Ursprung der Utopie im Menschen selbst. Der protestantische Theologe Paul Tillich lehnt seinen Utopiebegriff zwar an Bloch an, bezieht in seine Überlegungen jedoch die Geschöpflichkeit und Gebrochenheit des Menschen mit ein. Für Tillich speist sich die Utopie damit aus dem Ursprung des Menschen – nicht aus dem Menschen selbst. Gabel hält an dieser Perspektive der Utopie als einem anthropologischen bzw. schöpfungstheologischen Phänomen insofern fest, als er den Menschen ins Zentrum von Utopien stellt. Es gehe Utopien immer darum, einen neuen Menschen zu entwerfen – wobei neu auch die Zurückführung in den Naturzustand bedeuten kann.

In der Suche nach neuen Wegen sieht Gabel den legitimen Kern von Utopien. Gefährlich sei utopisches Denken jedoch dann, wenn es absolut gesetzt und mit Gewalt durchgesetzt werde. Beispiele für eine gewaltsame Durchsetzung von utopischen Ideen des neuen Menschen sieht Gabel in der Rassenideologie des Nationalsozialismus und der Klassenideologie des Sozialismus. Das utopische Menschenbild blendet Differenzen häufig aus und erzeugt damit eine scheinbare und, für davon abweichende Personen, verheerende Konformität.

Gabel leitet daraus ab, dass utopisches Denken dann problematisch wird, wenn es den tatsächlichen, widersprüchlichen und gebrochenen Menschen nicht vergegenwärtigt. Denn gerade in der Anerkennung von Widersprüchen gehe es um die Anerkennung menschlicher Würde. Diese Überlegung könne auch für die Praktische Theologie fruchtbar gemacht werden, indem stärker verdeutlicht werde, dass Gott nicht das ideologisch reine und unfehlbare, sondern das gebrochene Volk auserwählt hat.

Fazit

Bei der Tagung wurde deutlich, dass Utopien und utopische Gemeinschaften ein wichtiges Anschauungs- und Begegnungsfeld für die Weltanschauungsarbeit sind. Für die normative Auseinandersetzung wurde zudem deutlich, dass sowohl Chancen als auch Risiken von utopischen Gemeinschaften vergegenwärtigt und in Beziehung zueinander gesetzt werden müssen: Während die Chance von utopischem Denken darin besteht, einen Aufbruch zu wagen und nach neuen Wegen zu suchen, liegt die große Gefahr darin, dass Utopien eine Verabsolutierung der Idee des neuen Menschen zugrunde gelegt wird, die weder die Unvollkommenheit des Menschen reflektiert noch die menschliche Vielfalt und Individualität systematisch berücksichtigt.

Daraus kann für die Weltanschauungsarbeit eine wichtige Überlegung für den Umgang mit utopischen Gemeinschaftsbildungen abgeleitet werden: In der Begegnung mit utopischen Gemeinschaften kann gefragt werden, welche Intentionen verfolgt, ob Gegenwelten gebildet, welche Visionen entwickelt und welche Hoffnungen damit verbunden werden. Kritisch sollte zudem jedoch geprüft werden, ob in utopischen, idealen oder intentionalen Gemeinschaften ein neuer Mensch entworfen wird und ob dessen Ideal ausreichend Raum für die Widersprüchlichkeit und die Gebrochenheit des Menschen lässt und zudem offen für Differenz, Individualität und Vielfalt ist.


Hanna Fülling


Anmerkungen

  1. Sowie für Referenten und Referentinnen der Kirchenleitungen und Absolventen und Absolventinnen der Curricula I und II der EZW.
  2. Reinhard Hempelmann: Stichwort „Utopien“, in: MD 1/2017, 33.
  3. Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung. Untersuchung zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1965, 29.
  4. Vgl. Eileen Barker: Ageing in New Religions, in: Diskus. The Journal of the British Association for the Study of Religions 12 (2011), 1-23.
  5. Vgl. www.glaeserne-waende.de  (Abruf der Internetseiten: 5.6.2018).
  6. Vgl. www.ojc.de .
  7. Wolfgang Huber: Geleitwort, in: Kirchenamt der EKD (Hg.): Verbindlich leben. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in der evangelischen Kirche in Deutschland. Ein Votum des Rates der EKD zur Stärkung evangelischer Spiritualität, Hannover 2007, 5.
  8. Peter Zimmerling: Die Spiritualität evangelischer Kommunitäten. Eine Herausforderung für die Gesamtkirche, in: Deutsches Pfarrerblatt 7/2001.
  9. Ebd.
  10. Iris Kunze ist Projektassistentin an der Universität für Bodenkultur in Wien und hat über Gemeinschaften und Ökodörfer promoviert. Vgl. Iris Kunze: Soziale Innovationen für eine zukünftige Lebensweise. Gemeinschaften und Ökodörfer als experimentierende Lernfelder für sozial-ökologische Nachhaltigkeit, Münster 2008.
  11. Vgl. https://siebenlinden.org/de und Claudia Knepper: Experiment Gemeinschaft, in: MD 6/2012, 204-214
  12. Kunze hat eine qualitative Befragung von Personen aus der „intentionalen Gemeinschaftsszene“ sowie am Thema Gemeinschaft Interessierter durchgeführt.
  13. Vgl. http://lebensgarten.de
  14. Vgl. www.damanhur.org/en/art-and-creativity/temples-of-humankind .
  15. https://siebenlinden.org/de/start 
  16. Vgl. http://www.windbergev.de .
  17. Vgl. ebd.
  18. Ebd.
  19. Zur Anastasia-Bewegung s. MD 5/2017, 167-170.