Johannes Lorenz

Unsere Verwandten im Wasser und im Wald

Das Phänomen „Nature Writing“

Der große Erfolg von Peter Wohllebens Buch „Das geheime Leben der Bäume“ (erschienen 2015) gab den Anlass, sich in einem Lesekreis dem Phänomen „Nature Writing“ aus weltanschaulicher Sicht zu nähern. Der Lesekreis fand im Winterhalbjahr 2018 im Haus am Dom (Tagungszentrum des Bistums Limburg) in Frankfurt am Main statt. Zusätzlich zu Peter Wohllebens Bestseller wurden drei weitere Bücher ausgewählt. Auf der Leseliste standen:

  • „Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben,
  • „Was Fische wissen“ von Jonathan Balcombe,
  • „Der Mensch im Tier“, das aktuelle Buch des in Münster lehrenden Verhaltensbiologen Norbert Sachser (als einziges rein wissenschaftliches Buch), und
  • „H wie Habicht“, der Bestsellerroman der britischen Autorin Helen Macdonald.

Die vier Titel wurden recht willkürlich ausgewählt (hauptsächlich der Zeitknappheit geschuldet).1 Daneben wurden zur Vorbereitung zwei jüngere Artikel herangezogen, die sich mit dem Phänomen beschäftigen: Andreas Weber, ebenfalls bekannt als Nature-Writing-Autor, beschreibt in einem Artikel in der „Zeit“ die Bücher und Texte über die Natur als „neue Weltsicht, die bei allen Lebewesen Gefühle entdeckt“2. Und in einem ausführlichen Artikel auf der Seite des Deutschlandfunks analysiert Jedediah Purdy die Bewegung vor dem Hintergrund einer veränderten Welterfahrung des Menschen.3

Nature Writing, so meint Purdy, ist eine neue Tendenz, Natur auf egalitäre Weise zu beschreiben und zu denken. Mit „Natur“ ist die natürliche Welt außerhalb des Menschen gemeint, besonders Pflanzen und Tiere, kurz: die nichtmenschliche Natur. Die Literaturgattung greift dabei romantische Motive auf und buchstabiert sie neu vor dem Hintergrund heutiger Erkenntnisse. Dabei ist sie von Vorbildern beeinflusst, die zu den Klassikern des Genres zählen: Mit Henry David Thoreaus „Walden or Life in the Woods“ beginnt eine zivilisationskritische Hinwendung zur Natur, die sich als Grundmotiv in vielen Texten wiederfindet. Insbesondere denkt Purdy an totalitäre Formen der Kontrolle über die Natur in Form der industriellen Landwirtschaft oder des vom Menschen verursachten Klimawandels, die heute für eine Verstärkung des Phänomens verantwortlich sind. Die Paradoxie der auf der einen Seite vollkommen beherrschten Natur und der auf der anderen Seite wildgewordenen Naturgewalten (Stürme, Seuchen, Hitze etc.) geben laut Purdy eine Folie ab, vor deren Hintergrund sich die neue Gattung etabliert. „Für Schriftsteller hat diese befremdliche Welt – zu Tode gezähmt, wild wie ein Wildschwein – eine Faszination für nichtmenschliches Verhalten, Wirken und Bewusstsein ausgelöst.“4

Könnte es sein, so ähnlich fragt Andreas Weber in der „Zeit“, dass alles, was lebt, eine Innenwelt hat? Damit greift er eine der wesentlichen Fragen des Nature Writing auf: Ist auch die außermenschliche Natur beseelt, und zwar nicht nur im aristotelischen Sinn, sondern weit darüber hinaus? Es geht letztlich um die Bildung eines Sensoriums aufseiten des Menschen für eine „neue, radikale Gegenseitigkeit“. Nach Weber steht die Biologie vor einem „sentimentalen Quantensprung“, wenn sie sich endgültig vom „Maschinenmodell der Natur“ verabschiedet. Durch Poesie könne eine neue Wissenschaft gegründet werden, eine Wissenschaft vom Leben, die das Leben als Fühlendes in den Blick zu nehmen in der Lage sei. „Wir alle, wir verletzlichen Körper, sind durch und ineinander, und dieses Durch- und Ineinander ist keine effizient absurrende Mechanik, sondern ein seelisches Geschehen intensivster Betroffenheit.“5

Bäume schließen Freundschaften (Peter Wohlleben)

Der Förster Peter Wohlleben entdeckt dieses „seelische Geschehen“ im Leben der Bäume: Knorrige Reste von oberflächlich abgestorbenen Bäumen leben weiter, weil sie – so meint er – von unterirdischen Wurzelgruppen anderer Bäume am Leben erhalten werden. Allerdings nicht allen abgestorbenen Bäumen werde solch ein Schicksal zuteil. Bäume sind nach Auffassung von Wohlleben wählerisch. Sie unterscheiden, mit wem sie sich vernetzen, sie bilden Freundschaften aus. Tatsächlich spricht er von Zuneigung und einem Grad an Verbundenheit, die man bei Bäumen feststellen könne. Die Freundschaft könne sogar bis hin zum gemeinsamen Sterben gehen: „Ein echtes Freundespaar dagegen achtet von vornherein darauf, keine allzu dicken Äste in Richtung des anderen auszubilden. Man will sich nicht gegenseitig etwas wegnehmen und bildet kräftige Kronenteile daher nur nach außen, also zu den ‚Nichtfreunden‘ hin. Solche Paare sind so innig über die Wurzeln verbunden, dass sie manchmal sogar gemeinsam sterben.“6 Über Duftstoffe sprechen Bäume miteinander, ähnlich wie der Mensch über Düfte kommuniziere. Im Gegensatz zu Kulturpflanzen (Zivilisationskritik!) besitzen Wildpflanzen laut Wohlleben Zugang zum WWW (Wood Wide Web), dem unterirdischen Kommunikationsnetz, das mithilfe von Pilzgeflechten funktioniere. Zudem können Bäume lieben und haben einen Charakter.

Mit seinem Buch möchte Wohlleben wachrütteln und das Bewusstsein wecken für eine Welt, die der Wissenschaft allmählich zugänglich werde, die aber durch Ignoranz mehr denn je bedroht sei.

Fische sind Individuen mit eigener Würde (Jonathan Balcombe)

Ähnlich wie Peter Wohlleben seine Stimme für die Bäume erhebt, tut es Jonathan Balcombe für die Fische. Schon der Untertitel seines Buches „Was Fische wissen“ gibt zu erkennen, dass hier eine Angleichung an vormals für den Menschen reservierte Eigenschaften versucht wird: „Wie sie lieben, spielen, planen: unsere Verwandten unter Wasser“, so setzt er die Aufzählung fort. Balcombes Kernthese lautet: Fische sind Individuen, deren Leben einen Eigenwert unabhängig von ihrem Nutzwert besitzt. Darum seien sie in die Moralgemeinschaft der Menschen aufzunehmen. „Vielmehr ist es die Empfindungsfähigkeit – die Fähigkeit, zu fühlen und Schmerz oder Freude zu empfinden –, die die Grundlage jeder Ethik bildet. Das ist es, was jemanden als Teil der Moralgemeinschaft qualifiziert.“7 Dafür zieht er besonders wissenschaftliche Erkenntnisse heran, die seiner Ansicht nach belegen: Fische empfinden Schmerzen und dürfen deshalb nicht leiden; sie verfügen über ein Schmerzgedächtnis; sie besitzen einfache Formen von Intelligenz, manche Fischarten sogar fortgeschrittene Formen wie einfachen Werkzeugbau und Planung. Aus seinen viel zitierten wissenschaftlichen Studien und Beobachtungen zieht Balcombe den Schluss: Fische sind Individuen, die deshalb eine eigene Würde besitzen.

Ein Tier ist, wie es ist (Norbert Sachser)

Der Verhaltensbiologe Norbert Sachser stützt in vielerlei Hinsicht die These, dass Tiere viel menschlicher seien als bisher angenommen. Dabei geht er nicht auf einen gesonderten Bereich ein, sondern zeigt an unterschiedlichen verhaltensbiologischen Experimenten mit Tieren auf, dass diesen Personalität zuzusprechen sei. Tiere, auch solche gleicher Art und gleicher Herkunft, verfügen über unterschiedliche Charaktere. Manche seien zurückhaltend, manche eher extrovertiert. „Auch ein Tier ist, wie es ist. Es hat einen Charakter, eine Tierpersönlichkeit, die sich in vielen Lebenslagen zeigt und nicht beliebig verändert werden kann.“8 Zudem seien Tiere lernfähig und keine Spielbälle ihrer Instinkte. Obzwar Sachser die These starkmacht, dass die Monopolstellung der Vernunftbegabung des Menschen nicht zu halten sei, geht er dennoch auf Unterschiede zwischen Mensch und Tier ein, z. B. Sprachfähigkeit, Abstraktionsvermögen, Reflexionsvermögen.

Ein Habicht hilft bei der Selbstfindung (Helen Macdonald)

Helen Macdonalds Bestsellerroman beschreibt die Geschichte zwischen ihr und einem Habichtweibchen namens „Mabel“, das sie sich als Falknerin zulegt und abrichtet. In einer Lebenskrise steckend, hilft ihr die Beziehung zu ihrem Greifvogel, sich selbst wieder neu zu entdecken. Der Roman beschreibt allerdings nicht, wie sich beide immer mehr annähern, sondern zeigt auf, dass zwei Welten zusammenkommen, die sich niemals verstehen können. Zwar ist die Natur hier in Form des Habichts ein Hilfsmittel zur Selbstfindung, sie verbleibt aber in ihrer Eigentlichkeit und wird – im Unterschied zu den anderen Texten – nicht vermenschlicht. „Von all den Lektionen, die ich in den Monaten mit Mabel gelernt habe, ist dies die wichtigste: dass es da draußen eine Welt voller Dinge gibt – Felsen und Bäume und Steine und Gras und alles, was kriecht, läuft und fliegt. Sie stehen alle für sich, doch wir machen sie uns begreiflich, indem wir ihnen Bedeutungen verleihen, die unsere eigenen Weltanschauungen stützen. In der Zeit mit Mabel habe ich gelernt, dass man sich menschlicher fühlt, wenn man erst einmal erfahren hat … wie es ist, nicht menschlich zu sein.“9

Einschätzungen

Nature Writing liegt im Trend. Aus weltanschaulicher Sicht scheint der Versuch vorzuliegen, über ein neues Verständnis der außermenschlichen Natur das Verhältnis des Menschen dazu auf eine neue Bewusstseinsstufe zu heben.

Uns stellte sich u. a. die Frage, wo wissenschaftliche Erkenntnisse übernommen werden müssen, weil sie etwas Neues aussprechen, und wo Begriffe unrechtmäßig vom Bereich des Menschen auf den der nichtmenschlichen Natur übertragen werden, um eine Egalität anzudeuten, wo in Wirklichkeit keine ist. Es ist leicht, sich mithilfe von Begriffen wie Freundschaft, Charakter, Liebe und Vernunft einer Wirklichkeit anzunähern, die durch naturwissenschaftliche Experimente immer besser verstanden wird. Dass diese Anwendung allerdings immer rechtmäßig geschieht, darf angezweifelt werden. Der Eindruck, dass überall dort, wo die Empirie an ihre (auch verbale) Grenze stößt, anthropomorphe Begriffe angewendet werden, lässt sich nicht ganz aus der Welt schaffen. In Bezug auf Peter Wohlleben stellt Jedediah Purdy etwas sarkastisch fest: „Liest man diese Darstellungen als Beweis für ein Bewusstsein und für eine eigenständige Kultur außerhalb der unseren, so sind sie nicht weit von Märchen entfernt. Aber von der Evolutionspsychologie über die Verhaltensökonomie bis hin zu Wohllebens Kleinbürger-Panpsychismus, spekulative Wissenschaft ist das Gesellschaftsspiel unserer Zeit und unserer Zivilisation.“10

Purdy stellt dem gegenwärtigen Nature Writing insgesamt kein gutes Zeugnis aus, wenn er am Ende konstatiert, Naturliteratur klopfe nur an die Oberfläche der Welt und warte auf eine Antwort, die nur das eigene Echo des Menschen sei. Andreas Weber hingegen schließt nachdenklich mit einem Plädoyer für mehr Gegenseitigkeit, das durch das Nature Writing gewonnen werden könne. „Wir sind lebendig, und die anderen sind es auch. Aber wir sind es nur miteinander und durch einander, in der Sehnsucht, zu blühen, indem mein Gegenüber blühen darf.“11

Unabhängig davon, wie der neue Trend des Nature Writing im Einzelnen zu bewerten ist, zeigt er doch ein gegenwärtiges Bedürfnis an, sich als Mensch nicht gegen seine nichtmenschliche Natur zu stellen, sondern mit ihr als ganzheitliches Lebewesen zu leben. Das erkennt auch Purdy an, obwohl die Autorinnen und Autoren seiner Ansicht nach scheitern. Sicherlich spielt die ökologische Krise als motivierender Faktor eine wichtige Rolle. Auffällig ist, dass das angestrebte Mensch-Natur-Verhältnis bei vielen Autoren offensichtlich nur dann zu gewinnen ist, wenn der Natur (vormals) menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Das Tier ist Person, der Fisch denkt und der Baum ist Freund. Weltanschaulich könnten solche Vorstellungen animistisch gedeutet werden. Nicht im Sinne einer ethnischen Religionsbeschreibung, sondern als Konzept, das die gesamte Natur als gefühlsbegabt, mit einer Innenwelt ausgestattet und beseelt denkt. Wer einmal diese Überzeugung übernommen hat, kann die Konsequenz ziehen, den Subjektbegriff auf alles Lebendige anzuwenden, was zur Folge hätte, dieselbe moralische Verantwortung für die nichtmenschliche wie für die menschliche Natur zu haben.

Dem christlichen Schöpfungsglauben steht diese Deutung der Natur als gewissermaßen menschliches Gegenüber entgegen, wobei sich durchaus Parallelen in der Christentumsgeschichte finden lassen, wo Mensch und Natur in einem dialogischen Verhältnis zueinander stehen; erinnert sei zum Beispiel an den großen Sonnengesang von Franz von Assisi, in dem er die kreatürliche Nähe seiner Umwelt als brüder- und schwesterliche Mitwelt bezeichnet. Doch der Mensch als Subjekt gedacht, als Verhältnis zu sich selbst, das in der Freiheits- und Liebesmöglichkeit des Menschen kulminiert, hält nach christlicher Auffassung damit Krönungsinsignien in der Hand, die den Menschen als Ebenbild Gottes auszeichnen und ihn damit zu dessen Bundespartner in dieser Welt werden lassen (können). Bäume, Fische und Vögel sind hingegen Kreaturen Gottes, ihnen gegenüber gilt es für den Menschen, dieser Kreatürlichkeit mit einem angemessen respektvollen und würdevollen Umgang zu entsprechen. Denn die Gemeinsamkeit liegt darin, sich nicht selbst das Leben geschenkt zu haben.

Aus christlicher Sicht gilt es deshalb, die neuen Forschungen ernst zu nehmen und darauf zu achten, wo der Blick auf die Mitwelt alte Vorurteile sprengen kann. Dabei sollte jedoch die begriffskritische Brille nicht vorschnell abgesetzt werden. Was von den Naturwissenschaften zu lernen ist in Bezug auf das Verhalten unserer Mitgeschöpfe, ist erstaunlich. Steht den Autorinnen und Autoren des Nature Writing die – christlich gedeutet – Erhaltung der Schöpfung vor Augen, dann sind sie durchaus wichtige Dialogpartner. Sollte allerdings die einmalige Würde des Menschen durch eine vorschnelle Anthropologisierung der außermenschlichen Natur relativiert werden, dürfte der vorsichtige Widerspruch angemessen sein.


Anmerkungen

  1. Der folgende Beitrag kann deshalb nur eine grobe Skizze darstellen.
  2. Andreas Weber: Schläft ein Lied in allen Dingen, in: Die Zeit vom 15.2.2018, 42, www.zeit.de/2018/08/natur-buecher-zeitschriften-erfolg/komplettansicht .
  3. Jedediah Purdy: Über Nature Writing. Denken wie ein Berg, Deutschlandfunk, www.deutschlandfunk.de/ueber-nature-writing-denken-wie-ein-berg.1184.de.html?dram:article_id=401479  (Abruf: 28.1.2019).
  4. Ebd.
  5. Weber: Schläft ein Lied in allen Dingen (s. Fußnote 2).
  6. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Was sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt, München 2015, 12.
  7. Jonathan Balcombe: Was Fische wissen. Wie sie lieben, spielen, planen: unsere Verwandten unter Wasser, Hamburg 2018, 286.
  8. Norbert Sachser: Der Mensch im Tier. Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind, Reinbek b. Hamburg 2018, 196.
  9. Helen Macdonald, H wie Habicht, Berlin 2016, 377.
  10. Purdy: Über Nature Writing (s. Fußnote 3).
  11. Weber: Schläft ein Lied in allen Dingen (s. Fußnote 2).