Rüdiger Braun

Universelle Werte und das koloniale Ihr

Zur Metaphysik des postmigrantischen Narrativs

Der folgende Artikel knüpft an einen Beitrag an, der unter dem Titel „White Supremacy und das neue deutsche Wir. Zur Physik des postmigrantischen Narrativs“ in der ZRW 5/2022 (347 – 361) erschienen ist.

Einer jeden Erzählung liegt ein Interesse, eine Perspektivik zugrunde, Grundierungen, die den Inhalt und die Form dessen, was erzählt wird, grundlegend (mit)bestimmen. Auch das in der ZRW 5/2022 thematisierte postmigrantische Narrativ ist davon nicht ausgenommen. Dessen Konturen und Grundaussagen (die Physik des Narrativs sozusagen) sind dort in zwei Abschnitten – nach einer Problemanzeige („Rassismus überall“) folgten die Weichenstellungen („Haltung statt Herkunft“) – ausschnitthaft beschrieben worden. Dazu gehören u. a. die sich auf den ersten Blick unmittelbar erschließende Annahme eines systemischen Rassismus (1.2f), die mit diesem Rassismus verbundene Konstruktion eines Gegenbildes (1.4f), die als notwendig erachtete Umgestaltung der Repräsentationsverhältnisse (2.1f) sowie der Rückgriff auf transkulturelle weltanschauliche Ressourcen (2.4).

Um das transformative Potenzial dieser für das postmigrantische Narrativ so grundlegenden Momente zu erfassen, bedarf es eines Blicks über deren explorative und kognitiv nachvollziehbaren Erzählformen hinaus auf die Prämissen, die diesem Narrativ im- und explizit vorgeschaltet sind. Wenn hier – wie bereits im Untertitel dieses Beitrags – mit Blick auf diese Prämissen von Metaphysik die Rede ist, dann selbstredend nicht im (scholastisch-theologischen) Sinn einer hinter oder über (meta) den Phänomenen imaginierten transzendenten Wirklichkeit, sondern im aristotelischen Sinn der Frage nach den grundlegenden Vorannahmen bzw. Setzungen, von denen her Phänomene in den Blick genommen und beurteilt werden.1

1  Paradoxien der Identitätspolitik – Haltung und / oder Herkunft

1.1  Dilemmata: Muslimisierte Migranten und Misstrauenskultur

Ozan Keskinkılıç, ein im kirchlichen und bildungspolitischen Bereich gefragter Referent insbesondere zu Fragen des antimuslimischen Rassismus, stellt sich in Muslimaniac (2021) die Frage, wie es eine sich „als hypermodern, aufgeklärt und egalitär präsentieren[de]“ Gesellschaft schafft, einer Gruppe von Menschen pauschal „(vermeintliche) kulturell-religiöse oder phänotypische Kennzeichen“2 zuzuschreiben und sie damit – ganz unabhängig von ihrer tatsächlichen Zugehörigkeit – als Angehörige einer kulturell, ethnisch und religiös homogenisierten, „muslimischen“ Gruppe zu markieren. Keskinkılıç fragt nicht, warum vornehmlich Muslime bzw. als muslimisch gelesene Menschen mit solchen Zuschreibungen konfrontiert werden. Er verweist schlicht auf die Stellvertreterfunktion muslimischer Geflüchteter und Migranten, die als die „Anderen“ gleichsam repräsentativ für „das Unerwünschte“, das heißt für Lebenskonzepte und Einstellungen stehen, die in der Mehrheitsgesellschaft zwar vorhanden, politisch aber nicht gewollt sind und die sich an „die Muslime“ delegieren lassen.

Dass islamfeindliche Ressentiments und Narrative den Muslimen und solchen, die dafür gehalten werden, den Eintritt in den Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt erheblich erschweren, ist in der islambezogenen Forschung hinreichend aufgezeigt worden.3 Der Ethnologe Werner Schiffauer spricht von einer „gestressten Gesellschaft“ und einem allgemeinen „Misstrauensdiskurs, der den Umgang mit den muslimischen Einwanderer*innen belastet und anstrengend macht“.4 Er lässt aber offen, was zu diesem (stress)belasteten Verhältnis zwischen muslimischen Zuwanderern und der autochthonen (größtenteils nichtmuslimischen) Bevölkerung beigetragen haben könnte. Bei der Suche nach Antworten dürften zweifellos die islamistischen Gruppierungen, die sich nach dem gegen Israel verlorenen Sechstagekrieg von 1967 formierten und mittlerweile seit über fünf Jahrzehnten das Bild des Islam zugleich prägen und verzeichnen, eine erhebliche Rolle spielen. Deren insbesondere seit den 2000er Jahren weltweit aufsehenerregende Anschläge und die zunehmende Ausbreitung extremistischer Vorstellungen haben den historisch ohnehin schon negativ belasteten Blick auf den Islam und dessen Angehörige nochmals erheblich getrübt. Hinzu kommt, dass der sogenannte politische Islam und die ihm nahestehenden Gruppierungen und Verbände das in Europa nach den konfessionellen Bürgerkriegen im 17. Jahrhundert mühsam ausgehandelte Verhältnis von Religion und Gesellschaft sehr viel grundlegender infrage stellen als andere religiöse Gruppierungen. Sie provozieren damit Debatten über religiöse Vorstellungen, die in Deutschland spätestens ab den 1970er Jahren als überwunden galten. Die politische Instrumentalisierung der Islamdebatte führt dann in der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung um das Selbstverständnis westlicher Nationalstaaten fast zwangsläufig zu einer Rhetorik der Ausgrenzung gegenüber den Muslimen: Schon der für eine Form des religiös begründeten Extremismus verwendete Begriff des „Islamismus“ suggeriert ein Potenzial des (als expansive politische Ideologie verstandenen) Islam zum Extremismus.

1.2  Setzungen: Radikale Vielfalt vs. koloniale Exklusionsmechanismen

Das postmigrantische Narrativ begründet die gegenwärtigen „Praktiken des antimuslimischen Rassismus, der symbolischen Ausgrenzung und eines mit einem defizitären Migrationsverständnis verbundenen Integrationsdiskurses und dessen Exklusionsmechanismen“5 mit einem sehr viel ausgreifenderen, weit über die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts hinausgehenden Blick: Verantwortlich dafür ist das kontinuierliche Fortwirken kolonialer Muster und eines identitären Narrativs, das ausgehend von einer „nationalstaatlich organisierten“, dem „Paradigma sprachlicher, kultureller und ethnischer Norm“6 unterliegenden Gesellschaft die Grenzen zwischen „uns Deutschen“ und „den Ausländern“ zu erhalten sucht.

Während für Keskinkılıç die deutsche Kolonialzeit (1884 – 1918) sowie die Zeit des Nationalsozialismus (1933 – 1945) gleichsam die Kumulation deutscher (Imperial-)Geschichte zu repräsentieren scheint, lässt El-Mafaalani die „rassistische Herrschaftsideologie“ mit der Entdeckung Amerikas und der Reconquista (1492) beginnen. Beide plädieren engagiert für die Kultivierung einer postmigrantischen Praxis, die sich – in den Worten Keskinkılıçs – an einer „Vision radikaler Vielfalt“ orientiert, „den Sehnsüchten nach Homogenität und Eindeutigkeit einen Strich durch die Rechnung macht …, den Versuchungen der Integration widersteht, … die deutsche ‚Leitkultur‘ stört“ und davon träumt, „ohne Scham und ohne Angst muslimisch“ zu sein. In der Sehnsucht nach offenen Zugehörigkeiten trifft sich Keskinkılıç7 mit Hadija Haruna-Oelker, die in ihrer Migrationsstudie von „transnationalen Lebensweisen“8 und „vielfältigen, interkontinentalen Werten“ spricht. Sie betont außerdem, „dass noch nie alle Deutschen weiß waren und ‚unsere Werte‘ neu überdacht werden müssen“9. Thomas Heppener vom Referat „Demokratie und Vielfalt“ im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nahm zum zehnjährigen Jubiläum der Jungen Islam Konferenz (JIK) dieses Anliegen auf und beschrieb die Förderung der JIK als notwendigen „Beitrag für eine chancengerechte Gesellschaft, die nicht fragt, woher man kommt, sondern wohin man will, … mit einem gemeinsamen Blick in die Zukunft!“10

1.3  Reduktionen: Affirmierte Identitäten und gesellschaftliche Wohlfahrt

Die Frage jedoch, warum für den gemeinsamen Blick in die Zukunft Herkünfte, religiöse und kulturelle Prägungen und migrantische Erfahrungen keine Rolle mehr spielen sollen, lassen die so betont transkulturellen Interventionen des postmigrantischen Narrativs unbeantwortet. Dabei bleiben sie selbst, so vehement sie auch die das zivilgesellschaftliche Miteinander immer noch beherrschenden Vorstellungen kultureller Homogenität zu durchbrechen suchen, unverkennbar einer allen Bewusstseinsprozessen zugrunde liegenden Logik verpflichtet: jener Logik des menschlichen Bewusstseins, das sich in der empirischen Wahrnehmung von Wirklichkeit und im Umgang mit ihr immer schon an der Gegenüberstellung von Identität und Differenz orientiert.

Dies zeigt sich insbesondere dort, wo die Klage über den noch immer virulenten Kolonialismus und die systemische Ungerechtigkeit der als rassistisch und hegemonial empfundenen westlichen Kultur mit den eigenen Diskriminierungserfahrungen zu einem Narrativ verwoben wird, das die Muslime zu allen Zeiten und an allen Orten als verfolgt, kolonialisiert, diskriminiert und ausgeschlossen sieht, das dabei aber einen großen Teil der eigenen Vergangenheit und Gegenwart ausblendet.

Ebenso wie die längst vergangene Herrschaft der muslimischen Umayyaden, Almohaden, Osmanen und Moguln lässt sich auch, um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen, die gegenwärtige neo-osmanische Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyib Erdoğan schwer ohne imperiale, koloniale und hegemoniale Dynamiken und ihre Begleiterscheinungen denken. Die völkerrechtswidrige, in einem „Sicherheitskorridor“ im Norden Syriens vorgenommene Ersetzung der (größtenteils kurdischen) Bevölkerung durch neu angesiedelte arabische Syrer macht nicht nur Entgegensetzungen von einem kolonial-hegemonialen Westen hier und einer unterdrückten islamischen Welt dort obsolet. Sie steht auch quer zu den in der migrationspolitischen Debatte gängigen Gegenüberstellungen von (autochthonen) Mehrheiten hier und (allochthonen muslimischen) Minderheiten dort. Denn ebenso heterogen und vielfältig wie die „Mehrheiten“ präsentieren sich die nach Deutschland zugewanderten Minderheiten: Sunnitische Türken, sunnitische und schiitische Syrer, Iraker und Afghanen sowie Kurden, Yeziden und orientalische Christen verschiedenster Denominationen kämpfen in der bundesdeutschen Gesellschaft nicht nur miteinander, sondern auch gegeneinander um Anerkennung ihrer eigenen (oft schmerzhaften) Erinnerungskulturen. Insbesondere für Yeziden und orientalische Christen ist Migration zutiefst mit der Erinnerung an ein ihnen durch muslimische Extremisten zugefügtes und immer wiederkehrendes Leiden verbunden. Zugleich begleitet sie die Frage, wie langlebig sich angesichts der extremen Kräfte des religiös Anderen ihre in Europa neu gewonnene Freiheit zur Ausübung ihrer Religion erweist.11

Angesichts der hier nur angedeuteten weiterhin zunehmenden Pluralisierung heterogener Lebens- und Erinnerungskulturen erweist sich die Perspektive des postmigrantischen Narrativs in der Lesart der vorgestellten Protagonisten als verengt: Hier ist der Kolonialist und Imperialist vornehmlich der weiße Mann, der im Namen der Moral als Rassist markiert und als Kollektiv imaginiert wird. Damit verengt sich auch die Wahrnehmung von (historischer) Schuld. Sie ist nun nicht mehr eine Frage der individuellen Verantwortung, sondern die Konsequenz eines ebenso naturhaften wie sozialen Kausalzusammenhangs, dem der weiße Mann / die weiße Frau unentrinnbar angehört: „Die Machtfrage“, so formuliert der Marburger Theologe Dietrich Korsch, „wird als Schuldfrage codiert“, die Zuschreibung von Schuld selbst aber nicht mehr als (wirkmächtiger) Akt der Macht wahrgenommen. Zugleich wird die im (nicht nur historischen) Rassismus zentrale Kategorie von Religion oder Hautfarbe nun zu einem „selbst affirmierten Identitätsmoment“, zu einem „Distinktionsmarker und Wertträger“.12

Die Herausstellung von kultureller Diversität ist somit für sich selbst genommen noch nicht in der Lage, die beschriebene Dialektik des Gegensatzes von Identität und Differenz zu unterlaufen: „Die moralische Aufladung politischer Konflikte führt“, so Korsch, „eher zu einer Verschärfung der Differenzen anstatt zur Förderung gegenseitiger Anerkennung“. Und sie veranlasst, so wäre hinzuzufügen, zur politischen, den Raum der Freiheit gegebenenfalls auch begrenzenden Intervention. Denn der hohe Wert, den das moderne rechtsstaatlich verfasste Gemeinwesen eben dieser kulturellen Diversität zuspricht, fordert die Politik in Verbindung mit menschenrechtlichen Erwägungen zur Menschenwürde (Art. 1 GG) zugleich zu einer Aufwertung von Minderheiten auf. Diese beziehen ihr Recht auf Anerkennung, anders als die etablierten, das „Allgemeine“ repräsentierenden und ohnehin privilegierten Mehrheiten, gerade aus diesem als exemplarisch „anders“ markierten Besonderen.

Zugleich steigen mit der zunehmenden Teilhabe von Bürgern mit Migrationshintergrund an der Zivilgesellschaft die an dieselbe Gesellschaft gestellten Erwartungen. Die Grünen-Politikerin Aminata Touré spricht von einer Generation, „die nicht mehr darum bitten möchte, als gleichberechtigt akzeptiert zu werden, sondern einfordert, was Deutschland diesen Kindern schon lange versprochen hat“.13 Zur Legitimierung der Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit, größerer politischer Anerkennung und umfassenderer Teilhabe setzt das postmigrantische Narrativ auf eine ausdrücklich moralische Aufladung des eigenen Kampfes gegen die Klassismen und Rassismen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Dabei sind die spezifischen Wertpräferenzen der „mehr Demokratie“ fordernden jüngeren Generationen auch die Konsequenz einer in den 1990er Jahren einsetzenden und in den 2000er und 2010er Jahren nochmals verstärkten, weil politisch induzierten Ausweitung gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt.

Die vergangenen drei Jahrzehnte – in migrationspolitischer Hinsicht geprägt von Maßnahmen gegen fremdenfeindliche Übergriffe (1990er: Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen usw.), von Antiterrormaßnahmen nach 2001, von der Finanzkrise 2008 sowie von einer zunehmenden, durch die Arabellion und den syrischen Bürgerkrieg (2011f) mit ausgelösten und beförderten Zuwanderung – haben die Politik zu einer zunehmenden Privilegierung von Gemeinwohl und Zusammenhalt veranlasst, mit der liberale Forderungen nach individueller Selbstbestimmung sowie nach einer ausgreifenderen, das religiöse Konfliktpotenzial zurückdrängenden Säkularisierung des öffentlichen Raumes zunehmend in den Hintergrund treten.

2  Blinde Flecken – Dialektische Ordnung und interkulturelle Nachahmung

2.1  Nebenprodukte des Kolonialismus: Emanzipation und Religionskritik

Die politische Notwendigkeit der Gewährleistung des gesellschaftlichenZusammenhalts drängt in Verbindung mit dem Erhalt kultureller und religiöser Diversität noch etwas anderes, nicht weniger Wichtiges zurück: die in Deutschland einst ausgeprägte Kultur aufklärerischer Religionskritik. So führt die Tendenz des postmigrantischen Narrativs zur Moralisierung gesellschaftspolitischer Herausforderungen zu einer Ausblendung der zutiefst miteinander verflochtenen Lebenswelten von Religion, Politik und Kultur. Grundlegende gesellschaftliche Fragen rund um Kultur, Integration, Bildung, Diskriminierung und Radikalisierung würden, so die Überzeugung, zu Unrecht mit Religion verknüpft und nur dazu genutzt, gegenüber den Zugewanderten rassistische Zuschreibungen vorzunehmen.14 Zur Bearbeitung gesellschafts- und migrationspolitischer Fragen, in denen es, so Keskinkılıç, „nur scheinbar um Religion, in Wirklichkeit aber um Rasse“ geht, bedürfe es „einer rassismuskritischen Bildung, nicht aber eines Wissens um Religion“.15

Keskinkılıç strebt ebenso wie El-Mafaalani eine Überwindung verdinglichender -ismen wie Rassismus, Kolonialismus, Orientalismus an, unterlässt es aber, die dafür notwendige historisch-genealogische Analyse der Dialektik der damit beschriebenen Phänomene vorzunehmen. So kommt sein Ansatz, der darauf abzielt, „den Kultur-Kanon zu irritieren und neue Selbstentwürfe zu entwickeln“, überraschenderweise ganz ohne eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit diesem (ja nicht allein auf die Jahre 1884 bis 1918 und 1933 bis 1945 beschränkten) Kultur-Kanon aus. Erst eine solche aber würde das enge Verflochtensein nicht nur von Religion und Bildung(sbegriff), sondern auch von Religion und Kultur kritisch in den Blick nehmen können.

Wer den Beitrag des Kolonialismus, der christlichen Mission und der Orientalistik zur Ausbildung imperialistischer und rassistischer Denkmuster bewerten möchte, wird auch aufzeigen müssen, wie eben diese historischen Phänomene zugleich jene Werkzeuge mitlieferten, ohne die sich die Konstruktion post-imperialistischer Weltanschauungen, wie sie heute gepflegt werden, gar nicht denken lässt. Das 19. Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert eines imperialen, mit kulturalistischen Rassismen verbundenen Kolonialismus. Es war im selben Moment – mit diesem Kolonialismus ebenso nutznießerisch wie widerstrebend verbunden – das Jahrhundert der von der (insbesondere protestantischen) Mission beförderten Verbreitung und Übersetzung der Bibel als einer der wohl wirkmächtigsten Faktoren der Emanzipation in der Geschichte der Moderne. Die Welt der Übersetzung, die das Studium und die Verschriftlichung unzähliger Sprachen, die Verbreitung der Druckerpresse, das Projekt der Alphabetisierung und die Errichtung einer Printkultur16 immer mit impliziert, wurde zu einem Schlüssel kritischer Interpretation: Die ursprünglich missionarisch intendierte Übersetzungsarbeit ermöglichte die kritische Rückfrage an den Text, die Infragestellung und Neueinordnung biblischer Berichte und die durch eben diese Infragestellung forcierte ethische wie publizistische Diskussion zu Formen von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit.

Insofern lässt sich die in der religionsgeschichtlichen Schule Ende des 19. Jahrhunderts formulierte und im 20. Jahrhundert nochmals ausdifferenzierte wissenschaftliche Bibelkritik auch als ein emanzipatorisches Nebenprodukt des europäischen Kolonialismus verstehen. Und auch die sich Ende des 19. Jahrhunderts formierenden hinduistischen, buddhistischen und muslimischen Reformbewegungen lassen sich nur vor dem Hintergrund der Verwendung der Bibelkritik sowie der aus dem Vereinigten Königreich und den USA stammenden Pamphlet-Literatur begreifen: Innerchristliche Stimmen wurden aufgenommen und dann – wie dies exemplarisch die Religionsdebatten zwischen den Bikkhu und den singhalesisch-methodistischen Predigern in den 1870er Jahren zeigen – gegen die Missionare gewendet. Gegnerschaft und Imitation waren in diesen interkulturellen Austauschprozessen untrennbar miteinander verbunden.

2.2  Herkunft und universale Spiritualität

Angesichts des programmatischen Mottos „Haltung statt Herkunft“ eher unerwartet, überrascht das postmigrantische Narrativ mit dem wiederholten Aufruf zu einer transnationalen Vernetzung, die explizit die bleibende Verbindung allochthoner Deutscher mit ihren Herkunftsländern betont. Entgegen dem durch das Motto vermittelten Eindruck spielen die Topoi „Herkunft“ und „Heimat“ auch für die zweite und dritte Generation der Zugewanderten in der Gestaltung ihrer (post)migrantischen Zukunft eine tragende Rolle. So wurde in der Jubiläumsveranstaltung der Jungen Islam Konferenz wiederholt darüber diskutiert, wie sich „die Kämpfe hier im globalen Norden mit den Kämpfen in den postkolonialen Regionen, in unseren Heimatländern verknüpfen“ und wie sich auf diese Weise die schwerfälligen Migrationsdebatten in Deutschland zugleich „europäisieren“ und „globalisieren“17 ließen. Auch Haruna-Oelker betont in ihrer Studie zur postmigrantischen Zukunft wiederholt „die Solidarität der Zugewanderten zu ihren Herkunftsländern“18, spricht von der in ihrer Familie in Ghana väterlicherseits gelebten muslimischen Kultur der Hausa, von den Hausa selbst als einer in weiten Teilen Nord-, West- und Zentralafrikas lebenden „Volksgruppe“ und davon, dass „das wichtigste Gut, das die Hausa mit nach Europa brachten, ihre Religion [war], was übrigens für viele Volksgruppen gilt“.

Nicht weniger überraschend als die bleibende Hochschätzung von Herkunft und Heimat ist das Engagement, mit dem nun ausgerechnet die spirituellen Ressourcen der Religion als Vademecum für den in der religiös pluralen Einwanderungsgesellschaft gefährdeten Zusammenhalt empfohlen werden. Dass dabei die „einheimische“ christliche Tradition aufgrund ihres vermeintlich exklusivistischen und zudem zutiefst mit dem (post)kolonialen Imperialismus verbundenen Gepräges eher als negative Hintergrundfolie in den Blick kommt, ist kaum überraschend. Eher schon der Umstand, dass die in Deutschland geborene und sozialisierte Muslima Haruna-Oelker die Funktion einer die Einheit und Verbundenheit der Menschen befördernden weltanschaulichen Ressource nicht zuallererst dem Islam, sondern der afrikanischen, nur mittelbar mit ihrer eigenen Herkunft verbundenen Philosophie des Ubuntu zuspricht. Die auf gegenseitiger Anerkennung und Achtung basierende Perspektive des Ubuntu stellt dem kartesianischen cogito („Ich denke, also bin ich“) die emotio, das Fühlen („Ich fühle, also bin ich“) gegenüber und zielt, so auch die Bedeutung des den Bantusprachen entlehnten Wortes ubuntu, auf den „Gemeinsinn“ bzw. das Bewusstsein, Teil eines größeren Ganzen zu sein: „Ich bin, weil wir sind.“

„Simunye – ‚Wir sind alle eins‘, bedeutet ‚Einheit ist Stärke‘ und Aussprüche wie ‚eine Verletzung eines Menschen ist eine Verletzung aller‘ markieren das Einigungsziel zum Wohle aller.“

Keskinkılıç liest dieses auf die Wohlfahrt aller hin ausgerichtete Einigungsziel erwartungsgemäß aus dem Koran, konkret aus einem an die Juden gerichteten Talmud-Zitat (Q 5,32), dem zufolge derjenige, „der ein Leben erhält“, wie einer gelten soll, „der die ganze Menschheit am Leben erhält“. Er interpretiert diesen Vers, unter Ausblendung seines Kontextes, als eine – für ihn selbst zutiefst mit dem Signifikanten „Islam“ verbundene – Aufforderung zu einem „liebevollen und friedlichen Miteinander im Streben nach Erlösung und Glück, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und tiefer Spiritualität“.19 Diese Spiritualität, konkret „die Kraft einer schöpferischen Spiritualität für Mensch, Natur und Gesellschaft“, sowie alle mit ihr verbundenen, der islamischen Religion und Kultur zugehörigen „geschichtlichen, philosophischen und wissenschaftlichen Errungenschaften“ kommen, so Keskinkılıç in der „Selbstrepräsentation“ des Islam zu kurz und müssen daher in der zukünftigen interreligiösen „Begegnung auf Augenhöhe“ erneut ins Bewusstsein gebracht werden. Als Beispiel für diese Spiritualität und deren kreative und kulturelle Verarbeitung religiöser Themen dient ihm nicht nur Rūmī (1207 – 1273), der große persische Mystiker und Verfasser der 30 000 „geistigen Zweizeiler“ (Masnawī-ye Ma’nawī), der Bibel des sufischen Islam, sondern auch schon der einfache Muslim: Schon im Moment seiner Geburt wird dieser durch den adhān, den muslimischen Gebetsruf, zum Repräsentanten jener Spiritualität der Barmherzigkeit, wie sie sich schon im Koran in der fast allen Suren vorangestellten Bismillah vom „allbarmherzigen Erbarmer“20 manifestiert.

2.3  Autonomisierte Religion und kulturelle Souveränität

Die einer universalen Mystik verpflichteten Lesarten von Ubuntu und Islam bei Haruna-Oelker und Keskinkılıç lassen sich mit dem in Verbindung bringen, was der niederländische Religionswissenschaftler Arie Molendijk als Autonomisierung des Religionsbegriffs beschreibt: Im Zuge eines mit den politischen Umbrüchen in Europa seit der Aufklärung verbundenen Transformationsprozesses entwickelt sich ein Verständnis von „Religion“ als einer „überwältigenden inneren Erfahrung der Abhängigkeit vom Absoluten“ und damit als einer „eigenständigen Sphäre der menschlichen Kultur“.21 Einstmals eine privilegierte, alle Bereiche des Lebens umfassende Sphäre wird „Religion“ in der Moderne zu einem Raum, in dem „kollektive Ziele (Erlösung, Rechtschaffenheit, Gericht, Verurteilung usw.) individualisiert und zu einer Frage der persönlichen Präferenz, des Engagements oder der Moral werden“.22

Zugleich führt der durch den Kolonialismus im 19. Jahrhundert mit beförderte Religionskontakt zu einer zunehmenden, der interreligiösen Harmonie dienenden Privilegierung von „Erfahrung“ als Kategorie einer möglichst unbestimmten, als universale Ressource fungierenden Spiritualität. In dieser Auffassung von Religion als subjektive Erfahrung von Transzendenz erweist es sich als sekundär, ob Letztere nun als Gott, das Göttliche, das Absolute, das Numinose oder als das Nirvana / Nibanna beschrieben wird. Wesentlich ist vielmehr, dass die Kategorie der Spiritualität – zeitgleich zu ihrer dem interreligiösen Kontext geschuldeten Universalisierung – eine der partikular-abgrenzenden Identitätsfindung dienende Instrumentalisierung erfährt: Im selben Moment, in dem der bis ins 19. Jahrhundert noch vornehmlich mit dem Christentum und der Kirche konnotierte Begriff Spiritualität zur universalen Kategorie mutiert, wird „Spiritualität“ – mit Blick auf das Zeitalter des Kolonialismus nachvollziehbar – zu einer zentralen Kategorie kultureller Identität. Denn mit dem Kolonialismus entsteht das, was der indische Soziologe Partha Chatterjee in The Nation and its Fragments als „antikolonialen Nationalismus“23 beschreibt: eine von den Kolonisierten selbst vorgenommene Differenzierung, um nicht zu sagen: Aufspaltung sozialer Praktiken als (westlich) materiell und (östlich) spirituell. Sie impliziert eine „eigene Domäne der Souveränität“, die dem Bereich des Materiellen, Ökonomischen und Technischen, all dem also, worin sich der kolonisierende Westen als überlegen erwies, einen „inneren“, die „wesentlichen“ Merkmale kultureller Identität beinhaltenden Bereich gegenüberstellt:

„Je größer im materiellen Bereich der eigene Erfolg bei der Nachahmung westlicher Fertigkeiten ist, umso mehr besteht die Notwendigkeit, die Besonderheit der eigenen spirituellen Kultur zu bewahren.“

Chatterjees Reflexionen erlauben ein Verständnis dafür, warum Akteure des postmigrantischen Diskurses wie Keskinkılıç an einer vagen, offenen Begrifflichkeit von „Religion“ festhalten und diese zugleich – als jenseits und über der Geschichte schwebende heilige und spirituelle Essenz – mit einer dezidiert islamischen Mystik verbinden können. Einer Exegese, die Aktivismus und Mystik zusammenführt, fällt es dann nicht mehr schwer, von dieser Essenz aus – ohne sich mit hermeneutischen Reflexionen und Kontextualisierungen aufhalten zu müssen – gender-, frauen- und klimagerechte Interpretationen des Korans vorzulegen und den Islam, als außerhalb der Zeit stehende universale Religion, mit der Moderne in Einklang zu bringen.

Im Kontext (post)migrantischer Diskurse tritt dann, wie in den Ausführungen von Keskinkılıç ersichtlich, an die Stelle hermeneutischer Reflexionen die Adaption moderner Topoi wie Pluralismus, Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit, die anschließend auf die islamische Vergangenheit zurückprojiziert und dafür genutzt werden, den „authentischen“ Islam von all seinen unkultivierten Formen (Islamismus, Salafismus usw.) abzugrenzen. Die den nichtmuslimischen Orientalisten vorgeworfene, auf der Grundlage eigener westlicher Fantasien vorgenommene Verdinglichung und Essentialisierung des Islam wird hier nur in umgekehrter Richtung wiederholt. Gleiches gilt für das im postmigrantischen Narrativ so vehement propagierte transnationale antikoloniale „Wir“: Auch dieses „Wir“ impliziert ein ausgeschlossenes (koloniales) „Ihr“ und bleibt somit der allen Bewusstseinsprozessen zugrunde liegenden Gegenüberstellung von Identität und Differenz verpflichtet.

3  Notwendige Begrenzungen – Herrschaft und Moral

3.1  Bedingungen der Freiheit – Rechtsstaat vs. Heilsvergemeinschaftung

Auffallend ist, dass in den hier nur ausschnittsweise vorgestellten, mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Teilhabe einfordernden postmigrantischen Interventionen nur ganz am Rande, wenn überhaupt, von Freiheit die Rede ist. Das ist insofern erstaunlich, als die Topoi der Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat und der Gesellschaft, der Gleichheit vor dem Gesetz und der Gleichberechtigung gleichsam jene „transzendentalen Standpunkte“24 markieren, von denen her die säkulare Ordnung das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Weltanschauungen zu gestalten sucht.

In der Anerkennung dieser Freiheit bzw. der sie gewährleistenden Grundrechte distanzieren sich der moderne Rechtsstaat und seine pluralistischen Institutionen ausdrücklich davon, den Menschen im umfassenden Sinn einer „Heilsvergemeinschaftung“25 für Staats- und Gesellschaftszwecke in Anspruch zu nehmen: In der institutionellen Spannung zwischen subjektiver Freiheit und sozialem Sachzwang ist es allein das säkulare Recht, das, wie es Helmut Schelsky bereits in den 1950er Jahren formulierte, „zwischen unaufhebbarer Fremdbestimmung und immer erstrebter Selbstbestimmung der einzelnen Person kritisch und sozial vermitteln kann“. Was die Bundesrepublik in ihrer Rechtsordnung auszeichnet, ist der Versuch, die beiden Prinzipien des säkularen Staates, das Prinzip der Demokratie (Volkssouveränität) sowie das der Gewaltenteilung in einer „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ harmonisch zu verbinden. Dabei dürfte es kein Zufall sein, dass in dieser viel zitierten Formel das Prinzip der Freiheit dem der Demokratie vorangeht. Insofern markiert die Doppel-Formel „freiheitlich-demokratisch“ die grundsätzliche Gefährdung einer jeden freiheitlichen Ordnung gleich mit: Sie besteht darin, das demokratische Prinzip der Volkssouveränität dem der Gewaltenteilung überzuordnen und damit die Grundlage der „Checks and Balances“ der säkularen Ordnung zu desavouieren.

3.2  Transformationsbegehren und kontextuelle Begrenzungen des Guten

Wem nun entschieden an einer Transformation der gegenwärtigen (gefühlt immer noch kolonialen oder hegemonialen) Verhältnisse gelegen ist, wird schwer der Versuchung entgehen können, das demokratische Prinzip so weit wie möglich auszuweiten. Wer die Ungleichheiten in der Gesellschaft als unmittelbare Konsequenz kolonialer und rassistischer Logiken deutet, setzt umso vehementer auf die sozialen, postmigrantischen Verheißungen einer gesellschaftlichen Ordnung von Harmonie und Gerechtigkeit, Gleichheit und Lebensfülle für alle. Politische Herrschaft äußert sich nun einmal nicht allein in transparenten und für jeden und jede nachvollziehbaren Verfassungs- und Regierungskonflikten, sondern auch in der Form von Transformationsbegehren, die gesellschaftliche Akteure und Gruppierungen (möglichst lautstark) artikulieren: Wer die Begrifflichkeiten, in denen die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte ausgetragen werden (Rassismus, Islamophobie, white supremacy, Diskriminierung, Patriarchat vs. Diversity, Empowerment, Gendergerechtigkeit usw.), zu besetzen und zu definieren vermag, übt längst (Sprach-)Herrschaft aus. Schelsky sprach seinerzeit von einer „Dramaturgie der durchgehenden sozialen Ungerechtigkeit und Hilfsbedürftigkeit“26, in der sich „Belehrung, Betreuung und Beplanung“ überlagern und das Syndrom eines sozialen Heilsglaubens entsteht, der gleichsam „chiliastische, also das Ende aller geschichtlich-sozialen Not verheißende Züge“ annimmt:

„Die Gleichheit von Brüdern und Schwestern; ihre emotionelle Vergemeinschaftung als ein ‚Wir‘, ist nur möglich, wenn ein ‚Vater unser‘ oder eine ‚große Mutter‘ den Schutz und die Sinnverantwortung im Außenverhältnis übernimmt. Wo also die Parole ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ als grundlegende Sozialbeziehung verkündigt wird, ist nach dem verborgenen Schutzherrn und Herrscher zu fragen.“

Immanuel Kant hat in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) das vom menschlichen Bewusstsein konzipierte (und damit individuelle) Selbst- und Situationsverständnis noch im abstrakten Begriff der „Maxime“ transkulturell zu verallgemeinern versucht. Friedrich Nietzsche sah ein Jahrhundert später in Jenseits von Gut und Böse (1886) die Aufgabe der philosophischen Reflexion vornehmlich darin, zu fragen, welche kontextuellen und in letzter Konsequenz auch existenziellen Verständnisse von Selbst und Situation moralische Subjekte jeweils in Anspruch nehmen. Weil alle Maximen ihren handlungspraktischen „Wert“27 erst durch das Individuum empfangen, das sich diesen Maximen freiwillig und selbstbestimmt unterstellt, erwächst die Frage nach der von menschlichen Subjekten vertretenen Moral für Nietzsche erst aus der Aufmerksamkeit (heute würde man sagen: Achtsamkeit) gegenüber der konkreten Situation: „Es gibt keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moral[ische] Interpretation dieser Phänomene.“28 Insofern verfehlen die heute viel beschworenen „ethischen Werte“, weil sie abstrakt bleiben, ihren anvisierten Zweck: „Gut“, so heißt es bei Nietzsche, ist dann „nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könne es gar ein ,Gemeingut‘ geben! Das Wort widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth.“29

Solange also nicht geklärt ist, unter welchen Bedingungen bestimmte „Werte“ wie Respekt, Gerechtigkeit und Gleichheit im Leben des Einzelnen handlungspraktisch relevant werden, bleibt eine Einigung auf sie im praktischen Leben letztlich wirkungslos. Werte liegen ja nicht einfach vor, sondern beanspruchen Geltung und sind somit immer schon mit spezifischen, von einem Individuum vertretenen Interessen und Präferenzen verbunden. Nietzsches Perspektive lädt dazu ein, hinter der im postmigrantischen Narrativ so oft begegnenden und scheinbar selbsterklärenden Rede von vorgeblich „gemeinsamen Werten“ einen höchst partikularen Willen zu entdecken. Volker Gerhardt schreibt vom moralischen Urteil als einem der „Machtmittel, die Individuen und Gruppen im Lebenskampf einsetzen … Die Moral predigt Gleichheit, Einsicht und Freiwilligkeit und will doch nur die Macht für ihre in offener Auseinandersetzung versagenden Erfinder.“30

3.3  Wespen im Spätsommer – Zur Weltlichkeit von Herrschaft(sinteressen)

Vor dem Hintergrund der skizzierten Machtförmigkeit eines jeden Interesses greift die in der gesellschaftlichen Debatte beliebte Aufforderung zur (möglichst herrschaftsfreien) „Aushandlung“ von „Werten“, Präferenzen und Narrativen zu kurz. Wertpräferenzen, Erinnerungs- und postmigrantische Zukunftsnarrative sind gleichermaßen Teil symbolisch vermittelter kollektiver Identitäten bzw. „kultureller Gedächtnisse“ (Jan Assmann)31. Sie sind damit immer auch hart umkämpfte Güter: Wo unterschiedliche Erinnerungskulturen und Zukunftsnarrative aufeinandertreffen, geschieht dies selten in einem „auf Augenhöhe“ und in „herrschaftsfreier Kommunikation“ (Habermas) stattfindenden Aushandlungsprozess, sondern sehr viel öfter im harten Kampf der Erinnerungs- und Opfer-Konkurrenzen um Wahrnehmung und Anerkennung.

Vor dem Hintergrund eines weltweit wachsenden Bedürfnisses nach globaler Gerechtigkeit und nach einer grundlegenden Aufarbeitung der kolonialen Geschichte treten neben die Akteure der klassischen Shoa-bezogenen, die Singularität des Holocaust behauptenden Erinnerungskultur nun weitere Akteure. Sie begreifen sich als Alliierte benachteiligter Völker und Volksgruppen und suchen nun deren lange vernachlässigte (post)koloniale Erinnerungskulturen sowie transnationale postmigrantische Narrative in den Vordergrund zu stellen.32

Der muslimische Erziehungswissenschaftler Constantin Wagner hat dem notwendigen Prozess einer transkulturellen und postkolonialen Neuformierung der (post)migrantischen Gesellschaft Ende 2021 in einem Redebeitrag zum Jubiläum der Jungen Islam Konferenzin zugegebenermaßen etwas irritierender Weise Ausdruck gegeben: Weil das von Minderheiten angestoßene „Moment der Neuordnung von Gesellschaft“ die gesellschaftliche Mehrheit „irritiert und verunsichert“ und diese zu regressiven Reaktionen (white supremacy-backlashes) veranlasst, erweist es sich als eine entscheidende Frage, „wie viel Raum jene bekommen, die einen solchen backlash versuchen“, die also – übersetzt – zurückwollen in eine längst vergangene Zeit. Mithilfe „starker demokratischer Allianzen“ gelte es, „Veränderung“, „neue Selbstverständlichkeiten“ und „neue Räume“33 zu schaffen, in denen der ewige Kampf um Anerkennung der Vergangenheit angehört. Seine Zukunftshoffnung und -vision veranschaulicht Wagner mit dem bildlich untermalten Hinweis auf Wespen, die sich im Spätsommer ihrer Existenz – symbolisch für den Aktivismus einer white supremacy stehend – „ultraaggressiv“ zeigen, „weil sie wissen, dass es bald vorbei ist, dass der Winter kommt und sie noch vor dem nahenden Winter sterben werden“. „Neue Selbstverständlichkeiten“ in der postmigrantischen Gesellschaft setzen „neue Räume“ voraus, „in denen es keine aggressiven Wespen mehr gibt“.34

Kein noch so revolutionäres Transformationsbegehren vermag sich, wie dies Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ (1944) so eloquent beschrieben haben, davor zu bewahren, in eine dialektische Falle zu geraten, die ihre Ideale zu unterminieren droht. Dabei ist es gar nicht die Moral als grundlegender Zielindex gesamtgesellschaftlicher Verantwortung selbst, die den Bezug auf sie so problematisch werden lässt. Es ist die in ihrer Anwendung auf die Welt fast naturgemäß mit ihr verbundene Versuchung, zur Legitimierung ihrer (nachvollziehbaren und zumeist auch berechtigten) Forderungen ein Gegenbild (den Rassismus) bzw. einen Gegner (den Rassisten) zu präsentieren, gegen den es sich zu kämpfen lohnt. Die damit verbundene moralische Aufladung von Sachverhalten zwingt zugleich zu einer Entgrenzung, die im Politisch-Kulturellen (so z. B. in den Forderungen nach mehr Globalisierung, nach einer endgültigen Überwindung des Nationalstaats) und auch im Religiösen (z. B. in der Rede von universellen Werten, einem transkulturellen „Weltethos“, einer universalen mystischen Spiritualität) auf die Überwindung von Traditionen setzt. Die Konsequenz ist eine zunehmende Eingrenzung der gedanklichen und moralischen Sphäre der Freiheit, deren Gewährleistung eine konsequente Trennung von Macht und Moral voraussetzen würde.

Angesichts der Gefahr einer Radikalisierung der Debatte(n) durch deren moralische Aufladung erweist sich der Ruf nach „Moral“ oder „Werten“ als wenig hilfreich. So beklagenswert die von den Akteuren des postmigrantischen Narrativs geschilderten Erfahrungen von Diskriminierung auch sein mögen: Das von ihnen mit beförderte Narrativ von der muslimischen Minderheit als Opfer einer hegemonialen, nicht- oder gar antimuslimischen Mehrheit dürfte rechtspopulistische Pauschalvorwürfe und Kampfbegriffe gegen den Islam langfristig eher befördern als desavouieren. Weiterführender als die Nutzung von Begriffen wie antimuslimischer Rassismus oder Islamophobie wäre es, in einem von wechselseitiger Bereitschaft zur Selbstkritik getragenen Diskurs und mit möglichst wenig Apologetik die (durchaus problematischen) Verflechtungen von Religion, Kultur und Politik sowie die Konsequenzen der postmigrantischen Rede von einem kolonialen Ihr und einem antikolonialen Wir selbst- und ideologiekritisch in den Blick zu nehmen.


Rüdiger Braun, 05.01.2023

 

Anmerkungen

1  Die Frage nach den Voraussetzungen des Urteilens ist wissenschaftstheoretisch immer schon „metaphysisch fundiert“ (Stegmüller 1969, 452). Daher lässt sich auf Metaphysik nicht von einem externen Standpunkt aus, sondern nur „mit anderer Metaphysik“ (Gerhardt 1986, 98) reagieren.

2  Keskinkılıç 2021, 160; nachfolgende Zitation ebd., 160.

3  Vgl. exemplarisch dazu die Literaturreferenzen in Spielhaus 2021, 91f.

4  Schiffauer 2015, 20f, 15f; zit. in Spielhaus 2021, 93.

5  Junge Islam Konferenz 2021a, 5; nachfolgende Zitation ebd.

6  Keskinkılıç 2021, 188; nachfolgende Zitation ebd., 223.

7  Keskinkılıç selbst sieht sich von der Migrationsgeschichte seiner Familie und von der Erfahrung geprägt, „Teil einer schiitisch geprägten, arabischen Minderheit zu sein, deren Namen ersetzt, deren Traditionen und Geschichten verdrängt wurden, weil sie nicht dem Mehrheits-Leitbild [des sunnitischen Islam, R. B.] entsprechen“, ebd. 2021, 200; nachfolgende Zitation ebd., 200.

8  Biografisch nochmals betont: „Kind einer christlich-deutsch sozialisierten Mutter der Fünfziger-Nachkriegsgeneration und eines muslimisch-ghanaisch sozialisierten Vaters der Vierziger-Postkolonial-Generation“, Haruna-Oelker 2022, 117.

9  Haruna-Oelker 2022, 117; zu ihrem „offenen Konzept von Zugehörigkeit“ (ebd., 210) vgl. meinen Beitrag in der ZRW 5/2022.

10  Thomas Heppener: Grußwort zur Jubiläumsveranstaltung der JIK (Junge Islam Konferenz 2021b, Min. 15:30 – 16:10).

11  Vgl. dazu beispielsweise Sparre 2016, 589 – 610.

12  Korsch 2021, 1132, mit Verweis auf Flaig (2018, 124 – 139) zum „Hautfarben-Rassismus“; nachfolgende Zitation ebd., 1135.

13  Zit. in Haruna-Oelker 2022, 172.

14  So exemplarisch die Beiträge im Sammelband von Fereidooni / Hößl 2021.

15  „Das sind zwei unterschiedliche Felder“: Keskinkılıç 2022; nachfolgende Zitation Keskinkılıç 2021, 223.

16  In vielen Ländern war die Bibel das erste gedruckte Buch überhaupt. Vgl. dazu insbesondere Koschorke / Ludwig / Delgado 2007, 55 – 84.

17  Junge Islam Konferenz 2021b, Min. 02:40:30 – 02:42:30.

18  Haruna-Oelker 2022, 165f; nachfolgende Zitationen ebd., 166f und 321.

19  Keskinkılıç 2021, 206; nachfolgende Zitationen ebd., 208 und 218.

20  Vgl. die Referenz (Keskinkılıç 2021, 205) auf die „alle Dinge umfassende Barmherzigkeit“ (Q 7,156).

21  „distinct sphere of human culture“ sowie „overwhelming inner experience of dependence“, Molendijk 1998, 7.

22  So, ins Deutsche übersetzt, prägnant Arnal / McCutcheon 2013, 29.

23  Chatterjee 1993, 6f; nachfolgende Zitation ebd., 6.

24  So z. B. schon Schelsky 1959, 107; nachfolgende Zitation ebd., 98.

25  Schelsky 1975, 46; nachfolgende Zitation ebd., 47.

26  Schelsky 1975, 371; nachfolgende Zitation ebd., 375 und 374.

27  Gerhardt (2011, 233) zufolge gilt der kategorische Imperativ nur „unter ausdrücklich subjektiven Bedingungen“.

28  Nietzsche (Nachgelassene Fragmente, 1885) in: KSA Bd. 12 (2012), 149f.

29  Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse, 1886) in: KSA Bd. 5 (2012), 60; zit. in Gerhardt 2011, 201, Fußnote 14.

30  Gerhardt 2011, 196 – 197.

31  Assmann 1988, 9 – 19.

32  Vgl. zu einer emphatischen Erinnerungskultur Wiedemann 2022.

33  Wagner 2021, Min. 54:50 – 55:30.

34  Wagner 2021, Min. 55:30 – 57:30.

 

Literatur und Quellen

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