Andreas Komischke

Sunday Assembly in Berlin

Eindrücke bei zwei Besuchen

„Gottesdienst der Gottlosen“ oder „Kirche der Gottlosen“ – so lauteten die Schlagzeilen, die rund um die erste Sunday Assembly in Berlin auftauchten – ein Paradoxon, denn Gottesdienst/Kirche und Gottlosigkeit schließen sich aus. Provokation, um Neugierde zu wecken? Immerhin kamen rund 150 Menschen, um die erste Berliner Versammlung am 28. September 2014 mitzuerleben. Mitten in der City West am Ernst-Reuter-Platz an einem feinen Veranstaltungsort (Orange Lab) kamen sie bei Sonnenschein mittags um 14 Uhr zusammen. Die Mehrzahl der Besucherinnen und Besucher wird zwischen 35 und 55 Jahren gewesen sein – eine Altersgruppe, die in vielen kirchlichen Sonntagsgottesdiensten eher nicht anzutreffen ist. Mein Eindruck war, dass sie eher zu gebildeten Schichten gehörten.

Als ich im Januar 2015 die mittlerweile fünfte Sunday Assembly besuchte, fanden sich etwa 50 Besucher ein, der größere Teil sicher zum ersten Mal (das war zumindest mein Eindruck). Im Durchschnitt schienen sie etwas jünger zu sein als bei der ersten Versammlung. Diesmal fand die Versammlung in einem Nachbarschaftsheim in Schöneberg statt, schlicht von den Räumlichkeiten und nicht zentral gelegen.

Der Aufbau war beide Male ziemlich gleich: Anmoderation, zwei Lieder (bei den Liedern wurden die Teilnehmer aufgefordert aufzustehen), Begrüßung und Einführung in das Motto der Versammlung, Lesung (aus einem Roman oder Gedicht), Vortrag (philosophisch, aus dem Leben gegriffen …), Lied, Lebensbericht („Zeugnis“), zwei Minuten Stille, „Greet your neighbours“ (Begrüßung und Austausch mit Sitznachbarn), Aufruf zur Kollekte, Ansprache (Leben aktiv gestalten; Glück ist nicht garantiert, Leben darf Spaß machen), Lied, Mitteilungen aus Projektgruppen und Dank, Einladung zu Kaffee und Kuchen.

Die Elemente erinnern stark an einen Gottesdienst, und das geben die Organisatoren auch zu. Sie wollen mithilfe der gottesdienstlichen Elemente eine schöne Gemeinschaftsatmosphäre schaffen. Sie verstehen sie als Rituale, die Menschen überall pflegen und die kein Patent der Kirchen seien. Sie wollen Gemeinschaft und Leben feiern ohne ein Gegenüber, ohne Gott. Die Lieder sind oft Popklassiker, so bekannt, dass jeder sie leicht mitsingen kann, wenn der Text an die Wand projiziert wird. Sie lockern die Atmosphäre und tragen zum positiven Gefühl bei.

Liturgie lebt wie auch ein gutes Theaterstück vom Spannungsbogen. Einen solchen Spannungsbogen (von der Begrüßung zum Höhepunkt einer Kernaussage oder eines Rituals) habe ich in den beiden Versammlungen nicht wahrgenommen. Bei der ersten Versammlung deutlicher als bei der fünften wirkten für mich die einzelnen Beiträge aneinandergereiht, und selbst der inhaltliche Bezug wurde mir nicht immer deutlich. Das Motto „Lebe besser, hilf öfter, staune mehr“ klang an, wurde aber nicht auf den Punkt gebracht oder zu einer Kernaussage, einer Botschaft oder einem Auftrag ausformuliert.

Der Anspruch, wie er in der Charta der Sunday Assembly zum Ausdruck gebracht wird, lautet: „Feier des Lebens“ (http://berlin.sundayassembly.com/charta). Ich frage mich nach den beiden Besuchen, worin dies zum Ausdruck kommt. Sicher, das gemeinsame Singen schafft eine gute Atmosphäre und die Beiträge sollen Mut machen, das Leben gut und sinnvoll zu gestalten, unabhängig von einer übergeordneten Instanz. Auch Freude am Leben darf man haben. Zeigt sich darin die Feier des Lebens? Wird sich eine Art Feierkultur vielleicht erst noch entwickeln?

Eine andere Erwartung, die in Interviews immer wieder genannt wurde, war das Erleben von Gemeinschaft. Diese Erfahrung konnte sicher beim gemeinsamen Singen gemacht werden. Beim Element „Austausch mit den Sitznachbarn“ bemerkte ich dagegen sehr viel Zurückhaltung, und bei der „Agape“, der Einladung zu Kaffee und Kuchen, blieben nur wenige. Diese schienen Gemeinsamkeiten entdeckt zu haben und sei es nur das Bedürfnis, über das eben Erlebte zu sprechen.

In der Charta der Sunday Assembly heißt es unter dem Punkt „Was kannst du von Sunday Assembly erwarten? … Egal, um welches Thema es bei Sunday Assembly geht, sie soll Dir Trost spenden, Freundlichkeit erwecken und einen Hauch von Transzendenz in deinen Alltag wehen.“ Dass man beim gemeinsamen Singen alter Pop-Hits übersehen kann, dass im Text von Gott und Gebet die Rede ist, kann schon mal passieren. Aber in welchem Zusammenhang steht Transzendenz mit einer Feier des Lebens, das ja nur durch eine Ansammlung von Zufällen entstanden ist? Stephen Cave hat in seinem Vortrag in der ersten Versammlung in Berlin das Leben mit einem Buch verglichen: Für uns Menschen ist nur interessant, was zwischen den Buchdeckeln ist – das Außerhalb hat für unser Leben keine Bedeutung. Was zählt, ist, dass die Geschichte im Buch (des Lebens) gut ist, egal wie lang sie ist. Deshalb ist die richtige Grundhaltung Dankbarkeit dafür, dass wir überhaupt eine Lebensgeschichte haben. Aber wem gegenüber sind wir dankbar?

In der Charta heißt es: „Sunday Assembly ist zu einhundert Prozent eine Feier des Lebens. Lasst uns das Leben gemeinsam genießen.“ Dass dies nicht so einfach ist, merken wir allzu oft in unseren Kirchengemeinden – es lässt sich nicht verordnen, und die Chemie muss zwischen den Feiernden stimmen.

Im Gottesdienst haben wir Formen entwickelt, um Schuld und Versagen, aber auch Versöhnung zum Ausdruck zu bringen und vor ein Gegenüber, vor Gott, zu tragen. Bei Sunday Assembly heißt es in der Charta: „… das Leben kann hart sein … Manchmal geschehen guten Menschen schlimme Dinge … das Leben ist einfach gerade nicht fair.“ Wer oder was ist denn „das Leben“, das personifiziert unser Leben bestimmt, uns Leid und Versagen, Trauer und Katas­trophen erfahren lässt?

Mein Fazit: Die Veranstalter von Sunday Assembly orientieren sich zu sehr an der Gestaltung christlicher Gottesdienste und übersehen dabei, dass man daraus nicht einfach einen Steinbruch machen, die einzelnen Elemente ihrer liturgischen Inhalte entleeren und neu zusammenfügen kann. So entsteht die von mir oben beschriebene Aneinanderreihung von Elementen ohne Spannungsbogen. Vielleicht ist diese Nähe aber auch dem geschuldet, dass viele Teilnehmer früher christliche Erfahrungen gemacht haben. Es wird spannend sein zu sehen, ob Sunday Assembly im Laufe der Zeit eine Feier des Lebens mit eigenen, weniger an christliche Gottesdienste angelehnten Formen entwickeln wird.


Andreas Komischke