Islam

Studie über Muslimbruderschaft in Österreich

Im September 2017 erschien eine Studie über Präsenz und Aktivitäten der Muslimbruderschaft in Österreich, die maßgeblich von Lorenzo Vidino, einem Politikwissenschaftler und Extremismusexperten des „Program on Extremism“ der George Washington University, verfasst wurde, in angeblich enger Kooperation mit der Universität Wien, dem österreichischen Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung und dem Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF).1 Vidino hat in den letzten Jahren bereits einige vergleichbare Arbeiten vorgelegt, u. a. eine kleinere über „The Muslim Brotherhood in the United Kingdom“2 und eine größere akademische Monografie über „The New Muslim Brotherhood in the West“ (erschienen 2010). Das „Program on Extremism“ befasst sich von seinem Selbstverständnis her mit gewalttätigem und nicht gewalttätigem Extremismus, ist damit also recht weit gefasst und unterschiedlichen sicherheitsrelevanten Themen gewidmet.

Die genannte Studie widmet sich ausführlich und systematisch der sehr schwierigen, aber gesellschaftspolitisch höchst wichtigen Frage nach der Präsenz und dem faktischen Einfluss der als „Bruderschaft der Muslime“ (al-ikhwan al-muslimun) bezeichneten internationalen Organisation in Österreich. Sie ist dabei eine Art Summe einer schon länger schwelenden Diskussion, die in den letzten Jahren immer wieder in österreichischen Medien hochkochte und im Zuge der Thematisierung eines „politischen Islam“ bzw. eines „Islamismus“ zuweilen eine Schlüsselstelle innehat.

Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von dem ägyptischen Pädagogen Hasan al-Banna (1906 – 1949) begründet und ist von der Grundidee her eine Reformbewegung, die ursprünglich auf bestimmte problematische Entwicklungen im kolonialen Ägypten reagierte, von Anfang an allerdings mit einer eindeutig panislamischen Ausrichtung den Fokus weit über diesen spezifischen Raum hinaus ausgedehnt hat. Ziel war die Rückkehr zu einem „wahren“ Islam, weil die ägyptische Gesellschaft in den Augen des Gründers und seiner ersten Weggefährten durch die Kolonialherrschaft eine problematische „Verwestlichung“ erfahren hatte. Dabei verstand sich die Muslimbruderschaft als diejenige Organisation, die geschlossen gegen diese Entwicklungen auftrat und an der Realisierung einer gänzlich durch den Islam bestimmten Gesellschaft und eines dementsprechenden politischen Systems arbeitete. Die Reform des daniederliegenden Bildungswesens und soziale Arbeit standen an oberer Stelle der Tätigkeiten. Wichtige frühe Länder der Verbreitung waren vor allem Syrien und Palästina, wo beispielsweise die Hamas-Bewegung von ihrem Selbstverständnis her eine direkte Gründung der Muslimbruderschaft ist. Europa ist ebenfalls ein wichtiges Exportland, wo man im Kontext des Bildungswesens und als tragfähige Organisation mit straffer Hierarchie und Gehorsamspflicht in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten punkten konnte. Die Muslimbruderschaft agiert in Europa de facto im Geheimen, es gibt keine offiziellen Mitgliederlisten, eine Taktik, die sowohl nach innen als auch nach außen Macht und Einfluss signalisieren soll.

In Österreich wurden nun sehr oft verschiedene offizielle Vertreter des Islam in die Nähe der Muslimbruderschaft gerückt, doch wurden diverse diesbezügliche Anfragen zumeist energisch zurückgewiesen. Auffällig ist der Hang zur gerichtlichen Klage: Wenn Behauptungen bezüglich einer Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft aufgestellt werden, ist die Klagedrohung oder aber die effektive Klage zumeist eine direkte Folge – ein Muster, das im Übrigen auch für die hier thematisierte Studie beobachtet werden kann.

Die Arbeit Vidinos ist nun auch deshalb so bedeutsam, weil Österreich für die international agierende Muslimbruderschaft eine ganz zentrale Rolle zu spielen scheint. Auch hier bewegt man sich allerdings im nicht wirklich beweisbaren Rahmen, doch scheint der Einfluss dieser Gemeinschaft in Österreich nicht unwesentlich zu sein.3

In Österreich ist insbesondere die „Muslimische Jugend Österreich“ (MJÖ) immer wieder mit der Muslimbruderschaft in Verbindung gebracht worden, insbesondere in der Begründungsphase und im europäischen Kontext.4 Zwar wurde und wird dies von der Organisation heftigst zurückgewiesen, doch gab es beispielsweise in den Medien 2010 Berichte über die Verwendung der Gebetssammlung „Al-Ma’thurat“des Gründers der Muslimbruderschaft in genau dieser Gemeinschaft.5 Eine Nähe zur Muslimbruderschaft wird zudem immer wieder im Zusammenhang mit der „Islamischen Religionspädagogischen Akademie“ (IRPA) in Wien kolportiert, die aktuell mit der Katholischen Pädagogischen Hochschule und anderen Lehranstalten zu einem Gesamtausbildungsinstitut für Religionspädagogen verschmolzen wird. Die Präsenz der Muslimbruderschaft insbesondere in Ausbildungskontexten würde an sich ihrer Geschichte und ihrem Anliegen entsprechen und stellt auch in der Frühphase der Etablierung der Gemeinschaft in Europa ein zentrales Anliegen dar. Österreich im Speziellen steht in dieser Hinsicht im Schlepptau Deutschlands, wo die Präsenz und der Einfluss der Muslimbruderschaft immer wieder thematisiert wurden und v. a. in diversen Verfassungsschutzberichten Niederschlag gefunden haben.6 Deutschland spielte vor allem in der Frühphase der Ausbreitung der Muslimbruderschaft in den 1960er Jahren eine ganz zentrale Rolle. Dabei ist das Wirken Said Ramadans (1928 – 1995, Schwiegersohn des Gründers Hasan al-Banna) zu nennen, der von Genf aus zentrale Strukturen in Europa aufbaute.

Die konkrete Studie hat allerdings viele Schwächen. Im Grunde genommen ist sie nämlich nichts anderes als eine Auflistung aller mehr oder minder aussagekräftigen Medienartikel und sonstigen Internetmaterialien, die im Zusammenhang mit der Muslimbruderschaft in Österreich in den Raum gestellt wurden. Naturgemäß geht das in vielen Fällen nicht über einen Hinweis, „dass berichtet wurde“ bzw. „dass gesagt wurde“, hinaus, ohne selbständig erworbene und bewiesene Fakten zu nennen. Das liegt zwar vielfach in der Natur der Sache, weil die Muslimbruderschaft – in welcher Form auch immer sie tätig ist – nun einmal im Klandestinen agiert. Allerdings lässt die Studie den Leser somit etwas unbefriedigt zurück, weil sie mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Vielfach wird auch der Eindruck vermittelt, eine Art „name and shame“-Politik zu betreiben, wenn ganze Familienverbände quasi stammbaumartig mit der Muslimbruderschaft verbunden werden. Man hätte zudem von einer akademisch orientierten Studie mehr als nur die Zitation von Zeitungsnachrichten unterschiedlichen Couleurs und höchst unterschiedlicher Qualität erwartet. Vielfach hat man den Eindruck, vor einer Arbeit zu sitzen, die Ergebnis einer ausführlichen Internetrecherche mit den entsprechenden Suchworten ist – und leider nicht mehr. Eine tiefergehende Untersuchung findet sich darin nicht, obwohl diese ein höchst wichtiges Desiderat darstellt.

Positiv hervorzuheben ist, dass bezüglich der allgemeinen Problemlage zumindest teilweise differenziert argumentiert wird: Es kommt zu keiner Pauschalverurteilung, und es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Muslimbruderschaft nicht als geschlossenes Ganzes betrachtet werden kann, sondern als durchaus organisch sich entwickelnde Bewegung, die unterschiedlich auf ihre jeweiligen Akteure wirkt. Deshalb sollte das Argumentieren mit einer etwaigen Nähe zur Muslimbruderschaft nicht zu einer Art Totschlagargument in der öffentlichen Debatte werden, der ein wenig Distanz und Abstand guttut. Durchgehend weist man aber auf die grundsätzliche Problematik hin, die durch das Agieren der Muslimbruderschaft zweifellos befördert wird: das Fortschreiben des Opfermythos von der angeblichen Unterdrückung aller Muslime durch den Westen (spätestens seit der Kolonialzeit im 19. Jahrhundert) bzw. der aktuell angeblich grassierenden „Islamophobie“ in Europa und die damit implizit propagierte Herausspaltung der Muslime aus den westlichen Mehrheitsgesellschaften. Dies alles läuft allen aktuellen Bestrebungen zuwider, den Muslimen in europäischen Kontexten Heimat zu geben, und ist genau das Gegenteil von Integration. Vielmehr befördert dieses Vorgehen die Desintegration der zweifellos bestehenden muslimischen Parallelgesellschaften in vielen europäischen Ländern.

Ausführlichere Stellungnahmen zu der Studie von muslimischer Seite gibt es in Österreich bislang nicht. Die österreichische Vertretung der Muslime, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ), hat auf eine konkrete Anfrage bezüglich eines Mitglieds ihres Schura-Rates und dessen Nähe zur Muslimbruderschaft mit einer eher grundsätzlichen Stellungnahme reagiert, nämlich dass diese Studie politisch motiviert sei und deshalb nicht kommentiert werde. Damit wird dem derzeit aktuellen „Islamophobie“-Narrativ gefolgt. Und natürlich gibt es bereits eine ganze Liste von Personen und Organisationen (u. a. auch die erwähnte MJÖ), die Klagen gegen den Autor der Studie vorbereiten. Auf deren Ausgang (wenn sie denn zustande kommen) darf gespannt gewartet werden.


Franz Winter, Graz


Anmerkungen

  1. Original unter https://extremism.gwu.edu/sites/extremism.gwu.edu/files/MB%20in%20Austria-%20Print.pdf  (Abruf der Internetseiten: 24.10.2017). In „angeblich“ enger Kooperation deshalb, weil beispielsweise in Bezug auf die Universität Wien kein direkter Ansprechpartner genannt wird und auch auf mediale Nachfrage vonseiten der Universität keine Informationen weitergegeben wurden.
  2. https://cchs.gwu.edu/sites/cchs.gwu.edu/files/VidinoPaper-Final.pdf
  3. 2014 gab es sogar nicht verifizierte Medienberichte, dass die Muslimbrüder ihr europäisches Hauptbüro von London nach Österreich, näherhin nach Graz, verlegt hätten. Vgl. www.dailymail.co.uk/news/article-2603383/Muslim-Brotherhood-moves-headquarters-London-Austria-Cameron-announces-terror-investigation.html ; http://derstandard.at/1397301936064/Zeitung-Aegyptens-Muslimbruderschaft-verlegt-Buero-nach-Graz . Die Originalquelle dieser Nachricht ist allerdings denkbar dubios, sie findet sich in Asharq al-Awsat, einer internationalen arabischen Zeitung, die von Saudi-Arabien kontrolliert wird. Die Aussagen dieser Berichte selbst wurden in London umgehend dementiert und können wohl als nichtig angesehen werden.
  4. Zur Situation in Deutschland vgl. die Studie von Guido Steinberg: www.fpri.org/docs/chapters/201303.west_and_the_muslim_brotherhood_after_the_arab_spring.chapter5.pdf .
  5. Der Artikel von Elisalex Henckel mit dem Titel „Im Schatten der Muslimbruderschaft“ erschien in der österreichischen Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung am 28.10.2010, war aber kostenpflichtig und ist nicht abrufbar.
  6. Vgl. z. B. www.mik.nrw.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/Muslimbruderschaft.pdf  mit einer Auseinandersetzung zur „Ideologie der Muslimbruderschaft“, die vom Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen veröffentlicht wurde.