Ansgar Martins

Streitfall Anthroposophie. Leitmotiv „Zertrümmerung“

Das zweibändige, knapp 1900 Seiten umfassende Werk „Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884-1945“ (Göttingen 2008) des Berliner Wissenschaftshistorikers Helmut Zander, das wir an dieser Stelle bereits vorgestellt haben (MD 9/2008, 354-357), hat bei Anthroposophen zum Teil heftige Gegenreaktionen hervorgerufen. In diesem Jahr ist im Berliner Wissenschafts-Verlag aus der Feder des anthroposophischen Publizisten Lorenzo Ravagli eine 440 Seiten umfassende Entgegnung mit dem polemischen Titel „Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes ,Anthroposophie in Deutschland’“ (Berlin 2009) erschienen. Die darin geäußerte Kritik an Zanders Studie wird jedoch nicht von allen Anthroposophen geteilt. Vor kurzem fand sich in der zum anthroposophischen Umfeld zählenden Zeitschrift „Info 3“ (9/2009, 51-54) eine bemerkenswerte Rezension zum Buch Ravaglis. Ihr Verfasser ist der Waldorfschüler Ansgar Martins (Jahrgang 1991), der sich in seinem Internetblog http://waldorfblog.wordpress.com konstruktiv-kritisch mit Anthroposophie und Waldorfpädagogik auseinandersetzt. Wir dokumentieren im Folgenden den Beitrag und danken für die Abdruckgenehmigung.

Leitmotiv „Zertrümmerung“

Dass sein Werk Anthroposophie in Deutschland AnthroposophInnen Schwierigkeiten bereiten würde, war Helmut Zander anscheinend schon während der Zeit der Niederschrift bewusst. In einem eigenen Nachwort formulierte er seinen „Wunsch“, „dass Anthroposophen und Anthroposophinnen diese Arbeit nicht als Schwert des Scharfrichters, sondern als wissenschaftliche Analyse lesen“. Er sei sich bewusst, dass seine „historische Kontextualisierung“ von vielen als „Ignoranz gegenüber den geistigen und praktischen Impulsen Steiners“ missverstanden würde. „Aber“, so Zander, er sei trotzdem „der Meinung, dass man Steiners Grenzen und eben auch Leistungen nur im gesellschaftlichen Kontext versteht“. Dahinter stehe seine Überzeugung, „dass man historisch-kritische Forschung nicht gegen spirituelle Weisheit ausspielen darf“. Aber Zander weiß auch: „Wer im intellektuellen Diskurs westlicher Gesellschaften ernst genommen werden will, muss sich dieser radikal kritischen – und das heißt im Wortsinn weiterhin: prüfenden – Analyse stellen“ (S. 1719).

Zanders Œuvre stellt umfassend Gesellschaft und Weltanschauung im 19. und frühen 20. Jahrhundert dar, beschreibt Vereins- und Sozialstruktur der Theosophischen Gesellschaften, zeitnahe Reformbestrebungen in Kunst und Religion, Pädagogik, Landwirtschaft oder Medizin. Innerhalb dieser heute oft kaum mehr bekannten Kontexte schildert Zander Rudolf Steiner, der hier mit „kreativer Intelligenz“ und „mutigen Brüchen“ den anthroposophischen Weltanschauungskosmos ausformte. Zander betont trotz dieser kontextualisierenden Textkritik und kritischen Quellensuche, dass „über den theologischen Stellenwert“ von Steiners „Deutungstheorien, die sich anderer Methoden als der historisch-kritischen bedienen, ... damit kein Urteil gefällt“ sei, vielmehr sei Respekt vor dem „forum internum“ von Steiners „persönlicher Spiritualität“ geboten (S. 855). Bei allem Verständnis bringt er aber auch dessen antidemokratischen und autoritären Töne, seine Verleugnung und „Verdrängung seiner theosophischen Initiationsphase“ und die deterministischen Konsequenzen seiner Äußerungen über „Rassen“ mit Deutlichkeit zur Sprache.

Nicht erst hier brodelte es im mutmaßlich so „freien Geistesleben“ der anthroposophischen Szene gewaltig. Schon der Versuch, Steiner vor dem Hintergrund seiner Zeit zu sehen, stieß bei vielen wortgläubigen AnthroposophInnen auf heftigste Anfeindungen, ja: scheinbar auf Rachsucht.

Deutungshoheit durch Doppelgänger

In diesem Kontext ist auch die kürzlich erschienene Publikation Zanders Erzählungen des Erziehungskunst-Journalisten Lorenzo Ravagli zu verstehen. Ravagli stellt seinen LeserInnen schon auf dem Klappentext Zanders Arbeit als den Versuch einer „Zertrümmerung“ vor, dem durch „Zertrümmerung des Zertrümmerers“ begegnet werden müsse – im Fortgang des Buches bekommen wir dafür viele farbenfrohe Synonyme zu hören, da soll Zander wahlweise „entkräftet“, „dekonstruiert“, „revidiert“, „disqualifiziert“ oder „negiert“ werden. Dessen Versuch einer Kontextualisierung Steiners, weiß Ravagli zu berichten, sei in Wahrheit der Versuch, „Heiliges“ zu zerstören. „Anthroposophisch ausgedrückt“, ginge es darum, „statt den Engel das Tier im Menschen zu sehen, statt das höhere Ich den Doppelgänger ...“ (S. 45). Schon beim ersten Vergleich beider Werke stellt sich die Frage, was um Himmels willen Ravagli offenbar in so rasende Wut versetzt hat. Dass Zander auf die „Grenzen“ seiner Arbeit hinwies, nur eine „Zwischensumme“ vorlegen und damit „weitere Untersuchungen“ anregen wollte, ist ihm anscheinend auch nicht recht: „In Wahrheit“, versichert er, melde Zander „einen Anspruch auf Deutungshoheit über die Anthroposophie im akademischen Raum an, der kaum mehr zu überbieten ist“ (S. 26). Dagegen präsentiert Ravagli seine Vorgehensweise bescheiden: „Unsere Auseinandersetzung vermeidet peinlich jegliche Form von Polemik, so sehr Zanders Schreib- und Denk[?]stil eine solche auch provozieren mag. Nüchtern und sachlich bewegen wir uns an seiner Untersuchung entlang ...“ (S. 18). Angesichts der bereits zitierten Polemiken hat diese Äußerung allenfalls kabarettistischen Wert.

Wie nach diesem Missverständnis von Zanders Arbeit fast zu erwarten, gestaltet sich auch der Rest von Ravaglis Schrift: Wo Zander Texte vergleicht und auf Quellen Steiners hinweist, karikiert Ravagli bloß deren Unterschiede, wo Zander ungenau arbeitet, behauptet Ravagli, dass er, „wo er keine Quellen findet, einfach welche erfindet“, wo die Quellen fundiert sind, kontert Ravagli okkult und unterstellt spirituelles Unvermögen.

Dass eine umfangreiche Pionierarbeit wie die von Zander in einzelnen Details auch Fehler und Irrtümer enthält, ist weder verwunderlich noch als böswillige Absicht zu bezeichnen. Vielleicht ist auch sein häufiger Verweis auf die Querelen und Machtrangeleien im theosophischen Umfeld einseitig. Eigentlich hätten aber gerade AnthroposophInnen längst auf solche Patzer hinweisen und sich in fairer Weise auch an der historisch-kritischen Diskussion beteiligen können und sollen.1 Ravagli aber arbeitet Zanders Fehler mit anmaßender Selbstgerechtigkeit ab. Er kritisiert dabei Einzelnes durchaus zu Recht, wirft aber das meiste schlicht durcheinander. Bald mutiert selbst Steiners Rassentheorie zum Egalitarismus: Deren evolutionär hierarchisierte Auswüchse über „heruntergekommene“ „Rassen“ mit „verkommenem Innenleben“, das sich nicht mehr „von innen heraus“ „umbilden“ könne, werden zu harmlosen Schilderungen über „Metamorphosen der Lebenskraft“ (S. 277) und deren „unterschiedliche Ausprägungen“ (v)erklärt. Da erscheint dann auch bald die Frage dringlich, „ob nicht vielmehr Zander als ,Rassist’ bezeichnet werden müsste“ (S. 291).

„Gemeinheit im Kostüm der Tugend“

Manchmal verschlägt es einem schlicht die Sprache. Meist dann, wenn Ravagli sich ohne jede Vorwarnung wieder über Zanders weltanschauliches Neutralitätspostulat echauffiert, das für ihn ja der Versuch einer Zerstörung von „Heiligem“ ist: „Es ist das Unheilige hinter der Fassade des Heiligen, das Triviale unter der Maske des Extraordinären, die Gemeinheit im Kostüm der Tugend – die mediokre, doch auf ihre Weise wieder geniale Existenz eines Hochstaplers, Lügners, Betrügers, der sich selbst betrog und durch diesen Selbstbetrug, an den er glaubte, zum frommen Betrüger der vielen wurde ... Hier gibt es nichts Heiliges ... nichts Bleibendes, das aus der Zerstörung hervorgeht, als die Einsicht in die Nichtigkeit eines fehlgeleiteten Bedürfnisses nach höherem Trost ...“ (S. 431). Hier stand einem Autor offensichtlich Schaum vor dem Mund.

Auch für das Thema relevante Literatur wird ignoriert – etwa in der Untersuchung von Zanders nicht unbegründeter These, dass Steiner seine Biographie nachträglich mystifiziert hat und seine Abspaltung von der Theosophischen Gesellschaft von einer auf beiden Seiten polemischen und teils unfairen Debatte begleitet wurde. Während auf ersteren Umstand auch anthroposophische Autoren bereits hingewiesen haben2, werden beide auch durch Dokumente und Briefe aus dem Nachlass des Theosophen Wilhelm Hübbe-Schleiden belegt3, deren Wahrheitsgehalt in einer fairen Debatte mindestens ebenso zu bewerten ist wie der der Briefe Steiners in seiner Gesamtausgabe. Ravagli erwähnt all diese Belege gar nicht, sondern vergnügt sich damit, in immer neuen Formeln Zanders angebliche Zertrümmerungsabsicht zu beschwören. Ravagli träfe hier selbst ein Kritikpunkt, den Zander an seinen früheren Publikationen festmachte: „Ich möchte diese Anstrengungen nicht mit leichter Hand abwerten, aber in wissenschaftlicher Perspektive befriedigen diese ... Ausführungen nicht ... Kontexte werden vor allem dann benannt, wenn die Hoffnung besteht, dass sie Steiner entlasten“ (Zander, S. 624).4 Auch dieses Buch Ravaglis spricht nur Abschnitte (Ravagli nennt diese die „Basisthesen“) von Zanders Arbeit an – überdies nur aus dem ersten Teil des Buches. Weitere Arbeit hält Ravagli aber nicht für nötig, da – quasi nach vollbrachter „Zertrümmerung“ – „das gesamte Gebäude der auf ihnen fußenden Schlussfolgerungen in sich zusammenstürze (S. 18). Zanders Analysen im zweiten Teil seiner Arbeit fußen aber auf jeweils eigenen Quellen, Zusammenhängen und Sachverhalten, so dass auch diese Ansicht unseres Zertrümmererzertrümmerers keinen Sinn macht. Bedauerlich ist ferner die Tatsache, dass Walter Kugler von der Steiner-Nachlassverwaltung, inzwischen Professor an der Oxford Brookes University, in einem eigenen Vorwort der Zander-Deutung Ravaglis zustimmt und in die bloße Benennung von Kontexten „Misstrauen“ und Feindschaft gegen die Anthroposophie projiziert.

Die Existenz des Bahnhofs

Zanders Erzählungen lesen sich wie eine Kampfansage: Die „Wahrheit“ (Steiner) „negiere“ den „Irrtum“ – oder im negativen Fall eben umgekehrt, heißt es einleitend unter Berufung auf Hegels Dualismus von These und Antithese (S. 17). In der Einseitigkeit dieses Ansatzes liegt auch seine Tragik: Hegel spricht nämlich auch von der „Synthese“, die die vermeintlichen Gegensätze überhöhend integriert. Anthroposophische „Binnen-“ wie wissenschaftliche „Außenperspektive“ könnten hier nebeneinander stehen, ja, vielleicht könnte Zanders Opus zu bewusster, (selbst-)kritischer Reflexion und Neuausrichtung einer modernen Anthroposophie führen.5 Eine pluralistische Anthroposophie, die integriert, statt zu dämonisieren, die offen am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, nicht als Sub- oder Alternativkultur. Eine solche Anthroposophie sollte nicht das Anliegen von sympathisierenden ForscherInnen wie Zander bleiben, sondern primäres Interesse von AnthroposophInnen selbst sein! Der Zug ist noch nicht abgefahren – noch nicht. Solange allerdings die Wortführer der gegenwärtigen Anthroposophie selbst den geneigtesten KritikerInnen noch durch „Zertrümmerung“ zu begegnen gedenken, scheint sich nicht einmal das Wissen von der Existenz des entsprechenden Bahnhofs verbreitet zu haben.


Ansgar Martins, Mainz


Anmerkungen

1 Zander selbst verweist in diesem Zusammenhang stets anerkennend auf die Publikation „Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus“ des Steiner-Archivars Uwe Werner.

2 So Felix Hau, Rudolf Steiner integral, in: info3 5/2005.

3 Herausgegeben von Norbert Klatt, Theosophie und Anthroposophie. Neue Aspekte zu ihrer Geschichte aus dem Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846–1916) mit einer Auswahl von 81 Briefen, Göttingen 1993.

4 Siehe auch meinen Artikel auf http://waldorfblog.wordpress.com/2009/07/15/ravagli-die-rassen-und-die-rechten/ .

5 So hieß es schon bei Konfuzius (Lunyu VII, 3): „Erkenntnis taugt nur dadurch zum geistigen Eigentum, dass sie allseitig diskutiert wird; übernommene Weisheit bleibt tot und wertlos.“